Steve Howe - Die Autobiografie. Steve Howe
lieber eine ruhige Kugel, gaben sich mit einem passablen Auskommen zufrieden und mieden das gleißende Rampenlicht. Dahinter verbirgt sich eine Weisheit, für die ich große Bewunderung hege.
Wo man damals auch hinlief, überall erklangen Instrumentalnummern von Gitarrenbands wie den Ventures, Shadows, Spotnicks oder Gladiators. All diese Bands erlebten damals ihre absolute Blütezeit und lieferten etliche Hits ab. Meine stetig wachsende Sammlung von Gitarrenmusik nahm mehr und mehr Platz ein, doch gelang es mir, sie beisammenzuhalten und diesem Archiv bis heute immer neue Platten hinzuzufügen. Später gesellten sich auch etliche Wiederveröffentlichungen auf CD und Boxsets sowie diverse Raritäten wie 10-Inch-Alben, frühe Single-Veröffentlichung und sogar noch ältere Schellacks, vor allem von zeitgenössischer Banjo- und Gitarrenmusik, hinzu.
Während ich heranwuchs, lernte ich auch einige Gitarristen persönlich kennen, wie etwa Ray Russell. Er war ein sehr vielseitiger Gitarrist, der auch mit dem amerikanischen Jazz-Arrangeur Gil Evans zusammenarbeitete, was ich selbst auch sehr gern getan hätte. Dann war da noch Yosel, der eine Gibson Les Paul Special spielte, die ich zu den besten Gitarren für Rockmusik zähle. Ich besuchte seine Konzerte in einem Jugendclub in Islington und hing bei ihm zu Hause in Holloway ab, um so viel wie möglich von ihm zu lernen. Auf jeden Fall erhielt ich durch ihn wichtige Einblicke, was es hieß, ein Rockgitarrist zu sein.
1962 ging ich von der Schule ab. Das war der frühestmögliche Zeitpunkt, und ich war gerade einmal 15. Alles, was ich dachte, war: „Nichts wie weg hier!“ Ich hatte alle sieben Teilprüfungen meiner O-Level-Examen versemmelt, obwohl ich davon ausgegangen war, wenigstens im Werkunterricht reüssieren zu können. Mein Bruder Philip hatte vor mir bei seinen Prüfungen noch brilliert und legte schlussendlich auch noch seine A-Level-Examen an der Grammar School ab.
Ich startete daraufhin eine dreijährige Lehre als Klavierbauer bei Barrett Sound am York Way, das sich in Gehdistanz von zu Hause befand. Das war der einzig musikalisch orientierte Job, den ich mit meiner Schulausbildung machen konnte. Am ersten Tag musste ich eine Schwalbenschwanzverbindung aus zwei Stücken Holz basteln. Zum Mittagessen ging ich nach Hause und machte mir dabei ernsthaft Sorgen darüber, dass der Lärm vom Stimmen der Klaviere mein Gehör beeinträchtigen könnte! Noch vor dem Mittagessen am nächsten Tag hatte ich bereits hingeschmissen. Ich konnte es keine Minute länger ertragen, all das Gestimme, Gehämmere und Gekratze anhören zu müssen.
Als Nächstes putzte ich als Teilzeitkraft teure Buden im Norden Londons. Dann arbeitete ich sechs Monate lang bei Saville Records, einem Laden in der Holloway Road. Da stand ich nun – mit meiner Gitarre, meinen dicken Lippen (die Leute sagten, ich sähe wie ein Junge aus Indien aus) und tat mich schwer, meine Persönlichkeit und mein Aussehen zu akzeptieren. Da ich dachte, ich müsste so organisiert wie möglich vorgehen, wenn ich mit anderen gemeinsame Sache machen wollte, entwickelte ich schrittweise meine eigenen Moralvorstellungen und Zielsetzungen hinsichtlich des Musikmachens und nahm mir vor, meine Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. Auch lernte ich, so viele Songs wie möglich zu spielen, feilte an meiner Technik, mit dem Ziel, das Spiel auf allen 6 Saiten über 17 Bünde hinweg zu beherrschen. Ich trainierte mein Gehör, die unterschiedlichen Eigenschaften der jeweiligen Gitarren auf meinen Platten zu erkennen. Dann kaufte ich mir von einem Freund, der in meiner Straße wohnte, eine E-Gitarre – eine Guyatone LG650 – und einen Verstärker, ebenfalls von Guyatone. Wenig später startete ich mit dem Bassisten Kevin Driscoll eine Gruppe namens The Syndicats, der sich schon bald Sänger Tom Ladd und Schlagzeuger Johnny Melton anschlossen.
Zunächst spielten wir einmal in der Woche im Prison Club, wo Häftlinge des Pentonville Prison nach den Auftritten die Aufräumarbeiten erledigten. Wir rockten in einem langegezogenen, Kantinen-artigen Raum, und ich erinnere mich noch genau an den Sound meines Bühnenverstärkers, einem Watkins Dominator, der richtig Stoff gab. Außerdem ergatterten wir ein dauerhaftes Gastspiel im Swan, einem Pub in der High Road in Tottenham. Ein paar gute Freunde und ich fuhren dann zusammen früh morgens beziehungsweise sehr spät am Abend mit dem Bus zurück nach Holloway, nachdem wir uns die Nacht um die Ohren geschlagen und jede Menge Spaß gehabt hatten. Ganze eineinhalb Jahre lang spielten wir allabendlich von Donnerstag bis Samstag und am Sonntag noch einmal zur Mittagsstunde sowie auch am Abend einen bunten Mix aus Chuck Berry, Pophits und ein paar obskuren Nummern. Ich sang etwa „Down The Road A Piece“, einen der wenigen Chuck-Berry-Songs, die er nicht selbst geschrieben hatte. Die Rolling Stones nahmen ihn 1965 für ihre zweite LP in einer eigenen Version auf.
Wir gaben uns große Mühe, Kneipenschlägereien mit Betrunkenen aus dem Weg zu gehen. Wenn wir am Samstagabend auf der Bühne standen, ging es hinter uns, auf der anderen Seite des Fensters, draußen auf der Straße nämlich zumeist rund. Lautstarke Streitereien führten oft zu körperlicher Gewalt. Dies wiederum zog die Polizei an, die diese Konflikte dann schlichten musste. Inzwischen versuchten wir, weiterzuspielen. Unsere Beschallungsanlage, eine PA von Meazzi, verstärkte den Gesang, und unsere Verstärker liefen so laut, wie wir eben durften. Man konnte uns jedenfalls noch am Ende der Straße hören.
Gitarre zu spielen bedeutete mir eine Menge. Dank ihr konnte ich mich über Wasser halten und verdiente sogar ein bisschen Kohle dabei. Auch beabsichtigte ich, meinen eigenen Stil zu entwickeln und eigene Songs zu komponieren, aber fürs Erste schlug ich vor, unser Repertoire mit wenig bekannten Songs wie „Blue Drag“ von Django Reinhardt, „Mama Turn Your Dampers Down“ von Blind Boy Fuller und dem Titeltrack von Chet Atkins’ Teensville aufzufüllen. In Kombination mit den aktuellen Hits, etwa von den Beatles, ergab das eine witzige Mischung.
Es fiel mir schwer, immer die exakt richtigen Noten in der exakt richtigen Reihenfolge zu spielen, wenn ich mir die Songs beibrachte. So verbrachte ich viele Stunden damit, die jeweiligen Platten verlangsamt abzuspielen, um die Songs irgendwann doch auf die Reihe zu bekommen. Die Musikindustrie war von den lärmigen, leicht zerbrechlichen, schweren und schnell verstaubten 78er-Schallplatten aus Bakelit zu kleinen 45er-Singles, EPs und LPs auf 33 Umdrehungen in der Minute gewechselt. Diese neuen Formate waren echt aufregend. Wenn man ein Album, das man eigentlich auf 33 Umdrehungen in der Minute abspielte, auf 16 Umdrehungen verlangsamte, bekam man immer noch die dieselben Noten zu hören – nur eben eine Oktave tiefer. Aber Les Paul hatte natürlich schon in den späten Vierzigerjahren auf 78er-Platten großartig geklungen.
Paul war am 9. Juni 1915 in Waukesha im US-Bundesstaat Wisconsin als Lester William Polsfuss zur Welt gekommen. Ihm verdanken wir so viele Innovationen, etwa in Bezug auf Mehrspuraufnahme- und Varispeed-Technik, die er nicht nur für Gitarren, sondern auch für den Gesang seiner Frau Mary Ford einzusetzen wusste. Songs wie „Whispering“ waren unglaublich beschwingt, „Lover“ klang eigentümlich und bizarr, und die unfassbar guten Arrangements mitsamt gewaltigen Harmonieblöcken waren enorm mitreißend. Diese Songs behielt ich für immer im Kopf. „How High The Moon“ und „The World Is Waiting For The Sunrise“ sind beides absolute Klassiker. Seine früheren Platten enthielten etwas konventioneller ausgerichteten Jazz. Sein erfinderischer Geist ermöglichte es ihm, die elektrische Gitarre als Instrument mit solidem Korpus quasi neu zu ersinnen, obwohl dieser Ansatz auch schon durch die Steel Guitar zu einem gewissen Grad etabliert worden war. Doch selbstverständlich waren es die Sounds, die er seinen Gitarren entlockte, denen er seine Berühmtheit ursprünglich zu verdanken hatte. Ich nehme mal an, dass es seinem Ruf auch nicht schadete, dass Gibson 1953 ein neues Gitarrenmodell Les Paul nannte. Bei „It’s Been A Long, Long Time“ spielt er ein paar seiner subtilsten und gefühlvollsten Melodielinien.
Les Paul, dieser liebenswerte Typ, der mit Vorliebe auch einmal die Regeln abänderte, erwischte mich gleich zweimal auf dem falschen Fuß. Ich lernte ihn nämlich in den späten Siebzigerjahren persönlich kennen. Das erste Treffen ereignete sich im Rahmen einer Gibson-Veranstaltung in einem Hotel am Heathrow Airport. Er signierte die Spannstab-Abdeckung meiner einmaligen, mit vier Tonabnehmern bestückten Les Paul Custom. Etwas später war ich eingeladen, mit Les und seiner Rhythmussektion gemeinsam auf der Bühne zu stehen. Wir spielten zunächst einen zwölftaktigen Blues, bevor er mich fragte, ob ich eine ganz bestimmte Nummer kennen würde, was ich hastig verneinte. Er drehte sich dennoch zu seiner Band um und zählte ein. Dann spielte er einfach eine Runde vor sich hin, bis er sich mir zuwandte und signalisierte, dass ich nun übernehmen solle. Zum Glück fand ich ein paar Noten, mit denen ich einen Fuß in die Tür bekam. Darauf konnte ich aufbauen und entschied mich