DSA: Rabenerbe. Heike Wolf
Gegnerin, Konkurrentin oder Beute sei.
Khaya wich zurück, aber der Herzschlag reichte dem Raubtier aus, um eine Entscheidung zu treffen. Der massige Körper spannte sich zum Sprung.
Es gab ein hässliches Geräusch, als die Armbrust den Bolzen frei gab. Tief bohrte sich das Geschoss in den Hals des Raubtieres und warf es noch im Sprung zur Seite. Mit einem dumpfen Schlag fiel es zu Boden und blieb zuckend liegen.
Esmeraldo hörte, wie Goldo hinter ihm leise Beifall klatschte, aber er kümmerte sich nicht darum. Kalte Entschlossenheit erfüllte ihn, als er die Winde nahm, um die Armbrust erneut zu spannen. Sein Blick fasste Khaya, die wie angewurzelt stand und zu ihm hochstarrte. Sie war immer noch schön, trotz des Bluts, das ihre helle Haut besudelte. Erleichterung lag auf ihren Zügen, und einen Moment schien es, als wollte sie etwas rufen, ihn bitten, sie zu sich zu holen.
Ihr Lächeln erstarb, als er die Waffe hob und einen weiteren Bolzen in die Führungsrinne legte. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, dann flackerte Verstehen in ihnen auf, und sie taumelte zurück.
Esmeraldo legte die Armbrust an und verengte die Augen, während er sein Ziel suchte. Deutlich sah er das Kleinod auf ihrer Brust, das im Licht der Fackeln funkelte. Es stand ihr gut, und es war ein Jammer. Aber Goldo wollte Entschlossenheit. Und er, Esmeraldo, wollte die Zukunft.
Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Esmeraldo erkannte das blanke Entsetzen in ihren Augen. Diese schönen Augen, die ihn heute Morgen noch mit so viel geheuchelter Verliebtheit betrachtet hatten. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.
Es gab keinen Laut, als ihr gefällter Körper auf dem Dschungelboden aufschlug. Er zuckte noch einmal, dann lag er still, und die Hand, die sich im Sterben noch zur Faust geballt hatte, erschlaffte.
Esmeraldo atmete tief durch, ehe er die Waffe absetzte.
Dieses Mal applaudierte Don Goldo nicht. Seine Finger ruhten auf dem Griff des Gehstocks, als Esmeraldo sich umdrehte. Aber er nickte kaum merklich.
Amato
Wind war aufgekommen und trieb Amato eine einzelne, schwarze Strähne ins Gesicht. Irritiert schob sie der junge Grande beiseite und wandte die Augen zum Horizont, in Erwartung einer jener Sturmfronten, die sich plötzlich und nachtschwarz über dem Meer auftürmten. Man sagte, die Sturmherrin Rondra selbst reite den Wolken voraus und sammle die Winde, um sie über die Stadt hereinbrechen zu lassen wie der Zorn eines Giganten. Wie dürres Schilf rissen sie dann die Hütten der Elendsviertel mit sich und trieben das Wasser mit brausender Gischt über die Hafenanlagen. Doch es war nichts zu sehen. Tiefblau und ruhig lag das Meer unter der sengenden Sonne, die bereits jetzt am Vormittag auf die Bucht niederbrannte und eine nasswarme Schwüle über die Stadt legte.
»Die Corona Paligana und die Paligana Quinta sind der Beitrag Eures Onkels, des großartigen Don Goldo«, riss ihn die Stimme der Offizierin aus den Gedanken. Man hatte sie dazu abbestellt, ihn durch den Kriegshafen zu führen, damit er sich ein Bild der Lage machen konnte. Ihre Begeisterung schien sich jedoch in Grenzen zu halten, denn sie leierte die Fakten herunter, als ginge sie davon aus, dass er ohnehin keine Ahnung davon hatte, was sie ihm zeigte. »Er kommt außerdem für die Besatzungen und die Bewaffnung auf. Dazu stellt er vier weitere Galeeren und vier Schivonen der Rabenschwingen-Klasse, die jedoch zurzeit nicht im Hafen liegen. Und die Paligana Octava, die auf dem Rückweg von Uthuria ist, um der Flotte Geleitschutz zu geben.«
Amato nickte höflich. Er verstand tatsächlich wenig von den Kriegsvorbereitungen, die seit einigen Wochen die gesamte Stadt ergriffen hatten, und noch weniger von den verschiedenen Schiffsklassen, die ihm die Offizierin im Laufe der letzten Stunde vorgestellt hatte. Sein spärliches Wissen hatte er aus den Büchern, die Goldo ihm gegeben hatte, damit er im Rat nicht aus Unwissenheit alles abnickte, was man ihm vortrug. Er hatte sich ehrlich bemüht, war letztendlich aber zu dem Schluss gekommen, den Krieg lieber denjenigen zu überlassen, die etwas davon verstanden. Als der Hohe Rat der Zwölf noch Bestand gehabt hatte, war seine Stimme nur eine unter zwölf gewesen, und da jeder wusste, dass er sich allenfalls auf den Krieg in der Arena verstand, hatte man seiner Meinung ohnehin wenig Bedeutung zugemessen.
Seit Oderin du Metuant jedoch die Macht an sich gerissen und Amato in seinen engen Beraterstab geholt hatte, konnte er sich nicht länger der Meinung anschließen, die ihm die vernünftigste schien. Und jetzt, da der Schwarze General Soldaten und Kriegsschiffe in der Stadt zusammenzog, musste Amato verstehen, was auf Oderins Kommandotisch nur Striche und Zahlen auf dem Papier waren.
»Dort drüben liegt übrigens die Rabenflug.« Die Offizierin deutete auf eine größere Galeere der Golgari-Klasse. »Das Flaggschiff des Großadmiralissimus, Don Coragon Kugres«, fügte sie rasch hinzu, als ginge sie davon aus, dass Amato nicht einmal das wüsste. »Don Coragon wird heute wieder auslaufen. Aber wenn Ihr wünscht, kann ich anfragen, ob er Zeit hat, Euch zu empfangen. Ich kenne den befehlshabenden Offizier.«
Amatos Braue hob sich. »Der Großadmiralissimus ist an Bord?«
»Sicher.« Die Frau nickte. Ihre Augen, die zuvor eher gelangweilt geblickt hatten, glänzten mit einem Mal. Offenbar verehrte sie ihren Admiral ebenso inbrünstig wie die Garden den Schwarzen General. »Don Coragon ist das Herz und der Kopf der Flotte. Der größte Admiralissimus, den Al’Anfa je hatte. Natürlich bleibt er an der Seite seiner Leute. Wünscht Ihr, ihn zu treffen?«
»Ein anderes Mal vielleicht.« Vermutlich wäre es sogar sinnvoll, mit dem Kugres zu sprechen, aber im Gegensatz zu seinem Onkel Goldo, der aus jeder Begegnung eine Gelegenheit machte, neue Verbündete zu gewinnen, fiel es Amato immer noch schwer, zwanglos zu plaudern und gleichzeitig jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Das ganze Geschacher und Taktieren ekelte ihn an, auch wenn er längst Teil davon geworden war. Als Mitglied des Kleinen Rats gehörte er zu den bedeutsamsten Persönlichkeiten der Rabenstadt, sodass er sich vor Einladungen und Bittgesuchen kaum retten konnte. Allerdings verhalf ihm seine Stellung auch dazu, sich allmählich dem Einfluss seines allmächtigen Onkels zu entziehen. Denn auch die Macht Goldo des Großartigen endete inzwischen vor der Tür zu Oderins Besprechungsraum.
»Wir wollen ihn nicht aufhalten«, fuhr er fort und schenkte der Frau ein flüchtiges Lächeln, damit sie die Absage nicht als Herabsetzung ihres verehrten Admirals verstand. »Don Coragon hat zu diesen Zeiten sicher Wichtigeres zu tun als mit mir zu plaudern. Ich danke Euch aber für Eure Zeit. Ihr habt mir sehr geholfen.«
»Jederzeit, Don Amato.« Die Offizierin verbeugte sich zackig, doch als sie sich aufrichtete, war die Begeisterung wieder militärischer Höflichkeit gewichen. »Ich freue mich, wenn ich zu Diensten sein konnte.«
Das bezweifelte Amato. Ganz sicher hatte sie Besseres zu tun, als ihm Dinge zu erklären, die wahrscheinlich jeder aufmerksame Hafenarbeiter besser wusste. Seit Wochen schon zog der General die Truppen zusammen, ohne dass er das Ziel dieses immer offensichtlicher geplanten Feldzugs nannte. Amato fragte sich, wie er die Söldner bei Laune hielt. Schon jetzt war die Lage am Hafen schwierig, weil gelangweilte Seesoldaten die umliegenden Tavernen und Schänken unsicher machten und Hafenarbeiter drangsalierten. Die Offiziere hatten alle Hände voll zu tun, für Ruhe zu sorgen und die Mannschaften zu disziplinieren. Lange konnte Oderin nicht mehr zögern, wenn die Begeisterung für den bevorstehenden Feldzug nicht in Unmut umschlagen sollte.
Amato verabschiedete sich und bedeutete seinem Beschützer, ihm zu folgen. Reto war Mittelreicher, ein Gladiator, den Amato einst freigelassen hatte, weil ihm der unbeugsame Geist des Mannes imponiert hatte. Und noch etwas anderes, Tieferes, das er nie ausgesprochen hatte. Es war ohnehin hoffnungslos, und Amato hatte versucht, es zu verdrängen. In einer Stadt wie Al’Anfa durfte man sein Herz nicht leichtfertig verschenken, sodass er seins tief in seiner Brust eingeschlossen hatte. Liebe machte ihn verletzlich, nicht nur für seine Gegner, die ihn am liebsten im Hanfla treiben sähen, sondern auch und vor allem für Goldo, der ein unfehlbares Gespür dafür hatte, wie man Spielfiguren zurück in die Reihe zwang. Dass er sich weitgehend von Goldos Einfluss befreit hatte, war ihm nur gelungen, weil es nichts mehr gab, womit sein Onkel ihn zwingen konnte. Auch wenn es bedeutete, allein zu sein.
»Ich habe noch nie so viele Kriegsschiffe auf einem Haufen gesehen«, brummte Reto, der sich trotz der Jahre im Süden immer noch