Gonzo. Matthias Röhr
Die Geburtsstunde der aus England kommenden wütenden Untergattung des RockʼnʼRoll faszinierte die Jugendlichen. In Frankfurt und seinen Vororten, in Hamburg, Berlin, dem Ruhrpott, Bremen und Düsseldorf war es am krassesten. Hier schlug das Punk-Beben mit voller Härte zu und begeisterte unzählige Kids aus dem Stand. Mit einem Mal wurde über diese spezielle Musik gefachsimpelt, als wäre Punk das Wichtigste im Leben.
Schallplattenläden, deren größter Absatz noch bis dato die großen Popbands und Interpreten der USA, ABBA aus Schweden, die Beatles oder Stones aus England waren, sortierten ihre Verkaufsräume um und platzierten die Sex Pistols, The Clash und Co. gut sichtbar im Schaufenster.
Michael, Olivers älterer Bruder, tat es den anderen Plattenladen-Besitzern gleich. Sein Geschäft wurde über die Jahre immer wieder von Matthias und anderen jungen Erwachsenen aufgesucht, um sich echte Schätze der Rockmusik zu sichern. Der Mann hatte und kannte alles. Er selbst war immer auf der Suche nach neuen, schrillen Tönen und nach dem nächsten großen Importhit aus Übersee. Als die Bee Gees noch als Geheimtipp galten, man die Sex Pistols noch für ein frivoles Liebesspielzeug und The Clash für einen Romantitel hielt, hatte er deren Veröffentlichungen, verpackt in große Vinylschachteln, schon bei sich im Laden stehen.
Seit gefühlten Ewigkeiten dealte er das gute Zeug. Die heiße Ware wurde direkt an die Jugend weiterverkauft. So hielt auch dort ab 1979 „das dicke P“ Einzug in die Schaufenster. Und weil es großen Spaß machte, ein bisschen mit dieser unverbrauchten Attitüde zu kokettieren, gab es für jeden Punk, der sich den neuen Scheiß kaufte, noch ein paar Aufkleber und Patches obendrauf. Das allein war schon ein Faustschlag ins Gesicht der stockkonservativen Spießbürger, die in dieser neuen Bewegung nun endgültig den Untergang des Abendlandes sahen.
Die Generationen, die dieses Land zuerst in den Untergang marschieren ließen, um es hinterher wiederaufzubauen, hatten schon die Nazis, die Befreiung durch die Siegermächte, die Teilung der jungen Republik, den Aufbau des „antifaschistischen Schutzwalls“, die kiffende, wütende 68er-Bewegung und den Terror der RAF überlebt. Aber am Punk, da herrschte nun große Einigkeit, würde dieses schöne Land endgültig verrecken.
Doch nicht nur die Spaßbremsen der elitären, beamtenmentalitätsvertretenden Langweiler hatten ein großes Problem mit der Subkultur. Auch gleichaltrige Besserwisser aus gutem Hause, von denen man einige später den „Poppern“ zuordnen konnte, Musikerkollegen aus anderen Bands und Schulkameraden rümpften über diesen primitiven Krach die Nase.
Witzigerweise wurde selbst AC/DCs legendäres erstes Album, High Voltage, von diesen Typen abgelehnt und weggelächelt. Die Platte gab es seinerzeit nur in Europa und war eine Zusammenstellung der ersten beiden Longplayer der Australier.
Auch deren Nachfolger erging es nicht besser. T.N.T., Dirty Deeds Done Dirt Cheap und Let There Be Rock waren für die Nullpeiler nicht viel mehr als Lärm mit sinnfreier Lyrik. Die Band aus Down Under kratzte das allerdings überhaupt nicht. Im Gegenteil. Das war mehr Segen als Fluch. Als die Punk-Welle, in England startend, ihren Siegeszug quer durch Europa hinlegte, kamen AC/DC glimpflich davon. Deren Musik war weder zahn- noch eierlos, sondern wütend, aggressiv und obrigkeitsverneinend. Eigentlich so, wie die der Punk-Rock-Bands, nur mit deutlich höherer Qualität in den Produktionen und mit viel mehr Skill an den Instrumenten.
„Auf der ersten AC/DC-Single, die ich mir damals gekauft habe und an deren Namen ich mich heute leider nicht mehr erinnern kann, war so ein kleines, aber gut lesbares Banner draufgedruckt“, erzählt Matthias. „100 Prozent Punk-Rock stand da drauf.“
Ein Kulturschock für all die Vollblutmusiker, die sich zeitlebens mit der Perfektion ihrer Kunst auseinandergesetzt hatten.
Das soll Musik sein? Alter, mach dich nicht lächerlich! Nach dem Mist kräht in einem Jahr kein Hahn mehr.
Oder: Junge, ich hatte dich bislang echt respektiert und für jemanden gehalten, der Ahnung von dem hat, was er sagt. Aber du willst mir doch jetzt nicht ernsthaft erzählen, diese Scheiße wäre gut?
Es wurde geschimpft, gemosert, geklagt. Von oben nach unten, links nach rechts, doch die Welle war störrisch, schlicht nicht interessiert daran, was man über sie zu klagen hatte, und bewegte sich mit großem Tempo immer weiter vorwärts. Sie war nicht mehr aufzuhalten.
Die elitären Musikerkreise, die sich für die Krone der Schöpfung hielten, mussten fortan auf Partys miterleben, wie das Virus des Punk immer weiter um sich griff, die Inkubationszeit immer kürzer wurde und ein bundesweiter Ausbruch der „Seuche“ bereits im vollen Gange war. Die DJs änderten ihre Musik in den Clubs, die Gastgeber die Musik auf ihren Privatpartys und die Punks ihre Musik auf den heimischen Schallplattenspielern.
Einzig die deutschen Radiostationen wollten nicht mitmachen. Das war ihnen nichts. Zu heiß, zu schmutzig, ordinär und nicht zu ertragen. Doch statt das Phänomen damit zu bekämpfen, sorgten sie dafür, dass es immer größer wurde.
Der unausgesprochene Boykott hatte genau die gegenteilige Wirkung. Ein ähnliches Paradoxon, das bei genauerer Betrachtung nur logisch war, konnte man dreizehn Jahre später bei den Böhsen Onkelz feststellen, die dann mit Heilige Lieder ein ihrerseits ganz neues Virus verbreiten sollten.
„Und so sind wir zu Punks geworden“, sagt Gonzo.
„Das ganze Ding zog immer größere Kreise. Es entstanden wirklich innerhalb kurzer Zeit, vielleicht nur binnen eines Sommers, richtige Netzwerke in Frankfurt und den Orten ringsum. Man traf sich dann plötzlich auch mit neuen Leuten, mit Gleichgesinnten, die man vorher noch gar nicht so richtig auf dem Schirm hatte, weil die sich natürlich dann auch zu erkennen gaben und der Szene zugehörten. So bildeten sich neue Cliquen. Ich hatte viele Freunde, die in der Umgebung wohnten, mit denen ich eine verdammt gute Zeit verbracht habe. Heiko, Frankie Frosch und wie sie alle hießen. Die kamen teilweise aus dem gesamten Taunus-Umland und haben meine ‚Szene‘ gebildet. Einige kamen auch aus Orten, in denen Menschen gewohnt haben, die alles waren – aber ganz sicher nicht arm. Aus Königstein, Neuenhain, stellenweise aus Kelkheim-Hornau. Millionäre, die in ihren großen Villen oder in Bungalows lebten. Grundstücke so riesig, dass ich damals dachte, in einer Siebzigerjahre-Tatort-Kulisse zu stehen, wenn man da drin war. Und die Töchter und Söhne dieser Millionäre sind dann auch auf einmal Punks geworden. Das waren bislang ‚nur‘ Schulkameraden von uns, vielleicht – im besten Fall – entfernte Bekannte. Aber auf keinen Fall Freunde, die man oft sah.“
Das änderte sich ebenfalls mit dem Eintreffen der Punk-Welle auf dem deutschen Festland. Plötzlich spielte der soziale Status des Einzelnen keine Rolle mehr. Es war völlig einerlei, ob der kleine Punk aus gutem Hause oder aus einer völlig verwahrlosten Wohnsituation im Jugendheim kam. Die Bewegung und die Musik vereinten die Kids.
Dass diese kurzen Momente des großen Zusammengehörigkeitsgefühls nicht von Dauer sein sollten, war schon damals abzusehen. Dennoch, so erinnert sich Matthias, als die „Arbeiterpunks“ plötzlich auf die „angepunkten“ bessergestellten Jugendlichen trafen, und man zusammen feierte, dass sich die Balken bogen, seien das tolle Momente gewesen: „Und plötzlich betrat man also diese fetten Häuser und Bungalows, die man allerhöchstens mal beim Vorbeifahren sah, und feierte dort drin krasse Partys. Das war natürlich auch nicht zu verachten.“
Man kann sich die Szenerie bildhaft vorstellen, ohne dabei gewesen zu sein: Holzgetäfelte dunkle Wohnzimmer mit schweren, teuren Eichenmöbeln. Perserteppiche, deren Besitzer schon die Krise bekamen, verschüttete man nur Leitungswasser auf dem sündhaft teuren Stoff, und Einbauküchen, deren Elektrogeräte allein schon teurer waren als die gesamte Wohnungseinrichtung der Röhrs.
Und die Hausherren standen auch oft gefährlich nahe am Rande des plötzlichen Herztodes, als sie – sonnengebräunt und erholt aus dem Urlaub kommend – die Ergebnisse und Hinterlassenschaften der ungebetenen Partybesucher begutachten und aufräumen mussten.
„In diesem Umfeld haben sich Heiko und ich immer wieder aufgehalten, bis es uns irgendwann langweilig wurde. Die Waldrandgebiete im Taunus waren toll, die Feten in den großen Villen ebenso, aber wir hatten irgendwann das Gefühl, dass wir raus in die Großstadt mussten. Nach Frankfurt. Und dort nach Sachsenhausen. Einige aus unserer Clique schlossen sich