Sex, Love & Rock'n'Roll. Hollow Skai
Als er sich 2003 für die Sat1-Casting-Show Star Search mit einem Song der Weather Girls, „It’s Raining Men“, bewarb, hatte er sich die Augen mit einem schwarzen Kajalstift gefärbt, und seine Frisur erinnerte an den Protagonisten der Kinder-TV-Serie Der kleine Vampir. Der Juror Hugo Egon Balder empfahl Kaulitz, in Richtung Comedy zu gehen, weil seine Stimme so „witzig“ sei, und allein Kollegin Blümchen erkannte sein Potential: „Du ersparst einer Plattenfirma viel Arbeit. Du bringst das alles schon mit.“
Seinen Look verdankt Kaulitz der japanischen Jugendkultur Visual Kei, deren Kennzeichen gefärbte Haare, Hair-Metal-Frisuren und vorzugsweise schwarz-rote Klamotten aus Lack und Leder sind, wie man sie aus Manga-Comics, Anime-Filmen oder dem Kabuki-Theater kennt.
Bei den Auftritten mit Tokio Hotel warfen ihm Mädchen erst Diddl-Mäuse auf die Bühne, später dann auch BHs. Sein Privatleben stellte er aber nicht öffentlich zur Schau, und seine sexuelle Orientierung thematisierte er nicht in Interviews. Als das französische Teenie-Magazin Voici berichtete, er habe sich am Abend seines 18. Geburtstages im Internet als schwul geoutet, wurde das jedoch von Kaulitz postwendend dementiert: „Das ist totaler Unsinn, aber immerhin ein sehr lustiger Unsinn.“
Das Rätselraten um seine sexuelle Orientierung hält somit an, und so wird er wohl auch künftig, wie in jedem Jahr seit 2007, bei der Wahl des Männermagazins FHM einen Platz unter den „100 Unsexiest Women“ belegen.
Cross-Dressing: Bequem, sexy & frei
Die New York Dolls waren allesamt heterosexuell, pflegten, was die Kleidung betraf, aber einen eher „ökologischen Umgang“, wie ihr Sänger David Johansen in Please kill me, der Oral History des Punk, erklärte: „Es waren immer irgendwelche alten Klamotten, die wir ausgegraben und angezogen haben.“
Mit ihrem Outfit, roten Samtanzügen, hochhackigen Stiefeln, Satinjacketts, Federboas, Damenblusen mit Pünktchenmustern, Frauenkleidern, den toupierten Haaren und geschminkten Gesichtern zogen sie zu Beginn ihrer Karriere ein überwiegend schwules Publikum an, sodass ihre Auftritte im Mercer Arts Center nicht nur schnöde Konzerte waren, sondern bizarren Partys glichen, zu denen von Jimi Hendrix über Bette Midler bis zu Andy Warhol jeder strömte, der 1970 bereits einen Namen hatte oder dem New Yorker Underground angehörte. David Bowie ließ sich von den Dolls nachhaltig inspirieren und wurde eigentlich erst hier zu dem die Geschlechtergrenzen überwindenden Star, als der er in die Annalen des Pop einging. Und letztlich war der Einfluss der New York Dolls auf die Rock-Szene der siebziger Jahre so groß, dass sie nicht nur der englischen Punk-Bewegung als Blaupause dienten, sondern auch den Look von Hair-Metal-Bands wie Mötley Crüe oder Guns N’ Roses prägten.
Die sexuell wie musikalisch schillernde Vielfältigkeit der Dolls und von Stars wie David Bowie oder Lou Reed wurde schon bald unter dem Etikett des Glam Rock vermarktet. Ganz neu war das alles jedoch nicht. Bereits die Rolling Stones hatten sich „tuntig aufgetakelt“, wie Morrissey, der Vorsitzende des englischen Fan-Clubs der New York Dolls, im Gespräch mit Len Brown anmerkte. Und Marc Bolan von T.Rex war „vermutlich der Erste, der es in Make-up und Frauenschuhen bis in den Mainstream schaffte“.
Bolan war in Damenschuhen und mit Federboas um den Hals aufgetreten, hatte sich für einen Auftritt in der englischen TV-Show Top of the Pops die Augen mit einem Glitzer-Make-up geschminkt und kategorisch verkündet: „Wenn du ein attraktives Gesicht hast, solltest du das Beste daraus machen.“
In ein ähnliches Horn blies später David Bowie, als er postulierte, Rock solle „aufgetakelt, in eine Hure verwandelt“ und „zum Abklatsch seiner selbst gemacht werden“. Und auch Mick Jagger gestand 1997, nachdem er in einem Film über die Verfolgung Homosexueller durch die Nazis die transsexuelle Chanson-Sängerin Greta gespielt hatte: „Ich sehe in Frauenkleidern echt viel besser aus.“
Bolan, Bowie und Jagger sind beileibe nicht die Einzigen, die die Aufteilung in Geschlechterrollen unterwanderten, indem sie sich wie Frauen anzogen, was auch als Cross-Dressing bezeichnet wird. Der Who-Schlagzeuger Keith Moon hatte sich einst von Pamela Des Barres Korsetts und hochhackige Schuhe ausgeliehen. Prince trug in den achtziger Jahren unter seinem geöffneten Mantel oft nur einen knappen Slip und schwarze Damenstrümpfe. Ed Mundell von Monster Magnet ließ sich von dem Groupie Lexa Vonn als Mädchen verkleiden, und Joey Jordison von Slipknot, den sie schminken musste, besaß sogar ein eigenes Kleid. TempEau, die Band um den Selig-Sänger Jan Plewka, erwies dem 1996 verstorbenen Rio Reiser ihre Reverenz, als sie 2005 in Fresenhagen in Tutus auftrat. Und selbst ausgemachte Chauvinisten wie der Mötley-Crüe-Sänger Vince Neil bleichten sich die Haare so sehr, „dass man damit das Klo hätte putzen können“, wie es im Sloshspot Blog heißt.
Dass er gerne Frauenkleider trägt, „weil sie so bequem sind“, und am liebsten „nur mit einem Laken bekleidet“ den ganzen Tag lang herumlaufen möchte, bekannte nicht zuletzt auch Kurt Cobain in einem Interview, das Everett True mit ihm 1992 für eine Sex-Ausgabe des britischen Musikmagazins Melody Maker führte. Der Grunge-Rocker war sich dessen bewusst, dass Männer in Frauenkleidern in den frühen 1990ern niemanden mehr aufregen würden, und wollte seinen Auftritt in einem geblümten Kleid im Video zu „In Bloom“ nicht als subversive Aktion verstanden wissen: „Es ist sinnlos, es im Rock-Geschäft mit Subversivität zu versuchen – das geht gar nicht mehr, es sei denn, man würde sich eine Stange Dynamit in den Arsch schieben. Queen haben schon Frauenkleider angezogen. Männliche Musiker machen das doch dauernd. Es fühlt sich einfach bequem, sexy und frei an, ein Kleid zu tragen. Es macht Spaß.“
Weit davon entfernt, ein feministisches Statement abzugeben, beharrte er darauf, dass es einfach bequem sei, als Mann Kleider zu tragen: „Manchmal schläft mir mein Penis geradezu ein oder fühlt sich an, als wollte er gleich abfallen, weil er von einer engen Levi’s abgequetscht wird, und dann ziehe ich lieber weite Hosen oder Kleider an.“ Und auch mit dem Auflegen von Make-up hatte er keine Probleme, wenn Mann es nicht gerade so dick auftrage, dass er wie die Ehefrau eines Fernsehpredigers aussehe: „Ich habe ungefähr einen Monat im Jahr immer wieder eine Eyeliner-Phase. Pete Townshend hatte das auch mal, aber er hat nicht sehr lange durchgehalten.“
Auch Martin Gore von Depeche Mode hatte – von seiner älteren Schwester – „ziemlich schnell“ gelernt, was es mit dem Sex auf sich hat, und verkehrte bereits mit 13 im Global Village, einem Schwulen-Club unter dem Londoner Bahnhof Charing Cross. In „echten Sexshop-Klamotten“ zog er später, als er am Southend Art College studierte, durch die Clubs von London. Seinen Stil, „der sein unschuldiges Gesicht und seinen zarten, knochigen Körper mit fetischistischen Lederriemen, Frauenkleidern, Lippenstift, einer Halskette und schwarzem, zersplittertem Nagellack kombinierte“, sodass seine Fans ihre eigenen sexuellen Phantasien auf ihn projizieren konnten, perfektionierte er jedoch in Berlin, wo Depeche Mode in den Hansa-Studios „by the Wall“ ihre Platten aufnahmen.
In der Mauerstadt gab es 1983 keine Sperrstunde, und Gore passte sich dem spielerisch erotischen Lifestyle an, der in Berlin damals mehr als anderswo gepflegt wurde. In Bezug auf Pornografie und Alkohol herrschte „eine gewisse gesetzliche Freizügigkeit“, erinnerte sich ihr Toningenieur Gareth Jones in der Depeche-Mode-Biografie Black Celebration. Und das spiegelte sich auch in den Songs wider, die Gore für ihr Album Some Great Reward schrieb. Im Song „Something To Do“ beichtete er seiner Freundin, dass er gerne ihre Lederstiefel und ihr hübsches Kleid anziehen wolle, und mit „Master And Servant“ thematisierte er seine Eindrücke aus den S&M-Clubs, in denen er sich nach der Arbeit im Studio rumgetrieben hatte. Obwohl er selbst alles andere als schwul war und regelrecht wütend werden konnte, wenn man ihn für homosexuell hielt, empfand er das Image des Machos als „todlangweilig“. Mit seinen zweideutigen Texten und seiner Vorliebe für das Cross-Dressing sprach er vor allem Jugendliche an, die selbst noch mit ihrer Sexualität experimentierten. Und wie der Keyboarder Alan Wilder kolportierte, machte es Gore jedes Mal Spaß, wenn die Band eine Zollkontrolle passieren musste und er von den Beamten gefragt wurde, ob er sich lieber in der Kabine für Männer oder in der für Frauen durchsuchen lassen wolle: „Je mehr man über seine Outfits lachte, umso wilder machte er sich zurecht. In dieser Hinsicht kann er richtig stur sein.“
Stereo-Sex: To bi or not to bi
Als Brett Anderson von Suede 1992 vom Melody Maker nach seiner sexuellen Orientierung befragt wurde, wich er der Frage aus und bezeichnete