Steve Howe - Die Autobiografie. Steve Howe
Kanonen und Panzern im Maßstab 1:43. Nicht selten spielte ich mit meinem Bruder Philip, der zweieinhalb Jahre älter war als ich, bis wir uns schließlich in die Wolle gerieten. In der Regel zankten wir, weil der eine des anderen Armee auf dem Schlachtfeld ausgelöscht hatte. Da wir altersmäßig nicht weit auseinanderlagen, war sein Einfluss auf mich wahrscheinlich größer als der unseres ältesten Bruders John und unserer Schwester Stella. Philip arbeitete später beim Film und Fernsehen – als Cutter und Regisseur. Er lebt nun schon seit vielen Jahren mit seiner Frau Sarah im australischen Sydney und hat drei Söhne aus einer früheren Ehe namens Rufus, Paris und Blaise.
Meine Schwester Stella war die Nächstältere. Sie verdingte sich zunächst als Friseurin, bevor sie ihre Söhne Adrian und Jason großzog und dann eine Stelle im Management des Einkaufszentrums Brent Cross annahm. Heute lebt sie mit ihrem Mann Tony in Spanien. Stella hat mit Philip, John und mir in Holloway wohl einiges mitmachen müssen. John war ein richtiger Komiker. Erst neckte er Mum ob ihrer Kochkünste, dann verwickelte er uns in unserem bereits abgedunkelten Schlafzimmer noch in eine Kissenschlacht, bevor er zurück auf seinen Stützpunkt bei der Royal Air Force musste. Nachdem er ins Leben als Zivilist zurückgekehrt war, arbeitete er in der Möbel- und Textilindustrie. Mit seiner Frau Joyce hat er einen Sohn und eine Tochter, Christopher und Caroline, die wiederum eine Tochter namens Bethany hat.
Uns fehlte zwar der Vergleich mit anderen Haushalten, doch gab es keinen Grund, sich über viel zu beschweren. Ich genoss die Sommerabende, an denen ich stundenlang einen Ball gegen eine Wand kickte, die strahlenden Sonnenuntergänge und unsere Freitagabende, wenn wir quer durch London nach Putney fuhren, um dort an der Themse Fish and Chips zu essen und dann im Putney Common, einem schönen Park, herumzulaufen. Wenn dort die Dunkelheit hereinbrach, wurden wir von Fledermäusen gejagt. Am Wochenende fuhren wir oft nach Richmond oder Hampton Court. Nur ein einziges Mal besuchten wir einen Bauernhof auf dem Land. Das hinterließ einen bleibenden Eindruck – es war wie ein völlig anderer Planet für einen Jungen, für den London der Mittelpunkt des Universums markierte. Es sollten dann ganze zwölf Jahre vergehen, bevor ich erneut die Chance erhielt, die schöne englische Landschaft zu bestaunen und als solche zu schätzen.
Mit fünf Jahren kam ich in die Schule. Mum musste mich fast schon mit Gewalt dorthin zerren. Ich habe jedoch nicht nur an diesem ersten Tag geschrien, sondern noch an vielen der folgenden Tage danach. Die Schule beraubte mich meiner geliebten Freiheit. Von nun wurde ich danach beurteilt, wie gut ich sinnlose Informationen zu einer Vielzahl von Themen in meinem Kopf speichern konnte. Die Hungerford School hing über mir wie eine düster-bedrohliche Regenwolke. Es schien alles so unfair. Für diejenigen, denen in der Schule so gar nichts gefällt, sollte es irgendeine Art Alternative geben. Im Winter war die Dunkelheit, die am Ende des Schultages bereits hereingebrochen war, einigermaßen beängstigend. Ich wurde einmal Zeuge, wie ein Freund von mir in der Finsternis von einem Auto angefahren wurde und zuckend am Boden liegen blieb. Zum Glück war er nur leicht verletzt. Irgendwann einmal schlug mir dann ein aggressiver Junge einen Ziegelstein auf den Kopf. Ich musste ins Krankenhaus gebracht und genäht werden. Mit nur einem Stich zwar, aber immerhin. Und der Junge bekam es mit der Polizei zu tun.
An den Wochenenden hing ich mit meinen Freunden herum. Wenn uns eine Situation zu ungefährlich erschien, dann sahen wir eben selbst zu, dass sie gefährlicher wurde! So schossen wir etwa brennende Feuerpfeile auf strategische Ziele wie den Garten eines Freundes oder einen Kohlebunker. Chemie-Baukästen wurden verwendet, um Raketen zu befeuern, die von unseren selbst zusammengeschraubten Metallrampen aus gezündet wurden. Im Keller eines anderen Freundes aktivierten wir hingegen ein paar Rauchbomben. Oft genug schwelte mysteriöserweise Schwefel auf den Stufen hinauf zu den Wohnungen. Einmal drangen wir auch in ein verlassenes Kino ein und spielten inmitten von Staub und toten Tauben. Irgendwann wurde das aber ein wenig unheimlich, und ich entkam schließlich durch eine Tür, die nirgendwohin führte – außer man war in der Lage, eine drei Meter hohe Mauer, die mit Glasscherben bedeckt war, zu erklimmen. Da es nun einmal der einzige Ausweg war, versuchte ich genau das zu bewerkstelligen. Wie das Mitglied einer militärischen Spezialeinheit kraxelte ich die Wand hoch und sprang auf die andere Seite in die Freiheit. Ich erinnere mich noch, wie ich mit Staub und Schmutz bedeckt nach Hause kam und versuchte, mich zu verstecken, bevor ich mich waschen konnte. Doch vor Mum gab es kein Entkommen. Allerdings fragte sie bloß nach, ob auch alles in Ordnung sei …
Alles, was sowohl unser Nervenkostüm als auch unsere körperliche Ausdauer strapazierte, genoss höchste Priorität bei uns. Das wirkte wie ein Exorzismus gegen meine Ängste. Mithilfe meines törichten Wagemuts befreite ich mich somit schon sehr früh von der dunklen Seite. Doch rückten diese kindischen Herausforderungen schließlich Schritt für Schritt in den Hintergrund. Dadurch eröffnete sich die Möglichkeit, meine Fantasie für sinnvollere Unternehmungen einzusetzen.
Als ich zehn Jahre alt war, begann ich mich, für Musik zu interessieren. Sie motivierte mich geistig und körperlich. So spielte ich denn lebhafte Musik auf der Musiktruhe in unserem Wohnzimmer, wovon auch die Unordnung zeugte, die ich dabei hinterließ. Ich hüpfte zwischen Sofa und Sesseln hin und her und vermied dabei, den Boden zu berühren. Diese Art zu tanzen löste mich auf eine seltsame Weise aus meiner Wirklichkeit heraus, was mir sehr zusagte. Ich legte Platten von Marschkapellen und Schnulzensängern aus der Sammlung meiner Eltern auf, darunter auch Filmmusiken wie etwa South Pacific. Diese verwunschenen Abende wurden für mich eine Flucht aus meinem gewohnten, straff organisierten Alltag. Die Musik bot mir eine zweite Heimat. Das ließ sich aber nur sehr schwer kontrollieren.
Meine nächste Schule war die Barnsbury Boys in Islington. Ich war nun elf Jahre alt, man schrieb das Jahr 1958, und der Lehrplan gestaltete sich durchaus anspruchsvoll. Die einzelnen Fächer waren schwierig, und unbeholfene Lehrer bestimmten mit kompromissloser Autorität über uns. Nur der Werkunterricht und Technisches Zeichnen gefielen mir, wohingegen mir der ganze Rest schwerfiel. Die meisten Lehrer sahen in mir einen braven Jungen, doch konnte ich mich auch eigensinnig verhalten. In der Regel schlich ich auf leisen Sohlen die Flure entlang, ohne dabei groß Aufsehen zu erregen oder irgendwo anzuecken. Auf diese Weise vermied ich es gekonnt, von meinen Mitschülern gehänselt und vom Lehrpersonal zurechtgewiesen zu werden. „HOWE, HÖR GEFÄLLIGST AUF, AUS DEM FENSTER ZU STARREN!“, bringt meinen damaligen Schulalltag ganz gut auf den Punkt.
An der Schule herrschte ein Gewaltniveau, das mitunter aus dem Ruder zu laufen drohte – dies betraf sowohl Schüler als auch Lehrer. Als ich mich einmal ganz beiläufig im Werkunterricht über irgendetwas beklagte, wurde mir schon mit einem Lineal auf die Knöchel meiner Hand gehauen. Ein anderes Mal bezog die ganze Klasse Dresche mit dem Stock, weil ein Missetäter nicht zu seiner Regelüberschreitung stehen wollte. Er hatte, als der Lehrer mit dem Rücken zu uns stand, ein Tintenfass quer durchs Klassenzimmer gepfeffert. Einmal knöpften sich ein paar ältere Schüler meine Wenigkeit vor. Sie boxten und traten mich, aber nicht allzu hart.
Man erwartete von uns, so viel Lernstoff wie möglich aufzusaugen, bis ich nicht mehr imstande war, mit den fleißigeren und begabteren Jungs mitzuhalten. Französisch wurde gestrichen. Da bekam ich gar keinen Fuß in die Tür. Dafür musste ich nun aber ausgerechnet Spanisch lernen. Das entwickelte sich zu einem weiteren Fehlschlag, ähnlich dem Religionsunterricht. Die Lehrer, die uns im Turnunterricht betreuten, waren grob und unflätig. Sie ließen jedenfalls keine Gelegenheit aus, uns zu bestrafen. Für meinen Teil lief ich nämlich nicht so gern oben an der Sprossenwand entlang. Die war ganz schön hoch. Kaltes Duschen gehörte ebenfalls zum Pflichtprogramm. Ein Schwimmlehrer im Bad in der Hornsey Road stieß mich zweimal ins Wasser, und beide Male sank ich bis zum Grund des Beckens. Nur mit Müh und Not und gerade noch rechtzeitig erreichte ich die Wasseroberfläche, um nach Luft zu schnappen. Ich sollte daraufhin Jahrzehnte nicht mehr in ein Schwimmbad steigen. Der Mathelehrer Mr. Bayliss hatte immer ein paar Lineale dabei, mit denen er uns zu schlagen pflegte. Mitten im Unterricht machte er sich immer mal wieder für zehn Minuten aus dem Staub, um vor der Türe eine Zigarette zu quarzen. Wir konnten es riechen, wenn er zurückkam.
Jahrelang schon hatte ich um eine Gitarre gebettelt. Wie gesegnet ich mich doch fühlte, als im Dezember 1959 meine Gebete endlich erhört wurden! Im Alter von zwölf Jahren nahm mich mein Dad mit, eine Gitarre für mich auszusuchen. Es handelte sich dabei um ein deutsches Fabrikat – eine mit sechs Stahlsaiten bespannte und mit F-Löchern versehene Archtop-Gitarre, die wir für 14 Pfund