Gonzo. Matthias Röhr

Gonzo - Matthias Röhr


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Matthias jetzt oder irgendwann Drogen nehmen könnte. Unsere Eltern waren ja nun vom Fernsehen und den Zeitungen vorgewarnt. Die wussten, dass eine lange Mähne und amerikanische Rockmusik dazu geeignet waren, die damalige Jugend zu verderben …“

      Martin erinnerte sich auch an die Versuche seiner Eltern, das Bild der heilen Familienwelt nach außen hin zu wahren: „Wir waren eine klassische deutsche Familie, in der alle Kinder so einen Topfschnitt hatten. Gerader Pony, Topf auf den Kopf, rundherum abschneiden. Und Matthias war derjenige, der irgendwann niemanden mehr an seine Haare ranließ. Er war da auch eigentlich Vorreiter bei uns im Dorf, denn jeder der Gleichaltrigen hatte noch diese 0815-Frisur. Auf jeden Fall war das Phase eins in der Rebellion meines Bruders, zu der sich noch – wie wir alle wissen – jede Menge weiterer Phasen dazugesellen sollten. Für meine Eltern war immer total wichtig, was andere Leute über uns dachten. Dieses typische Nachkriegsding eben: Man wollte um jeden Preis vermeiden, dass schlecht über die Familie geredet wurde. Sauberer Vorhang. Das war extrem wichtig. ‚Mach dies nicht, tu jenes nicht. Was sollen Oma und Opa dazu sagen? Dreh die Anlage leiser, und überhaupt, was sind das denn für primitive Typen, denen du da zuhörst?‘ Das war Matthias aber, der zu der Zeit ja schon mächtig am Pubertieren war, schnell scheißegal. Da wurden dann auch gern mal mit Absicht die Zimmertüren zugeknallt oder vor der Haustür, damit es alle Nachbarn deutlich mitbekamen, Widerworte gegeben.“

      Auf die Frage, wie er das Verhalten seines Bruders zu dieser Zeit bewerte, sagte Martin: „Schwierig. Matthias hatte ja bei uns im Haus im Keller sein Zimmer. Und man hat ihn innerhalb des Hauses verhältnismäßig wenig gesehen. Im Grunde genommen gab es für ihn schon zu dem Zeitpunkt nichts Wichtigeres als Musik. Da waren schon die Jeans angemalt, da stand auch schon AC/DC auf seinem Rucksack. Als ich dann älter wurde, bin ich auch gern mal mit in den Proberaum von Headliner und Sinner gefahren und habe mir dort angeguckt, was die Jungs so treiben. Das hat Matthias auch schon so ein bisschen Spaß gemacht, das hat man gemerkt. Es gab Phasen, da haben wir viel zusammengesessen und in seinem Zimmer abgehangen, und dann gab es wieder Momente, wo wir uns fast gar nicht gesehen haben. Aber ich wusste eigentlich immer, dass ich mich auf meinen großen Bruder verlassen konnte. Das hat sich bis heute nicht geändert.“

      Matthias blühte auf. Seine ganze Galaxie verschob sich, dehnte sich aus, und plötzlich, so schien es ihm, gab es keine Grenzen des Vorstellbaren mehr. Der Horizont des Musikalischen, er war noch lange nicht in Sicht- und ebenfalls nicht in Hörweite. Er expandierte. Und mit ihm sein Umfeld.

      Kelkheim wurde ab 1979 immer wichtiger – falls das überhaupt noch möglich war. Hier wurde getanzt, hier wurde getrunken und gesoffen, hier wurde gekifft und gebumst. Erste Freundinnen kamen und gingen, kurze Bekanntschaften wurden geschlossen und wieder verworfen.

      Immer, wenn der inzwischen siebzehnjährige Matthias Röhr das Haus in Lieder­bach verließ, um sich auf den Weg nach Kelkheim zu machen, hatte er einen Stapel Platten unter seinen Arm geklemmt. Nach ein paar Monaten, die Anzahl der Platten, die er mitnehmen wollte, wuchs beständig, steckte er das Vinyl in Einkaufstüten. Und immer wieder trug er auch Double Live Gonzo! von Ted Nugent spazieren.

      Das Album wurde rauf- und runtergehört. Beinharter Rock, tiefer gestimmte Gitarren (gern eine untypische Gibson Byrdland, die zu Teds Markenzeichen avancierte), wilde und absolut unangepasst aussehende Typen, die ziemlich ernst nahmen, was sie sangen. Lange Haare, Bärte, Lederjacken. Und dazu auch noch live. Den Begriff des Stoner Rock gab es seinerzeit noch nicht, aber eigentlich passte er zu der Musik wie die Faust aufs Auge.

      Nur war Nugent nie „stoned“. Drogen verabscheute der Detroiter Rocker schon von Beginn an. Waffen (viele, viele Waffen), die Jagd und frische Pelze hingegen, die mochte er. Dennoch war Theodore Anthony Nugent 1979 noch viele Jahre von den skandalösen und antisemitischen Aussagen entfernt, die er über zwei Dekaden später tätigen sollte.

      Der „Motor City Mad Man“ hatte zur Mitte der ausgehenden Siebzigerjahre seine Solokarriere gestartet und sich direkt mit großem Erfolg in den USA etabliert. „Stranglehold“, einer der bekanntesten Songs von Nugent, stammt gar von seinem Debütalbum. Von 1975 bis 1980 wurden insgesamt fünf Studio- und ein Live-Album veröffentlicht, von denen sich alle in den Top 30 und vier in den Top 20 der Billboard Charts einreihen konnten, ehe Nugents Solokarriere ab 1982 zu stagnieren begann.

      Double Live Gonzo! war eines dieser Alben, das Matthias faszinierte. Schnell breitete sich das Nugent-Virus in Kelkheim aus, und noch schneller wurden sich die größten Hits des Detroiters draufgeschafft.

      Und während 1978 der 1. FC Köln deutscher Meister, Argentinien Fußball-Weltmeister und der Mount Everest von Messner bezwungen wurde, mutierte Matthias Röhr langsam, aber stetig zu „Gonzo“. Auch, aber eben nicht nur, weil „The Nuge“ omnipräsent war, denn eigentlich war das nur ein Drittel der Wahrheit.

      Privatpartys waren ein essentieller Bestandteil der Jugend zur damaligen Zeit. Noch viel mehr als in den Neunzigern, und erst recht als in den Zweitausendern, wurde oft und gern dort gefeiert, wo man sich am besten auskannte: daheim.

      Zehn, maximal fünfzehn Jungs und Mädels, die man mochte und mit denen man eh schon die ganze Zeit abhing, rauchte und trank, wurden eingeladen, und die meisten brachten ihre Lieblingsplatten mit. Jedes Wochenende bei jemand anderem. Die Aussage „Bei mir ist am Freitag sturmfrei“ reichte, um die Synapsen vor lauter Vorfreude zum Durchbrennen zu bringen.

      Im Partykeller, oft (aber längst nicht immer) unter der Aufsicht einer erziehungsberechtigten Person, wenn sich das versprochene „sturmfrei“ doch als Ente entpuppt hatte, wurde dann das Teenager-Dasein in vollen Zügen genossen. Unter der wärmenden dreilampigen Lichtorgel, nach dem Genuss einiger alkoholischer Getränke oder von Cannabis, wurden die Mädels, wenn man Glück hatte, schmusig. Discofox, Nazareth („Love Hurts“), die Beatles („Hey Jude“) oder Schnulzenmusik aus Italien („Ti Amo“ von Umberto Tozzi war die musikalisch vollstreckte Kastration eines jeden jungen Mannes) wurden aufgelegt, um eng aneinandergeschmiegt miteinander zu tanzen.

      Und wenn der Pflichtteil vorbei war, die Mädchen glücklich und die Kerle genügend angeheitert waren, wurden die härteren Geschosse auf die Turntables gelegt. Dann hieß es: Kein Halten mehr bei KISS, Banging bis zur Nackenstarre bei Black Sabbath, Luftgitarre bei Deep Purple, Led Zeppelin und – natürlich – andächtige Bewunderung des Könnens von Ted Nugent. Das war das zweite Drittel.

      Auf einer dieser Partys lernte Matthias dann auch den erweiterten Freundeskreis seines damaligen Klassenkameraden und Bandkollegen Oliver kennen. Der hatte schon 1978 seinen Führerschein gemacht. Mit seinem orangefarbenen VW Käfer fuhren also er und Matthias Röhr, so oft es eben ging, von Liederbach und Kelkheim nach Hofheim am Taunus, direkt zum Proberaum ihrer Band.

      Öfter mit an Bord: Sabine, Matthiasʼ damalige Freundin, Ute, die beste Freundin von Sabine, und der weibliche Dunstkreis von Oliver, der immer aus mindestens zwei Damen bestand. Eben jene Mädels waren, das konnte man ihnen deutlich ansehen, sehr froh darüber, mit derart harten Jungs unterwegs zu sein. Und wenn dann mal, nach vielen Kippen und noch mehr Dosenbier, angefangen wurde zu proben, waren Sabine, Ute und die anderen immer am Start. Die erste Reihe, direkt vor Sinner aufgebaut.

      Eines dieser Mädchen hieß Tanja. Siebzehn Jahre. Langes blondes Haar. Vollbusig. Ultra-heiß. Enge Schlagjeans, Lederjacke, stets einen frechen Spruch auf den Lippen und immer mit dabei.

      An besagtem Abend hatte sie einen echten Geistesblitz. Einen, der so naheliegend war, dass es schon beinahe albern wirkte.

      Die Muppet Show erfreute sich 1978 nicht nur größter Beliebtheit, sondern war regelrecht der „heiße Scheiß“. Brandneu und urkomisch. Und weil es bei vielen Bands gerade trendy war, der Besatzung Spitznamen zu verpassen, zeigte Tanja mit dem Zeigefinger auf die spielenden Sinner. Zuerst auf Oliver. Natürlich. Das wird Fozzie Bär.

      Dann auf den Sänger. Der wurde zu Scooter. Der sah auch ein bisschen so aus. Wild, leicht durchgedreht. Ein zappeliger Typ.

      Matthias bekam den populärsten Namen verpasst.

      „Ok, gut. Naja, dann bin ich ab jetzt eben Gonzo“, hatte er schulterzuckend gesagt, und dabei mussten alle anfangen, lauthals zu lachen.

      Das war das letzte


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