Gonzo. Matthias Röhr

Gonzo - Matthias Röhr


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Schlachten der herangezüchteten Karnickel gehörte genauso zum familiären Leben wie die Karnickelpfote, die Matthias von seiner Oma als „Glücksbringer“ in die Hand gedrückt bekam.

      Um das familiäre Dickicht besser durchschreiten und deren Mitglieder einigermaßen auseinanderhalten zu können, hatten Matthias und seine Brüder die jeweiligen Omas und Opas nach Wohnorten unterteilt. Die „Rödelheim-Oma“ war Helena Röhr, geborene Jakubowsky. Die Großmutter mütterlicherseits wurde liebevoll „Zeilsheim-Oma“ genannt.

      Eines Tages brachte es die „Zeilsheimer-Oma“ fertig, Matthias für drei Wochen zu „kidnappen“. Dass er darauf so gar keine Lust hatte, störte seine Granny herzlich wenig. Aus welchem Antrieb es geschah, weiß er bis heute nicht genau. Vermutlich mochte es die Oma gestört haben, dass der Junge, ihrer Meinung nach, nichts von seiner Mutter hatte. Oder aber ihre Motivation rührte von ganz anderen Dingen her. Vielleicht traute sie ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter zu wenig zu? Oder sie befand, dass die Familie mit den beiden anderen Söhnen schon schwer genug zu schuften hatte. Die Auflösung dieses Rätsels blieb jedenfalls für immer ein Geheimnis.

      Matthiasʼ Vater und seine Mutter hatten große Mühe, ihren Sohn wieder mit nach Hause nehmen zu dürfen. Die Oma wollte das Kind partout nicht hergeben und lenkte nur durch jede Menge gutes Zureden ihrer Tochter ein. Das Ganze zog familiär derart große Kreise, dass das Verhältnis zwischen der „Zeilsheim-Oma“ nebst Familie und der „Rödelheim-Oma“ nebst Familie fortan zerrüttet war. Keine Entschuldigung konnte dieses Zerwürfnis wieder geradebiegen. Fortan sahen alle Röhr-Söhne ihre Großmutter nur noch sehr selten.

      Matthias war in der Grundschule ein guter Schüler. Seine damaligen Zeugnisse schmückten fast ausschließlich Bestnoten. Zensuren, die darauf zurückzuführen waren, dass er die Schule noch sehr ernst nahm. Gewissenhaft und fokussiert lernte er die ersten Jahre seiner schulischen Laufbahn all das, was von ihm verlangt wurde. Und er hörte auch noch zu.

      So gut, dass Matthias einst gar als einziger Schüler die Anweisungen seiner Lehrerin verstand. Eine Mitteilung, die ganz klar besagte, dass der Unterricht am darauffolgenden Tag erst um zehn, statt um acht Uhr beginnen würde. Matthias tat, wie ihm geheißen, und betrat um Punkt zehn das Klassenzimmer. Doch, und bei dem Anblick wurde ihm kurz übel, war selbiges schon bis auf den letzten Platz mit seinen Mitschülern gefüllt. Alle Augen richteten sich auf ihn. Getuschel von Klaus-Peter, hinter vorgehaltener Hand lautes Gekicher von Andrea und Daniela.

      Kurz bevor Matthias im Erdboden versinken konnte, nahm ihn Fräulein Meier in den Arm und versicherte ihm, dass er offenbar der Einzige sei, der ihr richtig zugehört habe. All seine Klassenkameraden seien hingegen schon um acht Uhr erschienen. Das war ein Rampenlicht, in dem er dort stand, das ihm ganz und gar nicht schmeckte.

      Nach dem Umzug seiner Eltern und dem dazugehörigen Schulwechsel von Eschborn auf die Kelkheimer Pestalozzischule in der zweiten Klasse hatte er seinen ersten großen Auftritt. Ein Umstand, den er seiner Mutter zu verdanken hatte.

      Frau Röhr hatte als gelernte Schneiderin zwar ein Auge für Kleidung, verfehlte an jenem Tag jedoch den üblichen Klamottenstil der Kelkheimer Grundschule um Längen, indem sie Matthias an seinem ersten Schultag in der neuen Schule mit Anzug und Krawatte dorthin schickte. Was das für ein achtjähriges Kind bedeutete, das dringend Anschluss suchte, kann man sich mit wenig Phantasie ausmalen.

      Baldo Bauer, seines Zeichens Klassenstärkster und „Leader of the pack“, kam oberlässig daher. Schulterlange Haare, Jeans und T-Shirt. Baldo überholte Matthias auf dem Weg zur Schule regelmäßig mit einem geklauten Mofa. Knatter, knatter, knatter.

      Der Typ musste einem Hippie-Elternhaus entsprungen sein, so alternativ war der drauf. Auf jeden Fall beeindruckte er auf ganzer Linie. Eines Tages geriet er ins Visier Bauers. Vor der versammelten Klasse entbrannte ein ausgewachsener Ringkampf, an dessen Ende der kleine Röhr, zu seinem eigenen Erstaunen, Baldo mit einem gekonnten Fausthieb aus dem Nichts ins Tal der Tränen schlug. Der blieb kurz benommen liegen, akzeptierte ihn aber fortan, und beide wurden sogar Freunde.

      Die Eichendorffschule, eine Gesamtschule in der Lorsbacher Straße in Kelkheim, auf der Matthias ab der fünften Klasse den Realschulzweig besuchte, war ein großer grauer Klotz. Hässlich, keinerlei Fröhlichkeit ausstrahlend. Vielmehr das genaue Gegenteil: morbider Bunkerstil-Charme, der wenig einladend aussah. Für damalige Verhältnisse galt das Gebäude jedoch als die Crème de la Crème unter den hessischen Schulbauten. Versehen mit elektrischen Türen und Jalousien, der modernsten Ausstattung und einem riesigen Pausenhof. Man benötigte fünfzehn Minuten bei normalem Gehen und, je nach konditioneller und körperlicher Verfassung, mindestens vier Minuten vierzig im Sprint, um ihn einmal komplett zu umrunden.

      Was in Knästen Usus war, galt auch auf dem Schulhof. Es gab klare Strukturen, anhand derer man erkennten konnte, welche Schüler zu welcher Klasse gehörten, wer die schlimmsten Krawallmacher und populärsten Wortführer waren, welche Mädels begierig angehimmelt und, ganz so wie heute, welche Außenseiter von allen gehasst wurden. Rechts, am Eingang, standen die kleineren Jahrgänge. Seilchen springend, gegen Torwände schießend, kichernd. Ab der achten Klasse zog es die älteren Schüler zumeist weiter hinter das Gebäude, gut geschützt vor nervenden Blicken der Pausenaufsicht. Hier wurde gerne auch mal eine Kippe rumgereicht. Dort wurde von den Zehntklässlern gefummelt, geknutscht und gelästert. Und dort schrieb das Leben eines Teenagers ganz eigene Dramen.

      Unmittelbar vor der Schule befand sich die Haltestelle für den Bus, den die Röhr-Brüder tagtäglich von Liederbach aus nahmen. Für Martin war das später, als Matthias schon kurz vor seinem Rauswurf stand, eine privilegierte Situation. Begleitet von seinem drei Jahre älteren Bruder konnte ihm nichts passieren. Er war vor den großen Rüpeln der eigenen Klasse geschützt, und sollte doch mal ein Vollidiot wagen, das Wort (oder schlimmer: die Faust) gegen ihn zu erheben, konnte sich dieser Dummkopf sicher sein, dass er schon in der darauffolgenden Pause eine gepfefferte Schelle von Matthias verpasst bekommen würde. Eine sehr beruhigende Konstellation. Eine, die Martin hin und wieder schelmisch ausnutzte, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Was nicht bedeutete, dass dieser Zustand immer anhalten konnte. Irgendwann, das wusste jeder der beiden Röhrs, würden sich deren schulischen Wege trennen. Und ab da kämpfte dann Martin für sich allein.

      Im Laufe der Jahre, vor allem aber gegen Ende hin, hatte sich Matthias an der Eichendorffschule einen Ruf erarbeitet. Er galt als jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte. Niemand, der auf Stress aus war, aber ganz bestimmt ein Junge, der sich zu wehren wusste, sollte es darauf ankommen.

      Ihm wurde Platz gemacht, wenn er irgendwo durchwollte. Rempelte ihn jemand an, versehentlich oder provokant, genügte ein böser Blick (dessen Durchschlagskraft er ebenfalls von Joachim geerbt hatte), und schon glotzte der Rempler eingeschüchtert zu Boden. Standen er und Martin für den Bus an, ließ man die Röhrs vor. Wurde eine Gruppenarbeit verlangt, stritt sich niemand mit Matthias um sein Recht.

      Da, wo andere Jugendliche in diesem Alter unter der schweren Last der Pubertät zu leiden hatten, mithin geplagt von Selbstzweifeln und Scham den Unterricht über sich ergehen ließen, war der älteste Röhr ein Musterbeispiel an Selbstvertrauen.

      Familie Röhr war zur Mitte dieses Jahrzehnts, einige Jahre, bevor Matthias die Schule verließ, vom Berliner Ring in Kelkheim nach Oberliederbach gezogen. Eine Doppelhaushälfte im Fasanenweg wurde das neue Heim, das noch zum Schulbezirk gehörte. Das Haus stand auf einem kleinen Grundstück, das unmittelbar an befahrene Bahnschienen grenzte. Der Umzug nach Oberliederbach erwies sich schon als Glückstreffer, das Haus jedoch war der echte Jackpot. Hier entwickelte sich Matthias zu Gonzo – und auf dem Dachboden des Hauses wurde auch, sehr zum Leidwesen der Eltern, sein erster Gitarrenverstärker ausprobiert.

      Es dauerte eineinhalb Minuten, bis jemand unten an der Tür klingelte. Frau Röhr hatte alle Hände voll zu tun, die aufgebrachte Nachbarin zu beschwichtigen.

      „Was ist denn bitte in Ihren Sohn gefahren, dass er mittags solch einen Lärm macht?!“, schrie sie Matthiasʼ Mutter an. „Wenn Sie sich nicht sofort darum kümmern, dass hier Ruhe einkehrt, kann sich Ihr Sohn gern mit der Polizei unterhalten!“

      Die Nachbarin mochte Matthiasʼ erste Gehversuche an der


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