H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
im Dezember 1924 statt. Dass Lovecraft in diesem Zeitraum gemeinsam mit seiner Tante auch einen Ausflug nach Elizabeth unternahm,5 deutet darauf hin, dass er diese ländliche Kleinstadt in New Jersey ebenfalls als Wohnort in Erwägung zog. Doch möglicherweise war es die Nähe zu Manhattan, die letztlich den Ausschlag für die Clinton Street gab. Lovecraft gefiel das Apartment im ersten Obergeschoss gut, da die beiden Alkoven – von denen der eine als »Ankleidezimmer« und der andere als »Badezimmer« diente – es ihm ermöglichten, den Hauptraum als reines Arbeits- und Wohnzimmer einzurichten. In einem Brief an Maurice W. Moe skizziert Lovecraft einen Plan der Einrichtung (siehe Seite 11).6
Es überrascht wenig, dass zwei Wände des Zimmers vollständig von Bücherregalen eingenommen werden, obwohl Lovecraft immer noch einen Gutteil seiner Bücher eingelagert hatte. Ein Nachteil war das Fehlen einer Kochgelegenheit. Lovecraft bemühte sich, die Wohnung sauber zu halten, wobei er jedoch gleichzeitig Wert darauf legte, keine unnötige Zeit mit Hausarbeit zu vergeuden. Seiner Tante Lillian berichtete er: »Ich wische nur alle drei Tage Staub, mache den Boden nur einmal in der Woche, & meine Mahlzeiten sind so schlicht, dass ich außer einem Teller oder Tasse & Untertasse & etwas Besteck kaum Geschirr abspülen muss.«7 Das Einzige, wovon Lovecraft, zumindest anfangs, enttäuscht war, war der verwahrloste Zustand der Gegend um die Clinton Street. Doch er war sich nur allzu bewusst, dass man mit schmalem Geldbeutel nehmen musste, was man bekam. Die Miete von 40 Dollar im Monat war ausgesprochen günstig, und da sich das vorhandene Schlafsofa zu einem Doppelbett ausklappen ließ, konnte Sonia während ihrer Besuche in New York relativ bequem dort übernachten. Wenn Sonia nicht da war, schlief Lovecraft häufig auf der Couch, ohne sie auszuklappen, oder döste schlicht ein paar Stunden in seinem Morris-Chair.
Eigentümlicherweise ist die Gegend um die Clinton Street und das gesamte Brooklyn-Heights-Viertel im Zuge der Gentrifizierung, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, zu einer der beliebtesten – und teuersten – Wohngegenden Brooklyns geworden, während das ehemals schicke Flatbush, wo die Parkside Avenue 259 liegt, deutlich heruntergekommen ist. Schon damals zeichnete sich die Clinton Street jedoch dadurch aus, dass es von dort eine bessere U-Bahn-Verbindung nach Manhattan gab. Während die Parkside Avenue auf der anderen Seite des Prospect Park liegt, sind es von der Clinton Street 169 nur ein paar Blocks bis zur Borough Hall, dem Sitz der Stadtverwaltung von Brooklyn, wo zwei der drei städtischen U-Bahn-Linien halten. Auch in der nahe gelegenen Bergen Street befindet sich eine Metrostation. Die meisten dieser Linien verkehrten bereits in den 1920er-Jahren, sodass Lovecraft praktisch zu jeder Tages- und Nachtzeit mühelos von beinahe überall in Manhattan nach Hause fahren konnte – was im Hinblick auf seine häufigen nächtlichen Exkursionen mit der »Gang« durchaus bedeutsam war.
Versuchen wir zunächst zu umreißen, wie sich die beruflich bedingte Trennung von Sonia und Lovecraft konkret gestaltete. Während Sonia in dem Kaufhaus Mabley & Carew’s in Cincinnati arbeitete, konnte sie offenbar jeden Monat ein paar Tage in New York verbringen. Doch bereits Ende Februar 1925 hatte sie die Stellung dort entweder verloren oder von sich aus aufgegeben. Lovecraft schreibt an seine Tante Annie: »… trotz einer deutlichen Verbesserung ihrer Gesundheit seit ihrem letzten Besuch ist S. H. die feindselige und kleinliche Atmosphäre bei Mabley & Carew’s unerträglich geworden. Am Ende wurde sie von spitzfindigen Vorgesetzten und gehässigen Mitarbeitern geradezu aus ihrer Stellung vertrieben.«8 Später berichtet Lovecraft, dass Sonia sich zwei Mal für kurze Zeit in einer Privatklinik in Cincinnati aufhielt.9 Sonia kehrte zunächst nach Brooklyn zurück, wo sie die letzten Februartage und den größten Teil des März verbrachte. Dann entschloss sie sich, jene sechswöchige Auszeit zu nehmen, die ihr die Ärzte bereits im vorangegangenen Herbst empfohlen hatten. So hielt sie sich von Ende März bis Anfang Juni zumeist bei einer Ärztin in Saratoga Springs im Bundesstaat New York auf. Lovecraft notiert allerdings im April, dass Sonia dort »ein Kind in ihrer Obhut hat«,10 was darauf hindeutet, dass der Aufenthalt in irgendeiner Weise mit einer Arbeit als Kindermädchen verbunden war. Vielleicht war die Tätigkeit jedoch Teil der Bezahlung des Kuraufenthalts, da es sich offenbar um einen privaten Haushalt und nicht um ein Sanatorium handelte. Im Mai schreibt Lovecraft an Lillian: »Sie hält sich in Saratoga gut & obwohl ihr letztes kleines Hutunternehmen nicht von Erfolg gekrönt war, hält sie immer noch nach besseren Stellen Ausschau.«11
Im Juni und Juli verbrachte Sonia wieder mehr Zeit in Brooklyn. Mitte Juli nahm sie eine Stellung in einem Hutgeschäft oder Kaufhaus in Cleveland an. Am 24. reiste sie dorthin und bezog ein Zimmer in einer Pension in der East 81st Street 2030 für 45 Dollar im Monat.12 Ende August zog sie in die East 86th Street 1912.13 Mitte Oktober hatte Sonia jedoch auch diese Stellung bereits wieder verloren oder aufgegeben. Lovecraft berichtet: »Das Problem mit der neuen Stellung ist, dass sie nur auf Kommissionsbasis ist, sodass während geschäftlicher Flauten das Gehalt gegen null geht.«14 Mitte November, vielleicht auch schon etwas früher, hatte Sonia sich bereits wieder eine neue Stelle verschafft, diesmal bei Halle’s, damals (und bis zu seiner Schließung 1982) das führende Kaufhaus von Cleveland.15 Diese Stellung scheint Sonia bis Mitte oder Ende 1926 behalten zu haben.16
Sonia hatte geplant, über die Weihnachtsfeiertage nach New York zu kommen, doch offensichtlich konnte sie sich bei Halle’s nicht freinehmen. Während der dreieinhalb Monate, die Lovecraft 1926 in Brooklyn verbrachte, war Sonia für einen Zeitraum von etwa drei Wochen dort. Mit anderen Worten: Während der fünfzehneinhalb Monate, die Lovecraft in der Clinton Street 169 wohnte, verbrachte Sonia insgesamt kaum mehr als drei Monate in New York, wobei es sich, bis auf den sechswöchigen Aufenthalt im Juni und Juli 1925, um vereinzelte Kurzbesuche handelte.
Wenn Sonias berufliche Situation während dieser Zeit schwierig war, so war diejenige Lovecrafts buchstäblich hoffnungslos. Im Tagebuch von 1925 und in der 160.000 Wörter umfassenden Korrespondenz, die Lovecraft 1925–26 mit seiner Tante Lillian führte, erwähnt er nur dreimal sein vergebliches Studium der sonntäglichen Stellenanzeigen der NEW YORK TIMES. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Lovecraft, nachdem Sonia die Stadt verlassen hatte, die aktive Arbeitssuche praktisch einstellte. Ich glaube nicht, dass man ihm daraus einen Vorwurf machen kann. Viele Menschen können aus eigener Erfahrung von der entmutigenden Wirkung langanhaltender Arbeitslosigkeit berichten, und mag Lovecrafts Arbeitssuche im Vorjahr auch noch so unbeholfen und unprofessionell gewesen sein, so hatte er sie doch mit Ausdauer und Nachdruck betrieben.
Die Versuche, die Lovecraft 1925 unternahm, um Arbeit zu finden, gingen zum größten Teil auf Hinweise seiner Freunde zurück. Das vielversprechendste Projekt war die freie Mitarbeit bei einer Handelskorrespondenz, die von einem Mann namens Yesley herausgegeben wurde, zu dem Arthur Leeds Kontakt hatte. Ende Mai schrieb Lovecraft an Lillian:
Die Arbeit in diesem Yesley-Laden ist einfach. Es geht ausschließlich darum, Gefälligkeitsartikel zu verfassen, in denen außergewöhnliche Unternehmen oder hervorragende Persönlichkeiten der Handels- und Geschäftswelt in leuchtenden Farben porträtiert werden. Jeder Artikel muss etwa 1 ¼ bis 1 ½ zweizeilig beschriebene Schreibmaschinenseiten lang sein. Die Artikel werden ausschließlich aufgrund von vorgegebenen Informationen verfasst, die »Leads« genannt werden und die aus der Presse oder aus Werbematerial entnommen sind …
Wenn der Artikel fertig ist, wird er an das Büro gesandt & solange er nicht zu schlecht ist, um angenommen zu werden, geht ein geschulter Vertreter damit zu der Person oder Firma, um die es in dem Artikel geht. Nachdem er ihm die Möglichkeit gegeben hat, letzte Änderungen an dem Artikel vorzunehmen, bearbeitet er den potentiellen Kunden, damit dieser eine Anzahl der Zeitschriften, in denen der Artikel erscheint, bestellt – die der Kunde dann zu Werbezwecken verwenden kann. Wenn der Vertreter Erfolg hat – was überraschend oft der Fall ist, schließlich sind es echte Experten auf ihrem Gebiet – erhält der Verfasser des Artikels 10% der Summe, die der Kunde bezahlt – einen Betrag, der zwischen 1,50 Dollar und mehr als 30 Dollar liegen kann, je nachdem, wie viele Zeitschriften bestellt werden.17
Das klingt zunächst nicht unbedingt nach einer Arbeit, die zu Lovecraft passte. Letztlich bedurfte es jedoch vor allem einer gewissen Geläufigkeit beim Verfassen von Texten, über die Lovecraft zweifellos verfügte.