H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1996 als gekürzte einbändige
Ausgabe unter dem Titel »H. P. Lovecraft, A Life«. Die vollständige zweibändige
Ausgabe erschien erstmals 2010 unter dem Titel »I am Providence. The Life and Times
of H. P. Lovecraft« bei Hippocampus Press, New York.
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1. eBook-Ausgabe 2021
Deutsche Erstausgabe
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
Golkonda Verlag in Europa Verlage GmbH, München
© 2010 S. T. Joshi
© der Übersetzung 2019 Andreas Fliedner
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.
Lektorat: Melanie Wylutzki
Redaktion: Hannes Riffel
Korrektur: Anne-Marie Wachs, Frank Roßnagel
Umschlag & Gestaltung: benswerk [https://benswerk.com]
Satz: Hardy Kettlitz, Berlin
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-944720-54-8
Alle Rechte vorbehalten.
Inhalt
16. DIE ATTACKEN DES CHAOS (1925–1926)
17. DAS WIEDERGEWONNENE PARADIES (1926)
18. DAS KOSMISCHE AUSSERHALB (1927–1928)
19. LÜNETTENFENSTER UND GEORGIANISCHE KIRCHTÜRME (1928–1930)
20. NICHT-ÜBERNATÜRLICHE KOSMISCHE KUNST (1930–1931)
21. GEISTIGER HEISSHUNGER (1931–1933)
22. IN MEINER EIGENEN HANDSCHRIFT (1933–1935)
23. DAS EINZIG WICHTIGE IST DIE ZIVILISATION (1929–1937)
24. NAH AM EXISTENZMINIMUM (1935–1936)
25. WENN DAS LEBEN SICH DEM ENDE ZUNEIGT (1936–1937)
26. DU BIST NOCH BEI UNS (1937–2010)
16. DIE ATTACKEN DES CHAOS (1925–1926)
Am 31. Dezember 1924 bezog ich ein großes, ansprechend & geschmackvoll geschnittenes Zimmer in der Clinton Street 169, Ecke State Street in der Heights oder Borough Hall genannten Gegend von Brooklyn, in einem Haus aus früher viktorianischer Zeit mit weißem, klassischem Balkenwerk & hohen Fenstern mit getäfelten Passungen. Dank zweier abgeteilter Alkoven kann man den Raum wie eine reine Bibliothek wirken lassen, & und das Ganze, mit seinem großzügigen Blick über die alten Ziegelhäuser der State und Clinton Street, ergibt eine erfreuliche Einsiedelei für einen altmodischen Mann wie mich.1
So beginnt eines der ungewöhnlichsten Schriftstücke aus Lovecrafts Feder, sein »Tagebuch« für das Jahr 1925. Fragt man sich, warum dieses Dokument, das für die Rekonstruktion jenes entscheidenden Lebensjahrs so zentral erscheint, erst vor wenigen Jahren veröffentlicht wurde,2 wo doch, mit Ausnahme seiner Briefe, praktisch jedes Wort, das Lovecraft geschrieben hat, unabhängig von Bedeutung oder literarischem Wert gedruckt worden ist, so liegt die Antwort vielleicht in seiner Alltäglichkeit. Für Lovecraft diente das Tagebuch vor allem als Gedächtnisstütze, sodass ihm die literarische Dimension von Tagebüchern wie jenen von Pepys oder Evelyn fehlt. Er führte es in einem Taschenkalender für das Jahr 1925, der jedem Tag nur vier Zeilen zuwies. Obwohl Lovecraft auf die Linierung wenig Rücksicht nahm – er verabscheute liniertes Papier –, sind die Einträge so kryptisch und verkürzt, dass es bis heute nicht gelungen ist, alle Worte und Begriffe zu entschlüsseln. Nehmen wir zum Beispiel den Eintrag vom 16. Januar:
SH verabschiedet – für SL Schreibtisch ausgesucht, Zimmer SL in Ordnung gebracht – Fahrten hin & her – SL & RK in 169 getroffen – McN & GK angekommen – Unterhaltung Cafeteria, verlegt zu SL – Überraschung – 2 Uhr früh Runde aufgelöst – GK McN & HPL U-Bahn – HP & GK zur 106 St., Gespräch – geschlafen
Nicht gerade eine fesselnde Lektüre. Das Tagebuch hatte jedoch eine rein zweckgebundene Funktion: In ihm notierte Lovecraft Anhaltspunkte für die Briefe an seine Tante Lillian. Diese Praxis hatte sich wahrscheinlich schon Jahre zuvor, während seines Aufenthalts in New York im Sommer 1922 etabliert. Schon damals ließ Lovecraft in einem langen Brief an seine Tante die Bemerkung fallen: »Dies ist gleichzeitig ein Brief und ein Tagebuch!«3 In späteren Jahren hat Lovecraft vermutlich auf all seinen Reisen solche Tagebücher geführt, diese sind jedoch verschollen.
Das Tagebuch für 1925 ermöglicht es, Lovecrafts Aktivitäten Tag für Tag nachzuvollziehen. Ein solches Unternehmen wäre jedoch einigermaßen fruchtlos. Zwar lassen sich mit seiner Hilfe viele Lücken der Korrespondenz zwischen Lovecraft und seinen Tanten ausfüllen, doch liegt seine eigentliche Bedeutung darin, dass es uns hilft, die Grundzüge seiner New Yorker Existenz zu rekonstruieren. Zum ersten Mal überhaupt lebte Lovecraft allein, ohne Mutter, Tante oder Ehefrau an seiner Seite. Natürlich waren da seine Freunde: 1925 war die große Zeit des Kalem Club, dessen Mitglieder in ihren bescheidenen Wohnungen gegenseitig nach Belieben ein- und ausgingen, sodass sie beinahe eine Art literarischer Kommune bildeten. Dennoch war Lovecraft in einem Maße auf sich gestellt wie nie zuvor in seinem Leben. Er musste sich selbst um Essen und Wäsche kümmern, sich allein neue Kleidung kaufen und mit den lästigen alltäglichen Verrichtungen und Problemen zurechtkommen, die für die meisten von uns eine Selbstverständlichkeit sind.
In einem Brief aus dem Sommer 1925 bemerkt Lovecraft, dass er die Wohnung in der Clinton