DSA: Rabenerbe. Heike Wolf
erzählt?« Esmeraldo drehte sich nicht um. Die Armbrust ruhte locker in seinen Händen.
»Ach nein.« Der Grande lachte leise. »Wir haben keinen Zweifel daran, dass Ihr nicht zögert, wenn Euch der Tiger gegenübersteht.«
Wenn Ihr das bereits wisst, wozu dann dieser ganze Aufwand? Esmeraldo runzelte die Stirn, aber er blieb stumm. Ein Stück vor ihnen knackte etwas im Unterholz, und ein Ruf drang durch die Nacht.
»Ihr müsst wissen, mit der Tigerjagd verhält es sich wie mit den meisten Dingen im Leben«, fuhr Goldo fort. Seine beringte Hand strich über den Knauf seines Stocks. »Sie nötigt uns in einem einzigen Moment hundert Entscheidungen ab, von denen jede einzelne unser Schicksal besiegeln kann. Sie fordert, dass man handelt. Schnell, hart und konsequent.« Seine Hand hielt in der Bewegung inne, und Esmeraldo spürte wieder den Blick, der auf ihm ruhte. »Die Präfektur von Sylla war ein guter Ort, um eine Klinge zu schärfen. Hier in Al’Anfa gibt es hingegen viele Möglichkeiten, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Ungeachtet der Tatsache, wie hoch man gestiegen ist und wessen Gunst man genießt. Mögt Ihr Wein?«
Esmeraldo schüttelte den Kopf. »Ich brauche eine ruhige Hand für Euren Tiger.«
»Ach was.« Goldo lachte und schnippte mit den Fingern, woraufhin einer der begleitenden Sklaven vorsichtig einen Kelch mit Rotwein auf einer gegabelten Stange hinauf balancierte. »Unser Vater pflegte, nur dann zur Tigerjagd zu gehen, wenn er so viel getrunken hatte, dass er nicht mehr in der Lage war, seine Gespielinnen zu beglücken. Dafür traf er noch erstaunlich gut. Manche nannten ihn tollkühn, andere mutig. Wir halten Uns eher an Letzteres. Mut zählt zweifellos zu den Tugenden Unserer Familie, zumindest bei der Mehrzahl der Männer und Frauen, die den Namen Paligan tragen.«
»Das klingt, als sähet Ihr eine Ausnahme.«
»Wir sehen viele Ausnahmen.« Goldo schmunzelte und nippte an dem Wein. »Die meisten berühren Uns jedoch nicht. Nicht jeder Stier ist dazu berufen, unter dem donnernden Beifall der Arena seine Gegner in den Staub zu werfen. Manch einer taugt eher zum Decken als für die Öffentlichkeit, und wieder andere getrauen sich kaum, die Weide zu verlassen, auf der sie geboren wurden.«
Esmeraldo lachte trocken. »Und wo seht Ihr mich, Don Goldo?«
»Ihr wart in Port Corrad und Sylla, also habt Ihr die Weide bereits vor langer Zeit verlassen.« Goldo nahm einen weiteren Schluck, als wollte er seine Worte einen Moment lang sacken lassen. »Ihr seid Uns aufgefallen, Esmeraldo. Wir haben verfolgt, was Ihr in Sylla erreicht habt. Ihr seid klug und zielstrebig, und Ihr habt ein Gespür dafür, auf den richtigen Gladiator zu setzen. Eure Verbindung zu Oderin du Metuant hat Euch die Präfektur beschert, aber auf Dauer scheinen Uns Eure Fähigkeiten in diesem Piratennest doch etwas vergeudet.«
Esmeraldo nickte langsam. Wieder klang Lärm von weiter vorne, aufgeregte Stimmen und ein Ruf. Fackeln tanzten vor ihm durch die Dunkelheit und tauchten den nächtlichen Dschungel in unruhiges Zwielicht. »Ihr wollt mich an Eure Seite holen«, stellte er leise fest. »Deshalb bin ich hier.«
»Das ist durchaus möglich. Allerdings haben Wir mit vorschnellen Entscheidungen schlechte Erfahrungen gemacht. Uns scheint übrigens, als habe man dort hinten etwas ausgemacht.« Die Ringe an Goldos Fingern funkelten, als er mit einer beiläufigen Geste in die Richtung der Treiber wies. »Unser letzter Jäger erwies sich als bedauernswert unentschlossen, obwohl seine Herkunft vielversprechend war. Man sollte eben nie den Fehler machen, von den Eltern auf den Nachwuchs zu schließen. Tatkraft wird letztendlich vom Leben selbst geformt und nicht von einer seidenbespannten Wiege vorherbestimmt.«
»Ihr sprecht von Don Amato.« Amato, natürlich. Ein weiterer Großneffe des Großartigen, entfernt verwandt, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte Goldo den jungen Mann gefördert, ihm gar einen Sitz im Hohen Rat der Zwölf verschafft. Nun gehörte er zu den engsten Vertrauten des Schwarzen Generals, und doch schien Goldo gewillt, ihn fallen zu lassen.
Esmeraldo hob die Armbrust. »Ihr braucht mich, um an seine Stelle zu treten.«
Goldo lachte leise. »Wir brauchen Euch nicht, Esmeraldo. Aber Wir sind bereit, Euch Gelegenheit zu bieten, Euch zu beweisen. Man sagt Uns vieles nach, aber sicher nicht, einen Fehler zweimal zu machen. Vor allem, wenn Wir Vergangenheit und Zukunft des Hauses Paligan in die Waagschale werfen.«
Und Esmeraldo musste sie nur ergreifen. Er atmete tief aus und stellte die Füße eine Handbreit weiter auseinander, um einen sicheren Stand in der schwankenden Gondel zu finden.
In diesem Moment gellte ein schmerzerfüllter Schrei aus dem Unterholz, der in ein qualvolles Wimmern überging und dann erstarb. Schatten zuckten, angstvolle Rufe ertönten, und darunter das tiefe Grollen des großen Raubtiers. Einige Farnwedel wippten auf und ab.
Esmeraldo befahl dem Elefantenführer mit einer knappen Geste, das Tier zum Halten zu bringen. Unruhig warf es den Rüssel hin und her, als spüre es ebenfalls die Nähe des Tigers, aber es stand ruhig. Die Sklaven waren zurückgewichen und hatten sich ängstlich hinter den Jagdhelfern mit den Bluthunden versteckt, die sich geifernd in ihre Ketten warfen.
Esmeraldos Kopf war klar, als er den Sitz des Bolzens prüfte und die Sicherung der Armbrust löste. Mit einer geschmeidigen Bewegung setzte er sie an die Schulter und verengte die Augen gegen das unruhige Licht der Fackeln.
»Ihr prüft mich allen Ernstes, indem Ihr mich einen halbzahmen Tiger erschießen lasst?« Er sprach leise, aber er war überzeugt, dass Goldo ihn hören würde. »Wenn Don Amato selbst daran gescheitert ist, tut Ihr gut daran, ihn zu ersetzen.«
»Wir reden nicht von erschossenen Tigern.« Goldos Worte gingen beinahe unter im Geschrei der Treiber, das plötzlich ganz nah klang. »Wir reden von Entschlossenheit. Und der Bereitschaft, Euch zu nehmen, was Euch zusteht.«
In diesem Moment brach der Tiger aus dem Unterholz. Es war anders, als Esmeraldo vermutet hatte, kein geschwächtes oder dürres Geschöpf, sondern ein stattliches Tier und größer als die Exemplare, die er zuletzt für die Spiele in Sylla hatte einfangen lassen. Das Brustfell war blutbesudelt, und die mächtigen Kiefer hatte die Raubkatze in den Nacken eines unglücklichen Treibers geschlagen, den sie wie eine Puppe mit sich schleifte.
Esmeraldo legte den Kopf ein wenig zur Seite. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Goldo den Hundeführern mit einer Handbewegung zu verstehen gab zu warten.
Entschlossenheit. Das Wort hatte einen so wundervollen Klang. Einen vertrauten Klang. Goldo hatte gut daran getan, ihn hierherzuholen. Was war Amato doch nur für ein Narr.
Der Tiger hielt inne. Ein tiefes Grollen drang aus seiner Brust, und der Blick der dunklen Raubtieraugen fand die Insassen der Sänfte. Ein wildes Exemplar wäre vielleicht gewichen und mit seiner Beute im Unterholz verschwunden. Dieser Tiger aber kannte die Käfige der Menschen, und er würde eher töten als weichen.
Esmeraldo spürte eine tiefe Ruhe in sich, als er den Zeigefinger an den Abzug legte. Es war einer dieser Momente, die eine Jagd zu etwas Besonderem machten, in dem selbst die Zeit den Atem anzuhalten schien. In dem es nur ihn und seine Beute gab. Der Moment des Jägers.
In diesem Augenblick zerriss ein jähes Krachen seine Konzentration, als eine Gestalt aus dem Unterholz getaumelt kam. Esmeraldos Herz tat einen erschrockenen Satz, als er sie erkannte.
Khaya war nackt, aber ihre Haut war von zahlreichen kleinen Wunden gezeichnet, wo die Treiber sie mit den Spießen vor sich hergetrieben hatten. Getrocknetes Blut klebte an ihren Händen und im Gesicht. Panik stand in ihren Augen, die sich gehetzt umblickten, wie ein in die Enge getriebenes Tier auf der Suche nach einem Fluchtweg. Als sie den Tiger entdeckte, schrie sie erschrocken auf. Im Zurücktaumeln fiel das zuckende Licht der Fackeln auf den Schmuckstein, der an einer Kette um ihren Hals hing.
Esmeraldo sog scharf Luft zwischen den Zähnen ein.
»Interessant.« Goldo sprach leise, als redete er mit sich selbst. »So ein hübsches, schreckhaftes Ding. Ich kann verstehen, dass Ihr sie mögt.«
Esmeraldo presste die Lippen aufeinander. Noch immer hielt er die Armbrust im Anschlag, aber er spürte, wie seine Hand mit einem Mal zitterte. Der Tiger fauchte und ließ