Gonzo. Matthias Röhr
Mal hatten wir noch richtiges Herzklopfen, als wir am Hauptbahnhof ankamen. Klar, man ist natürlich auch als Nicht-Frankfurter sofort aufgefallen. Die ganze Bewegung war ja gerade frisch, steckte sprichwörtlich noch in den Kinderschuhen, da hat man natürlich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, ist ja logisch. Am Anfang dachten wir eigentlich noch, naiv wie wir waren, dass man uns vielleicht in dieser großen Stadt gar keine Beachtung schenken würde, weil es ja dort – so stellten wir uns das jedenfalls vor – wahrscheinlich an jeder Ecke einen Punk geben musste. Weit gefehlt. Schon nach unseren ersten Besuchen stellten wir ganz schnell fest, dass dem ganz und gar nicht so war. Es gab natürlich schon damals eine gewisse Anzahl an Punks, aber das waren noch so wenige, dass sie sich optisch nicht ins Gesamtbild von Frankfurt einfügen ließen, ohne dabei jemanden zu stören.
Es war inzwischen Februar 1981 geworden, und ich lebte zu der Zeit mit meiner Familie schon in Frankfurt-Bonames. Das war ein Graus. Eigentlich war ich nie zuhause. Es ging nicht, man ist dort automatisch krank geworden, zwischen diesen ganzen Hochhäusern und dem ewigen Sich-in-die-Arme-Laufen der Gangs. Eines Samstags – wir sind immer am Wochenende nach Sachsenhausen gefahren, um uns dort mit den anderen Jungs und Mädels zu treffen – ist es dann passiert.
Wir kommen am Hauptbahnhof in Frankfurt an, gehen zur Straßenbahn, um auf die andere Mainseite zu fahren, und an der gegenüberliegenden Haltestelle stehen zwei ziemlich punkig aussehende Typen. Einer von den beiden Jungs hatte wild abstehende, grün gefärbte Haare. Stachelig wie ein Igel. Die ganze verfranste Lederjacke hing voller ‚Anarchy‘-Patches. Der andere hatte Springerstiefel und einen übel aussehenden Mantel an, eine Aktentasche dabei und rief zu uns beiden rüber: ‚Ey, wo wollt ʼn ihr hin?‘“
Zwei Punks, die zusammengehörten, eine kleine Gruppe bildeten und sich hier offensichtlich bestens auskannten, trafen auf eine leicht verloren wirkende andere Zweiergruppe, die dafür aber auch verdächtig schwer nach Punk aussah. Das konnte doch eigentlich nur eine von Fortuna höchstpersönlich eingefädelte Verkettung gänzlich unwahrscheinlicher Zufälle sein. Heiko und Matthias nahmen den Ball jedenfalls auf.
„Und so ging das ganze Beschnuppern und das Kennenlern-Ritual knappe drei Minuten hin und her, ehe die Straßenbahn angefahren kam“, erinnert Gonzo sich heute.
Als die Tram anhielt und sich schon die Türen öffneten, rief der dunkelhaarige Typ mit den Springerstiefeln und dem Pennermantel, der sich den beiden kurz und hektisch, mit starkem hessischen Dialekt als Stephan vorgestellt hatte, Matthias und Heiko zu sich rüber und fragte, wohin sie denn überhaupt vorhätten zu fahren.
„Na, nach Sachsenhausen“, antworteten sie ihm.
„Ne, vergesst das mal“, sagte er. „Kommt ins JUZ Bockenheim. Nehmt die Linie 18, fahrt bis eine Station nach der Messe, und da ist dann das JUZ direkt auf der anderen Straßenseite. Da gehtʼs ab.“
Dann stiegen die beiden ein und verschwanden. Und erst mal entschwanden sie auch für ein paar Stunden aus dem Wichtigkeitsradius von Matthias.
Heiko und er fuhren auch diesen Samstag nach Sachsenhausen, schüttelten Hände und tranken Bier. Ihm waren die liebgewonnenen Kneipen hier wichtiger als irgendein Jugendzentrum. Doch je weiter der Tag voranschritt, desto häufiger geriet er ins Nachdenken. Sachsenhausen war schön, aber Frankfurt war verdammt noch mal so viel größer als dieser Stadtteil mit seinen alten Kaschemmen, sodass sich ein Gedanke in sein Hirn einnistete, der sich nicht mehr ignorieren ließ, je näher der Abend kam.
„Heiko, wir müssen später dorthin fahren. Ins JUZ.“
Mehr Worte bedurfte es nicht. Ihm gingen diese beiden Typen nicht mehr aus dem Kopf. Die sahen nicht nur nach Punk aus (das taten inzwischen alle – auch die aus gutem Hause), die rochen und sprachen auch so. Das war filzig, das war echt. Die verkörperten exakt das Lebensgefühl, das er während seiner Reisen nach Frankfurt immer gesucht hatte, aber bislang noch nirgendwo finden konnte. Er spürte intuitiv, dass er dem Rat dieses Typen, der Stephan hieß und diesen dreckigen Pennermantel trug, unbedingt folgen musste …
Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen
(Johann Wolfgang von Goethe)
Rückblick. Sechzehn Jahre zuvor. Matthias erblickte am Montag, den 16. April 1962, als Ältester von vier Brüdern der Familie Röhr das Licht der Welt. Zur selben Zeit wurde etwa 6.500 Kilometer westlich, in Washington D.C., Ian MacKaye geboren. Beide kannten sich nicht. Sie würden sich auch niemals kennenlernen. Doch verband sie nicht nur dasselbe Geburtsdatum, sondern auch die spätere Liebe zur Musik. Insbesondere zum Punk, zu Ted Nugent und zur Gibson SG.
MacKaye sollte in den kommenden Jahren eines der ersten Punklabels in Washington gründen, während jemand, der sich Gonzo nannte, in Frankfurt fast zeitgleich auf drei Jungs traf, deren Band Böhse Onkelz hieß. Doch bevor Geschichte überhaupt zu Geschichte werden konnte, musste zunächst mal die Gegenwart zur Vergangenheit werden.
Die sechziger Jahre galten gemeinhin als das Jahrzehnt des Aufbruchs, des Widerstands und der Veränderung. Drei Schlagwörter. Sie klangen gut. In ihnen lag so viel Freiheit und der Wille, sich weiterzuentwickeln. Wenn man ein Ausrufezeichnen hinter sie setzte, konnte man sie gar als direkte Aufforderungen verstehen, die es dringend umzusetzen galt.
Wie ein roter Faden zogen sie sich durch das Leben von Matthias „Gonzo“ Röhr. Ein Leben, das nicht nur zu Beginn permanent in Bewegung war. Schon als die ersten Schritte selbstständig gegangen werden konnten, begann er damit, die Welt um sich herum noch viel genauer zu erkunden. Eine Welt, die auch noch ohne Tablet, UHD-Sender und Smartphones ganz wunderbar funktionierte.
Ein Kind durfte noch ganz und gar ein Kind sein. Ohne Eltern, die wie Helikopter um die Kleinen herumflogen. Die dabei immer besorgt aussahen. Immer aufpassten. Immer ängstlich waren. Die Familie war stets die kleinste Einheit des Daseins. Sie bildete das zentrale Element, an der sich jedes Familienmitglied ausrichtete und die Sicherheit gab. Die entbehrungsreiche Zeit nach dem Krieg, die Flucht der Eltern und Großeltern aus Schlesien und Thüringen hatte die Sippen ohnehin zusammengeschweißt. Eine Verbindung von Generationen, die so stark war, dass kein Blatt Papier dazwischen passte und keine Krise das Fundament zum Wanken bringen konnte.
„In meiner Kindheit waren wir den ganzen Tag unterwegs“, erinnert sich Matthias. „Erst wenn die Straßenlaternen angingen und meine Mutter uns vom Balkon zum Abendessen rief, sind wir nach Hause gegangen.“
Kind sein bedeutete nicht App-Store, sondern unbeschwert die Welt zu entdecken. Wenn der Fernseher überhaupt angemacht wurde, dann allerhöchstens einmal die Woche, um Flipper zu gucken. Ansonsten traf sich Matthias mit seinen Freunden, und das bei jedem Wetter. Sie spielten Cowboys & Indianer, voll ausgestattet mit Pfeil und Bogen, und lernten dabei spielend, wie man Lagerfeuer machte, sich in der Natur verhielt und dass ein Schnitt mit dem Messer beim Schnitzen stark bluten konnte. Keiner fragte, ob dieses Treiben politisch korrekt sei. Sie bauten Seifenkisten, bei denen ihnen erst während der Fahrt auffiel, dass sie die Bremsen vergessen hatten. Alle tranken aus einer Flasche, und niemand starb an den Folgen. Das Leben kannte kein Netz und keinen doppelten Boden. Jeder gebrochene Zeh, jede Schnittwunde und jede Beule gehörte dazu und war Teil des Kindseins.
In den Grundschulen in Eschborn und ab der dritten Klasse in Kelkheim war das Tablet noch eine kleine Tafel mit Griffel und Schwamm. Erst in der zweiten Klasse in Kelkheim kamen die ersten Hefte zum Einsatz. In den Sommermonaten trugen die Jungs jeden Tag kurze Lederhosen. Die Dinger waren praktisch, bequem und mussten eigentlich nie gewaschen werden. Mit einem kleinen Fahrtenmesser in der Tasche fühlte man sich stets für alle Hindernisse der Natur bestens gerüstet.
Die ersten Lebensjahre verbrachte Matthias in der Eschborner Lilienthalstraße. Dort standen in diesem Neubaugebiet, dicht an dicht, dreistöckige Häuser. Und direkt gegenüber lag eine große, fette G.I.-Kaserne.
Die Eschborner Bevölkerung bestand damals noch zu einem Teil aus Amerikanern, die dort stationiert waren. Auch einige Nachbarn von Matthias hatten amerikanische Wurzeln. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war etwas über zwei Dekaden