Der Papst kommt. Andrea Hensgen

Der Papst kommt - Andrea Hensgen


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sind also hier aufgewachsen?“

      „Ja, und hätte auch hier studiert, wenn es geklappt hätte. Aber zum Glück tat sich gleich nach der Uni hier die Stelle auf und ich konnte wieder zurück.“

      „Erst neulich habe ich gelesen, dass achtzig Prozent aller ­jungen Leute sich im Umkreis von weniger als zehn Kilometern Entfernung ihres Heimatorts ansiedeln.“

      „Wundert Sie das?“

      Kolja wendet sich zur Seite und stellt die Flasche auf den Tisch. Lorenz ist misstrauisch, und Kolja ratlos, wie er dessen Verdacht auf die Schnelle zerstreuen kann. Es bleibt ihm nichts als die Gegenfrage.

      „Sie nicht?“

      „Das Leben ist doch anstrengend genug. Wenn man seine Leute kennt, wird es um einiges leichter.“

      „Ja, so kann man es sehen.“

      „Sie sind von zuhause weggegangen?“

      „Ja.“

      Bewahrte sich Kolja bislang vor allem Mitleid, kippt es in ­diesem Augenblick um, und wieder sieht Kolja den Jungen vor sich, der nach einer Erklärung drängt, fast wie nach einem Freundschaftsbeweis, und wie ein Junge verweigert er sich diesem Begehren, je unverhüllter es sich zeigt.

      „So ist es nun mal, der eine geht, der andere bleibt.“

      Kolja greift nach seinem Bier und schlüpft durch die Tür, an einem Paar vorbei, das sich auf der Schwelle zwischen Küche und Flur unterhält.

      Das Umland

      Karlsruhe glänzt mit zwei weitläufigen Grünflächen im Zent­rum der Stadt. Der Stadtgarten mit seinen Tieren, Promenaden und Blumenrabatten verlangt geradezu nach einer großen Wiese andernorts, auf der sich alles tummeln kann, was in der Stadt ansonsten ­keinen Auslauf hat: sporthungrige Studenten und rüstige Rentner, Großfamilien in bunten Tüchern rund um Reis- und Fleischpfannen, scheu-verliebte Pärchen Hand in Hand und junge Väter, die stolz-entspannt einen federleichten Kinderwagen vor sich her rollen lassen.

      Gegenüber der kleinteilig geordneten Anlage des Stadtgartens erlaubt die große Wiese im Schlosspark eine Geselligkeit, wie man sie von Bildern ausgedehnter englischer Landschaftsgärten zu kennen glaubt, jedoch weitaus bunter und lebendiger. Bälle fliegen durch die Luft und werden lachend aufgefangen, junge Männer lassen sich von ihren Kindern fangen und dazwischen flitzen Jogger, trainierte Skater und selbstverliebte Einradfahrer in knappem Zentimeterabstand. Der aufdringliche Geruch von Knoblauch und gebratenem Fleisch treibt Kolja weiter.

      Spaziert man in den Stadtgarten fast hinein, nach den ersten Schritten aus dem Bahnhof, so läuft man geradewegs aus der Stadt hinaus, folgt man den langen Alleen, die von der großen Wiese des Schlossgartens an Wald und Feldern entlang hinaus bis zu den umliegenden Dörfern führen.

      Kolja findet sich am Rand eines Dorfes wieder, zwischen Gewerbebauten und Tennis- und Fußballplätzen, wie sie sich überall ins Land hineinschieben.

      In einer Vereinsgaststätte ruht er sich aus.

      An den Tischen ein paar Frauen, die fachmännische Urteile über die Spielleistung ihrer Söhne austauschen. Durch die geöffnete Seitentür sieht Kolja auf einen schmalen Ausschnitt am Rand des Platzes, auf dem in Minutenabständen dieselben zwei Jungs auftauchen, ein plumper Blondhaariger und ein dünner Kerl, der ziellos hin und her tänzelt. Sie wärmen sich auf, ihren lustlosen Bewegungen, ihren gleichgültigen Mienen sieht Kolja es an.

      An der Theke unterhält sich die Kellnerin mit zwei stämmigen Männern in Trainingsanzügen, bis ein Mann mit einem weißen Käppi auf dem Kopf aus der Küche tritt, in jeder Hand einen gefüllten Teller. Die zwei Männer wechseln an den Tisch neben Kolja und beginnen damit, sich zwei große Scheiben panierten Fleischs und einen Haufen Pommes einzuverleiben, so routiniert, wie sie vermutlich einen defekten Rasenmäher in seine ­Bestandteile zerlegen würden. Schweigend zerkleinern sie das Fleisch und streifen mit jedem Stück leicht über einen leuchtend roten Flecken Tomatenketchup.

      Kolja weicht mit seiner Flasche Bier nach draußen aus, auf eine Bank am Rand des Fußballplatzes.

      Auf zwölf, dreizehn Jahre schätzt Kolja die Spieler. Sein Blick hängt sich fest an einem Jungen in hellblauen Schuhen. Dazu ist er einer der Eifrigsten auf dem Platz. Es gefällt Kolja, ihn in Gedanken anzufeuern. Ein kräftiger, untersetzter Kerl mit buschig-dichten Haaren, der erstaunlich schnell rennt und anscheinend leicht in Rage gerät.

      Vom Schiedsrichter eines Fehlers verwiesen, stampft er auf und knallt den Ball vom Feld. Den Rest der ersten Spielzeithälfte verbringt er auf der Bank der Ersatzspieler, keine drei Schritte von Kolja entfernt. Er trinkt eine Flasche Wasser leer und wirft die Flasche auf den Boden. Starrt auf die fernen Berge statt auf das Spiel vor seinen Augen und fügt den Kommentaren der anderen Jungs auf der Bank kein Wort hinzu.

      Mit Beginn der zweiten Spielzeithälfte ist er wieder dabei, kämpferisch wie eben. Rammt seinen Gegner zu Boden und rennt auf das Tor zu, als hielte es für alle Zeit Erfolg oder Niederlage bereit.

      Der Schiedsrichter pfeift, wieder wird er vom Platz gestellt, nach knapp vier Minuten Spiel. Wieder sitzt er dicht neben Kolja, schwer schnaufend. Der jungen Frau, die sich über die Umzäunung hinter ihm beugt und leise auf ihn einzureden beginnt, dreht er stur den Rücken zu.

      So wie der Junge reglos-wütend auf die Wolken starrt, scheint die Frau dem Urteil des Trainers beizupflichten. Mehr als dass sie türkisch spricht, kann Kolja ihrer Rede nicht entnehmen. Immer wieder bricht sie hilflos ab und beginnt von neuem. Ihre Gesten verraten Kolja, dass sie ihren Sohn vergeblich bittet, sich ihr zuzu­wenden. Bis er aufschnellt und den Platz verlässt, sein Hemd über Brust und Schultern windet, zu einem Knäuel zusammenpresst und wortlos geht. Unbeeindruckt von den Rufen seines Trainers, sofort zurückzukehren. Er bückt sich unter der Umzäunung durch, schüttelt seine Mutter ab, den Blick stur zu Boden gerichtet und wird von einem Mann an beiden Schultern gefasst.

      Sein Vater zischt ihm zwei, drei Sätze zu, dreht den Kleinen um und stößt ihn zurück Richtung Platz. Nun stehen sie zu zweit in seinem Rücken, die Eltern dieses kleinen Wüterichs, der sich jetzt verraten und verloren fühlt, wahrscheinlich voller Grimm auf ­Rache sinnt, an Trainer und Mutter und Vater und an der Welt, nachher in der Kabine dem erstbesten einen Stoß versetzen und alleine mit seinem Rad nach Hause stürmen wird, sich am ­liebsten einsperren würde, besäße er noch einen Schlüssel für sein Zimmer.

      Vierzig Minuten sind lang, in hilfloser Wut auf der Reservebank. Unbeachtet hält Kolja ihm die Treue. Während er sich den Anschein gibt, das Spiel zu verfolgen, sieht er dem Jungen zu, wie er sich nach einer Weile von der Bank zu Boden gleiten lässt, dasitzt im Dreck und mit einem kurzen Stock Wege in die trockne Erde zeichnet. Ein Fußballfeld entsteht, mit Linien und Punkten, zwischen denen das Stockende hin- und herfährt, bis die Erde wirr zerfurcht ist und es Zeit wird für Kolja aufzustehen und weiterzugehen.

      Dem lauten Jubel in seinem Rücken entnimmt er ein Tor für die Gegenseite. Die zwei Schnitzelesser schlendern an ihm vorbei, mit einer Genugtuung in den Mienen, als hätten sie etwas zu dem Tor beigetragen, indem sie gerade eben ihre Gläser leerten.

      Noch während der Jahre, in denen Kolja kaum einen der Samstag­nachmittage verpasste, wenn einer seiner Söhne auf dem Platz mitspielte, sah er voraus, wie er diese Zeit vermissen würde, ­verfolgte er so wie heute ein Spiel, ohne einen vernünftigen Grund, die eine oder andere Mannschaft anzufeuern und sich mit den Eltern am Spielfeldrand über einen völlig belanglosen Sieg zu freuen.

      Dankbar nahm Kolja in diesen Jahren die Gelegenheiten wahr, sich unbefragt als Teil einer Gemeinschaft fühlen zu dürfen, ­infolge der Aktivitäten der Kinder in der Schule und den verschiedensten Vereinen. Zu dem Gespräch mit einem türkischen Arbeiter am Rand des Fußballplatzes hätte kein anderer Weg geführt. Kolja genoss diese Verbundenheit, oberflächlich und unpersönlich wie sie war, und zugleich bangten beide ehrlich und ernst um das Tor der eigenen Söhne.

      Die Zeit mit den Kindern vergeht naturgemäß schneller als die eigene Kindheit – welches Kind nähme vorausschauend das Ende dieser Unbeschwertheit


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