H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
Später in der Nacht ging Lovecraft mit Kirk in dessen Wohnung in der 16. Straße, wo sie angezogen ein paar Stunden schliefen, um am nächsten Morgen Kirks Zimmer in ähnlicher Weise wie Lovemans zu dekorieren. Ein paar Tage später, am 20. Januar, entschloss sich Kirk, ebenfalls in die Clinton Street 169 zu ziehen, und mietete das Apartment direkt über Lovecrafts. An diesem Abend gingen die beiden in Kirks alte Wohnung, bereiteten dessen Sachen für den Umzug vor und legten sich gegen fünf Uhr früh schlafen. Am nächsten Morgen packten sie zu Ende, und am folgenden Tag zog Kirk in der Clinton Street ein. Eine Weile spielte auch Loveman mit dem Gedanken, dorthin zu ziehen, entschied sich jedoch letztlich dagegen.
Während des ganzen Jahres verging kaum ein Tag, an dem Lovecraft nicht einen oder mehrere seiner Freunde traf – entweder besuchten sie ihn, man traf sich in einem der zahlreichen Selbstbedienungscafés in Manhattan oder mittwochs bei den regelmäßigen Treffen des Clubs, die immer noch abwechselnd bei McNeil und Leeds stattfanden, da der Streit zwischen beiden weiter schwelte. So viel zu Lovecrafts Dasein als »exzentrischer Einsiedler«! Seine sozialen Verpflichtungen – und eine umfangreiche Korrespondenz in Sachen der UAPA – nahmen ihn so sehr in Anspruch, dass er in den ersten sieben Monaten des Jahres 1925 praktisch nichts schrieb, außer ein paar Gelegenheitsgedichte für die Treffen des Blue Pencil Club.
In einem Brief vom 6. Februar erklärt Kirk seiner Verlobten die Namensgebung des Kalem Club: »Da die Nachnamen der ständigen Mitglieder alle mit K, L oder M beginnen, haben wir vor, uns KALEM KLYBB zu nennen. Heute Abend wird etwa ein halbes Dutzend Freunde kommen. Die meisten sind Langweiler. Eigentlich alle, außer mir und HPL …«25 In einem etwa zehn Jahre später verfassten Artikel gibt Kleiner eine leicht abweichende Version der Namensfindung: »›Kalem‹ beruhte auf den Buchstaben K, L und M, den Anfangsbuchstaben der Nachnamen der Gründungsmitglieder – McNeil, Long und der Verfasser – und derjenigen, die in den ersten sechs Monaten dem Club beitraten.«26 Eine weitere Frage ist die nach der »offiziellen« Gründung des Klubs. Am 3. Februar fand im Restaurant Milan ein großes Treffen statt, an dem neben Kirk, Kleiner und Loveman auch Sonia, C. M. Eddy – der für ein paar Tage zu Besuch war – und Lillian – die, nach dem Besuch bei einer Freundin in Westchester Country vom 10.–28. Januar, offenbar noch einmal nach New York zurückgekommen war – teilnahmen. Gegen die Annahme, dass es sich hierbei um ein Treffen des Clubs im engeren Sinne gehandelt hat, spricht jedoch, dass zu dessen Zusammenkünften normalerweise nur männliche Mitglieder zugelassen waren.27 Merkwürdigerweise kommt die Bezeichnung Kalem Club in Lovecrafts Korrespondenz dieser Zeit nicht vor. Er spricht stets nur von der »Gang« oder den »Boys«.
Wenn Sonia zu einem ihrer unregelmäßigen Besuche in der Stadt war, achtete Lovecraft zunächst durchaus darauf, Zeit mit ihr zu verbringen: So notiert er, dass er am 4. Februar ein Treffen mit den »Boys« ausfallen ließ, weil Sonia sich nicht wohl fühlte.28 Doch mit der Zeit – und besonders während Sonias längerem Aufenthalt im Juni und Juli – ließ seine Gewissenhaftigkeit nach. Schon während ihres Besuchs im Februar und März blieb er abends oft so lange weg, dass Sonia schon schlief, wenn er nach Hause kam, und stand erst auf, wenn sie bereits ausgegangen war. Aus dieser Zeit gibt es nur wenige Briefe Lovecrafts an seine Tanten, sodass wir auf sein Tagebuch angewiesen sind, um seine Aktivitäten zu rekonstruieren. Aus diesem erfahren wir beispielsweise, dass am 1. März ein Treffen der »Gang« in Kirks Apartment stattfand, nach dem einige Mitglieder noch in die nahe gelegene Scotch Bakery gingen. Später kehrten Lovecraft und Kirk in dessen Zimmer zurück und unterhielten sich bis zum Morgengrauen. Am 10. März machten die beiden – ohne Sonia – einen Ausflug nach Elizabeth und kehrten über Perth Amboy und Tottenville, Staten Island, nach Brooklyn zurück. Am nächsten Abend fand ein »offizielles« Treffen des Kalem Club bei Frank Long statt, nach dem Lovecraft und Kirk noch bis halb sechs morgens bei Kirk zusammensaßen.
Sonias Abwesenheit gab Lovecraft zudem Gelegenheit, sein Gewicht wieder unter Kontrolle zu bringen. Maurice W. Moe gegenüber hatte er gescherzt, dass er nie wieder eine Waage besteigen würde, nachdem er die 88 Kilo überschritten hatte. Doch von Januar an begann er, ernsthaft Diät zu halten. Im Ergebnis reduzierte Lovecraft innerhalb weniger Monate sein Gewicht von fast 100 auf 66 Kilogramm. Seine Kragenweite ging von 41 auf 37 zurück. Alle seine Anzüge mussten geändert werden, und jede Woche kaufte er kleinere Kragen. Oder wie Lovecraft es ausdrückte:
Wie die Pfunde dahinschmolzen! Ich half durch Leibesübungen und Spaziergänge an der frischen Luft nach, und jedes Mal, wenn meine Freunde mich sahen, waren sie entweder erfreut oder entsetzt über den erstaunlichen Schrumpfungsprozess. Glücklicherweise bin ich nicht so lange dick gewesen, dass sich die Haut dauerhaft gedehnt hat. Stattdessen schrumpfte sie faltenlos im Einklang mit dem darunterliegenden Gewebe. Zurück blieb eine straffe Oberfläche, und die verloren geglaubten Umrisse von 1915 und früher stellten sich wieder ein. Es war ein dramatischer – atemloser – sensationeller Vorgang, wie die ein Jahrzehnt lang verlorene Gestalt unter dem ekelhaften Schlamm, der sie so lange umschlossen hatte, wieder zum Vorschein kam.
Wie aber reagierten Lovecrafts Freunde, seine Tanten und nicht zuletzt Sonia?
Wie Sie sich vorstellen können, erhob meine Frau ängstlichen Einspruch gegen das, was für sie wie ein alarmierender Verfall aussah. Ich erhielt lange, vorwurfsvolle Briefe von meinen Tanten und wurde jedes Mal, wenn ich den kleinen Belknap besuchte, von Mrs. Long aufs Strengste ermahnt. Aber ich wusste, was ich tat, und machte mit grimmiger Entschlossenheit weiter … Mittlerweile bekenne ich mich öffentlich dazu, selbst Herr über meine Essgewohnheiten zu sein, und lasse es nicht zu, dass meine Frau mich über das von mir festgelegte Maß hinaus mästet.29
Lovecrafts Briefe an seine Tanten liefern eine ganze Reihe von Details, die diesen Bericht ergänzen. Das Thema Ernährung kommt im späten Frühjahr und frühen Sommer 1925 verstärkt zur Sprache:
Ernährungsfragen und Spaziergänge stehen auf der Tagesordnung – was mich daran erinnert, dass ich heute Abend mein Zuhause-Ess-Programm begonnen habe. Für 30 Cent habe ich eine Menge Lebensmittel eingekauft, die für ca. 3 Mahlzeiten reichen sollten.
1 Laib Brot | 0,06 |
1 mittelgroße Dose Bohnen | 0,14 |
¼ Pfund Käse | 0,10 |
Gesamt | 0,3030 |
Lovecraft scheint diese Liste verfasst zu haben, um seinen Tanten zu beweisen, dass er in der Lage war, in knappen Zeiten hauszuhalten, und erwartete zweifellos, für seine Sparsamkeit gelobt zu werden. Doch sein nächster Brief lässt vermuten, dass die Antwort anders als erwartet ausfiel:
Was mein Ernährungsprogramm angeht – Unsinn! Ich esse genug! Nehmen wir ein mittelgroßes Brot, teilen es in vier gleiche Teile & fügen diesen jeweils ¼ Dose (ebenfalls mittelgroß) Heinz-Bohnen & ein großzügig bemessenes Stück Käse hinzu. Wenn das Resultat nicht eine reichliche, gesunde Tagesration für einen alten Gentleman ist, dann trete ich von meinem Posten im Ernährungsausschuss des Völkerbunds zurück! Die Kosten belaufen sich auf nur 8 Cent – aber lass Dich davon nicht in die Irre führen! Es ist gutes, gesundes Essen & mancher kräftige Chinese lebt von weitaus weniger. Natürlich wechsle ich beim »Fleischgang« von Zeit zu Zeit ab, indem ich etwas anderes als Bohnen kaufe – Spaghetti aus der Dose, Rindereintopf, Corned Beef usw. usw. usw. – & gelegentlich füge ich Kekse zum Dessert oder etwas in der Art hinzu. Obst kommt ebenfalls infrage.31
Diese Passage ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Sie wirft ein grelles Licht auf die verheerende Armut, in der Lovecraft damals lebte und die ihn, wenn auch nicht in derart extremer Form, für den Rest seines Lebens begleiten sollte. Es wird deutlich, dass er sich Restaurantbesuche, selbst in Automatenrestaurants, nicht mehr leisten konnte. Auffällig ist auch der schuljungenhafte Ton, den Lovecraft anschlägt, als wäre er ein Teenager, der versucht, sich seinen Eltern gegenüber zu rechtfertigen. Später im selben Brief greift Lovecraft das Thema noch einmal auf, offenbar nachdem er einen weiteren Brief von Lillian erhalten hatte:
Großer Gott! Wenn Du den erdrückenden Überfluss nutzloser Nahrungsmittel