Gonzo. Matthias Röhr
Krauts und Amis passten gut zusammen, und so manche von den Schrecken des Krieges alleingelassene und traumatisierte Witwe verliebte sich in die großen, starken Jungs.
Matthiasʼ damals bester Freund und unmittelbarer Nachbar hingegen war kein Amerikaner, sondern Pakistani und hieß Gigi Dorani. Bei Familie Dorani gab es Lebensmittel, die der junge Matthias Röhr nur aus Erzählungen kannte. Cornflakes und Erdnussbutter zum Beispiel. Beim Probieren dieser Köstlichkeiten jagte eine Geschmacksexplosion die nächste, und alles schmeckte für ihn nach der großen, weiten Welt. Eine ferne Welt, die ihn noch Jahre später magisch anziehen sollte.
Matthiasʼ Vater Joachim war gelernter Kaufmann, der in Frankfurt-Höchst einen kleinen Lebensmittelladen führte. Wenige Jahre später wechselte er zu einem zentraleren Büdchen im Westend – direkt an der Messe. Die damals in Westend ansässigen Fabriken waren voller Arbeiter, die schon morgens mit einem anständigen Herrengedeck (ein belegtes Brötchen und eine Flasche Bier) von Vater Röhr versorgt wurden.
Seine Mutter kümmerte sich aufopferungsvoll um die Familie, die – neben Matthias als Ältestem – zu dieser Zeit noch zwei weitere Söhne umfasste. Den ein Jahr jüngeren Stephan und den drei Jahre jüngeren Martin. Der vierte Sohn Karsten wurde erst ganze zehn Jahre nach Matthias, im Jahr 1972, geboren.
Joachim Röhr arbeite viel und war fast nie zuhause. Sein Tag begann früh morgens um fünf und endete meist erst spät abends gegen dreiundzwanzig Uhr. Der gleiche Trab, von montags bis samstags und sonntags noch einmal halbtags. Matthias und seine Brüder bekamen ihren Papa kaum zu Gesicht. Für das familiäre Oberhaupt war das zwar bitter, aber alternativlos, schließlich hatte er eine damals fünfköpfige Familie zu ernähren. Und fünf Mäuler aßen eine ganze Menge. Die Butterbrote schmierten sich nicht von allein, sondern mussten sauer verdient werden. Das war kein Blumenpflücken. Nicht damals und auch nicht heute.
Ganze zwei Urlaube sprangen dank dieser Schufterei heraus – einer zu Besuch bei Verwandten in der DDR und einer an der Nordsee. Die restlichen Jahre war Matthiasʼ Vater, den er als konservativ, aber weltoffen beschreibt, in seiner Trinkhalle am Schuften. Arbeitszeiten, die es praktisch unmöglich machten, auch noch die Erziehung der Söhne zu managen.
Das erledigte seine Frau. Ein großes Herz voller Mutterliebe, das hin und wieder wütend wurde, wenn der alte Herr am Wochenende den Teilzeit-Vater heraushängen ließ und gern auch ein Wort bei der Erziehung mitreden wollte. Schließlich waren das stolze Jungs – echte Röhrs, und wenn er nicht wusste, was für seine Söhne am besten war –, wer dann?
Matthias war kein einfaches Kind. Schon in den Kinderschuhen ein kleiner Rebell, sorgte er früh für die ersten grauen Haare seiner Mutter. Hatte er wieder einmal etwas ausgefressen, bestand ihre letzte Möglichkeit nur in der Drohung, dass es „vom Vadda, sobald der zuhause ist, richtig Ärger geben wird“!
Wenn der allerdings das Büdchen abgeschlossen hatte und daheim eintraf, war es meistens viel zu spät, um irgendjemanden auszuschimpfen. Das wusste Matthias nur zu gut. Dementsprechend sorglos verschob er die Grenzen des Sag- und Machbaren. Manchmal aber, da ließ sich eine Standpauke einfach nicht vermeiden. Lange Arbeit hin oder her. Und nicht selten war dieses Gewitter für Matthias reinigend und nachhaltig. Die Autorität des Alten konnte nicht angekratzt werden. Es genügte ein böser Blick, um seinen Ältesten zum Schweigen zu bringen.
Handgreiflichkeiten gab es selten. Selbst, wenn zu dieser Zeit innerhalb der Familien noch oft die Hand ausrutschte, ruhte sie bei Joachim Röhr meistens in der Hosentasche.
Ohnehin genossen die Jungs viele Freiheiten, die sie in und mit der Natur auslebten. Alle Röhrs liebten das Land, die Wälder und die Wiesen ringsherum. Und Hessen hatte von derlei viele im Angebot.
Die Großeltern, die in der Umgebung wohnten, waren genauso gern an der frischen Luft. Und schon früh zeigte der gesamte Familienverband diesen Söhnen, welcher Wert in ihrer Umwelt lag und wie sie damit umzugehen hatten. Das, was andere Gleichaltrige bei den Pfadfindern oder im Rahmen einer „Stadtranderholung“ – selten freiwillig – lernen mussten, sogen Matthias, Martin und Stephan aus eigenem Antrieb auf. Baum- und Pflanzenkunde, Pilze. So viele verschiedene Pilze. Waldwanderungen. Spaziergänge bei Wind und Wetter.
Bald kannte Matthias jeden Stein und hatte mindestens einmal seinen Namen in jede Rinde eines jeden Baumstammes geritzt, den es weit und breit gab.
Sonntagnachmittag war ein beliebter Ausflugszeitpunkt. Wenn der Vater den Kiosk an der Messe geschlossen hatte, wurde nachmittags den Söhnen Kultur vermittelt. Dann ging es oft zum Niederwalddenkmal am Rande des Landschaftsparks Niederwald. Das am 28. September 1883, nach sechs Jahren Bauzeit eingeweihte Denkmal, erinnerte an die Einigung Deutschlands 1871. Seit 2002 ist es sogar Teil des UNESCO-Welterbes.
Das Deutsche Eck – der Zusammenfluss von Rhein und Mosel, dem Koblenz seinen Namen verdankte – war ebenfalls ein beliebtes Tagesziel der Familie. Das Ehrendenkmal für Kaiser Wilhelm I., das im August 1897 eingeweiht wurde und den majestätischen Hintergrund der Landzunge von Koblenz bildete, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Übrig blieb nur der Sockel, der allerdings noch immer für viel Aufmerksamkeit sorgte. Erst später, 1993, konnte eine Kopie des alten Reiterstandbilds auf selbigen gehoben werden.
Matthiasʼ Vater liebte die gemeinsamen Unternehmungen mit seiner Familie. Wo Vater Rhein auf Mutter Mosel traf, waren Vater und Mutter Röhr mit ihren Söhnen nicht weit.
Er selbst war gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mit seiner Familie geflüchtet und hatte später von Pfungstadt, südwestlich von Frankfurt, aus regelmäßig wochenlange Fahrradtouren über Koblenz und Mainz mit seinem Bruder unternommen. Diese Liebe zur deutschen Kultur und Natur gab er später auch an seine Kinder weiter.
Obwohl er durch die Selbstständigkeit nur sehr wenig Zeit hatte, nutzte er die ihm verbleibende an den Sonntagen intensiv mit den Menschen, die er liebte. Das glich ein bisschen das spärliche Zusammensein unter der Woche aus. In Matthiasʼ Erinnerung waren das die Tage, an denen er seinem Vater so nahe war wie sonst nie.
Die erste große Liebe im Leben des Matthias Röhr war eine, die er auch direkt von seinem Vater Joachim und dessen Brüdern Horst und Helmuth geerbt hatte. Eine, die nach Benzin und verbranntem Gummi roch. Die Lust auf alles, was vier oder zwei Räder besaß und von ihm gelenkt werden konnte.
Matthiasʼ Lieblingsauto war, neben den Mercedes-Modellen, die sein Onkel Horst bevorzugt fuhr, der von 1938 bis 1970 produzierte Opel Kapitän. Zunächst als Mittelklassewagen gestartet, stieg der Sechszylinder im Jahr 1964 in die Oberklasse der deutschen Automobil-Landschaft auf. Der 2,6-Liter-Motor mit 125 Pferdestärken erschien in drei Ausstattungsvarianten, deren Spitzenmodelle „Admiral“ und „Diplomat“ waren.
Der Opel „Diplomat“ war ein absoluter Hingucker und für Matthias ein unfassbar großes Auto. Selbst zu fünft auf der Rückbank fand sich noch Platz für Gepäck. Matthias liebte dieses lässige Auto. In der Regel erneuerte sein Vater alle zwei Jahre seinen Fuhrpark, und Matthias nahm jedes Mal, wenn der Alte einen fabrikneuen Schlitten das erste Mal vor der Einfahrt parkte, begeistert auf dem Fahrersitz Platz und stellte sich vor, damit in die große, weite Welt zu fahren.
Die Röhrs waren eine große Familie. Der Opa und die Oma väterlicherseits lebten in Frankfurt-Westhausen. Der Großvater war Zöllner gewesen. Ein Beruf, der es ihm und seiner Gattin ermöglichte, eine nagelneue Dienstwohnung zu beziehen. Auch wenn es nur drei knapp bemessene Zimmer gab, so war die Wohnung ein echter Glücksfall und in den Nachkriegsjahren keine Selbstverständlichkeit des Mittelstandes.
An den Wochenenden bewirtschafteten beide zwei Kleingärten einer Gartenkolonie. Genau dort, wo heute das Rödelheimer Autobahnkreuz entlangführt. In einem Garten gab es so ziemlich alle Früchte, die man auf heimischem Boden ernten konnte, und im anderen eine große Scheune, in der Kleinvieh untergebracht war.
Die Familie von Matthiasʼ Vater bestand neben ihm noch aus zwei weiteren Söhnen und einer Tochter. Alle vier hatten später fast zu selben Zeit geheiratet und wurden wiederum, im Abstand von wenigen Jahren, ihrerseits Eltern. Daraus entstand eine Gruppe nahezu gleichaltriger Jungen und Mädchen, die sich regelmäßig bei Oma und Opa zuhause oder im Garten trafen. Während die Frauen gemeinsam kochten, die Väter