Der Papst kommt. Andrea Hensgen
Fritz Augen plötzlich tiefer, dunkler werden, lässt Kolja aufmerken.
„Keine Frage, dass die Menschen seit ihren Anfängen, und damals weitaus stärker, einen Gott brauchten und sich entsprechende Bilder schufen. Aber darum geht es mir doch gar nicht.“
„Worüber reden wir denn sonst?“
„Über uns, Christoph, über uns Menschen!“
Ein zweites Mal lässt Fritz seinen Blick prüfend über die Runde gleiten, bis zu Kolja am Fenster.
„Wie denken Sie denn darüber? Was meinen Sie, wieso erweist sich dieser Glaube als so unverwüstlich, in einer hochzivilisierten, durchgängig ökonomisch ausgerichteten Gesellschaft?“
Der Kreis öffnet sich für Kolja. Sieben Augenpaare wenden sich ihm zu. Sein Einstieg heute Abend hätte gern weitaus weniger spektakulär ausfallen dürfen. Niemand sonst als er selbst ist schuld daran! Viel zu sehr hat er auf den stolzen Fremden gesetzt und diesen Fritz damit offenbar herausgefordert.
Statt ihm sofort zu antworten, tritt Kolja mit einem stummen Nicken in die Runde, zwischen einen etwa gleichaltrigen Mann und eine kräftige, schwarzgekleidete Frau. Der Mann stößt ihn leicht am Arm und sieht ihn beruhigend an. Kolja begreift sofort, dass er an seiner Stelle Fritz Rede und Antwort stehen wird. Dabei ist der Beistand für den fremden Gast keineswegs der Grund für diesen unverhofften Einsatz.
Selbst wenn der Mann sich die Anstrengung abverlangte, seine Erregung zu verbergen – er wäre kaum imstande dazu.
„Eben, Fritz! Wegen uns Menschen brauchen wir diesen Gott!“
Seine Worte knallen in die Mitte der Runde, als hätte er einen Stein geworfen. Einen Moment lang greift der Blick des Mannes ins Leere, bevor er zurückkehrt zu Fritz. Der nickt ihm begütigend zu.
„Das wissen wir doch alle, Lorenz, dass es ihn gibt, weil wir ihn brauchen. Aber wenn dies nur die eine Seite wäre, was wir uns wünschen und erhoffen, und es ganz unabhängig davon tatsächlich einen Gott gäbe! Einen Gott, dem wir völlig egal wären, den unsere Bilder überhaupt nicht berührten. Einen Gott, der das ganz andere wäre oder schon immer war und ist und ewig bleiben wird, jenseits unserer begrenzten Vorstellungen! Und dann?“
Fritz sieht Lorenz an, als müsste der hier und jetzt das endgültige Urteil über Gottes Unbegreifbarkeit fällen, ja als wollte Fritz Lorenz’ Zustimmung mit Macht erzwingen.
Die Antwort bekommt er sofort.
„Einen Gott, dem meine Gebete egal wären, den will und brauche ich nicht.“
Kolja sieht in ratlose Gesichter, niemand rührt sich. Dennoch scheint es ihm, als träten alle einen Schritt zurück.
Außer Fritz. Ein feines, beinahe theatralisches Seufzen entschlüpft ihm. Wie er den Kopf dabei zur Seite neigt, die Hand ziellos über die Wange streift und die Augen dabei schließt, verrät jedem hier, dass Fritz die Lust an dem Gespräch vergangen ist, just in diesem Moment.
Für Fritz hat Lorenz mit dieser Antwort fraglos den Rang eines gleichrangigen Gegners eingebüßt. Als Spielchen wird Fritz das Gespräch zu Ende bringen. Lorenz richtet sich auf, atmet unüberhörbar laut ein und aus. Ein letztes Wort, dem die anderen aus mitleidiger Nachsicht nichts mehr hinzufügten, ließe ihn in diesem Augenblick seine Einsamkeit in diesem Kreis allzu schmerzhaft spüren.
„Fritz, wenn es diesen Gott nicht gäbe, der uns Gerechtigkeit verspricht, am Ende aller Tage, was würdest Du dann den Opfern der Nazis sagen, wenn Du in Berlin zwischen den Stelen stehst? Fritz, was würdest Du ihnen sagen?“
Abrupt verstummen alle Gespräche, selbst außerhalb der geschlossenen Runde. Vollkommen still ist es inmitten der knapp vierzig Menschen im Raum. Mit einem Blick umfasst Kolja die Anwesenden, ohne den Kopf dabei zu bewegen. Lorenz steht zu dicht neben ihm, als dass er ihm ins Gesicht sehen könnte.
Mit einem solchen Bekenntnis hat hier keiner gerechnet. Wer stellte ernsthaft eine solche Frage? Jeder hier spürt, was Lorenz damit wagt, und so viel ist allen klar: Mit der letztendlichen Antwort auf diese Frage kippt oder hält sein Lebensplan.
Kolja glaubt zu fühlen, wie Lorenz Körper an Spannung verliert und für Sekunden in sich zurücksinkt. Bis er sich mit einem Nicken darin fügt – von diesen Leuten ist keine Antwort, kein Verständnis zu erwarten.
Seine Antwort gibt sich Lorenz selbst.
„Du müsstest ihnen sagen, dass sie umsonst gestorben sind. Dass es keine Sühne geben wird, dass es niemals wieder gutgemacht werden wird, was ihnen angetan wurde. Fritz, würdest Du ihnen das sagen wollen?“
Bedrückende Stille. Alle schweigen, peinlich berührt von dem Fehler, der einem von ihnen da unterlaufen ist.
Und wieder wird es Lorenz mit diesem Schweigen nicht gut sein lassen können, und Fritz wäre der Letzte, der sich vor dem grauenvollen Mord an Millionen Unschuldigen geschlagen gäbe – da könnte Lorenz weitaus mehr Herzensleid und Trauer und Pathos in seine Rede legen. Die zwei kennen einander, da ist sich Kolja sicher, und treffen heute nicht zum ersten Mal aufeinander.
Übertrieben lässig beugt sich Fritz Lorenz entgegen.
„Was sonst, Lorenz? Es liegt kein Sinn darin, dass diese Toten Opfer eines wahnsinnigen Verbrechens wurden. Weder ein Mensch noch ein Gott wird es jemals wieder gutmachen können.“
Ein wissendes Grinsen spielt um Fritz’ Mundwinkel. Es zielt nicht darauf ab, Lorenz bloßzustellen. Fritz scheint vielmehr ehrlich überrascht, dass da einer so rührend naiv kein Ende damit finden kann, an Gerechtigkeit zu glauben. Alle übrigen Gäste schließen sich Fritz’ Einschätzung wortlos, verschämter an.
Mit einem Satz beendet Lorenz die Herablassung, die ihm aus den Gesichtern entgegenschlägt, ihn sanft herausdrängt aus dem Kreis.
„Das ist uns Gott doch schuldig, die Erlösung.“
Kolja sieht, wie das Lächeln um Fritz’ Lippen tiefer noch als bislang mit dessen Gesichtszügen verschmilzt. Und glaubt zum ersten Mal zu sehen, wie Bedrängnis abprallt an einem Gesicht, das den zähen Willen verrät, allem Leid der Welt zum Trotz in der eigenen Seele keinen Schaden zu nehmen.
Ein solches Lächeln wird Frauen eine unerschütterliche Sicherheit versprechen. Koljas Blick schweift zu der jungen, hübschen Frau, die sich den ganzen Abend lang verlässlich in Fritz’ Nähe hält. Ein mädchenhafter Typ, im fraglosen Vertrauen darauf, dass der Mann an ihrer Seite ihr die Widrigkeiten des Alltags verlässlich vom Leibe hält, wie er Kolja nach wie vor überraschend oft begegnet. Die blonden Haare hat sie zu einem losen Zopf gebunden, den sehnig-trainierten Körper unter einer weiten Jacke versteckt. Unruhige Augen, höflich-entgegenkommende Gesten, sie nimmt mehr mit von diesem Abend als sie von sich gibt.
Nachher auf dem Heimweg werden beide darin einig sein, wohin Lorenz’ verzerrter Glaube ihn schlimmstenfalls wird treiben können. Und Fritz wird insgeheim erleichtert und Lorenz dankbar sein über die abrupte Wendung des Gesprächs.
Ebenso wie Kolja. Immerhin hat Lorenz ihn vor der Verlegenheit bewahrt, sich gegenüber Fremden bekennen zu müssen.
Während des restlichen Abends weicht Kolja einem Zusammentreffen mit Lorenz aus.
Bis er plötzlich in der Küche neben ihm steht, Kolja nimmt sich eben ein Bier aus dem Kühlschrank. Es wäre geradezu verletzend, nicht wenigstens ein paar Worte zu wechseln.
Erst jetzt sieht Kolja ihm direkt ins Gesicht. Sofort schiebt sich das Bild eines Jungen darüber, des Jungen, der Lorenz einmal gewesen sein könnte, scheu, vorsichtig und unscheinbar. Abwartend sieht er Kolja an. Kolja hält ihm ein Bier entgegen.
„Auch eins?“
„Ja, danke.“
„Ne tolle Wohnung hier!“
„Ja, schon.“
„An so was kommen sicher nur Einheimische ran.“
„Sind wir