H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
Notwendigkeit, »der täglichen Besucherei und dem Herumsitzen im Café«, zu denen ihn seine zahlreichen Freunde immer wieder verführten, ein Ende zu machen. Er war sich nur allzu bewusst, dass ein solches Dasein »tödlich für jedes persönliche intellektuelle Leben und jede kreative Leistung« war.55 Lovecraft gewöhnte sich an, sich zum Lesen in sein »Ankleidezimmer« im Alkoven zurückzuziehen und das Licht im Wohn- und Arbeitszimmer auszuschalten, damit es aussah, als sei er nicht zu Hause. Oft genug war dieser Täuschungsversuch jedoch erfolglos: Lovecraft und Kirk hatten eine Methode entwickelt, sich durch Klopfen gegen die Heizungsrohre zu verständigen, und da Kirk inzwischen Lovecrafts Tagesabläufe kannte, musste dieser seinen Signalen antworten. Gleichzeitig entwickelte Lovecraft die Strategie, Besucher im Bademantel, mit ungemachtem Bett und umgeben von verstreuten Papieren und Manuskripten zu empfangen, um zu verhindern, dass sie sich bei ihm häuslich einrichteten. An den wöchentlichen Treffen der »Gang« nahm er jedoch weiterhin gewissenhaft teil, sowohl um seine Freunde nicht zu enttäuschen als auch weil er diese Zusammenkünfte wirklich genoss.
Am 20. Mai unterrichtete Lovecraft seine Tante Lillian brieflich von dem Entschluss, seiner »Bohèmeexistenz« ein Ende zu setzen. Der Einbruch am 25. Mai bestärkte ihn in gewissem Sinne darin, wenn auch nur, weil er jetzt nur noch einen annehmbaren Anzug besaß und diesen schonen musste. Doch wenn man seinem Tagebuch Glauben schenkt, dann wurde Lovecraft schon nach einem Monat rückfällig und nahm seine Streifzüge mit der »Gang« wieder auf.
Auch der Amateurjournalismus nahm Lovecrafts Zeit in Beschlag. Da die UAPA im Vorjahr weder einen Kongress noch Vorstandswahlen durchgeführt hatte, amtierte der bestehende Vorstand weiter, sodass Lovecraft noch immer den Posten des Official Editor bekleidete. Während Sonias ausgedehntem Aufenthalt im Juni und Juli stellte Lovecraft eine Ausgabe des UNITED AMATEUR für Juli 1925 zusammen – die einzige Nummer des offiziellen Organs, die in der Amtsperiode 1924–25 erschien. Lovecraft wusste wohl, dass dies sein Abschied von der UAPA war – und zugleich sein Abschied vom organisierten Amateurjournalismus, bis er Anfang der 1930er-Jahre wieder in die Angelegenheiten der NAPA hineingezogen wurde –, und er hatte vor, einen stilvollen Abgang hinzulegen. Vom 4. bis 6. Juni schrieb er den inhaltlich dünnen, aber schmeichelhaften Artikel »The Poetry of John Ravenor Bullen« über den anglo-kanadischen Dichter und Romancier, der allerdings erst im UNITED AMATEUR für September 1925 erschien.
Der UNITED AMATEUR für Juli 1925 wurde fast vollständig mit Beiträgen der »Gang« bestritten: Clark Ashton Smiths Gedicht »Apologia«, ein kurzer Artikel von Long über die Dichtung Samuel Lovemans, eine Besprechung von zwei Gedichtbänden von Smith aus der Feder von Alfred Galpin unter dem Titel »Pirates and Hamadryades«, zwei Gedichte von Long, von denen das eine, »A Man from Genoa«, Longs im folgenden Jahr erscheinendem Gedichtband seinen Titel geben sollte, Samuel Lovemans fein ziselierte Kurzerzählung »The One who Found Pity« und die üblichen, von Lovecraft verfassten »News Notes«, ein »Editorial«, ebenfalls von Lovecraft, und eine »President’s Message« aus der Feder von Sonia.
In gewisser Hinsicht ist die »President’s Message« der interessanteste Beitrag der gesamten Nummer, da Sonia in ihm offen über ihre persönliche Situation und ihre Schwierigkeiten im letzten Jahr spricht:
Pflichten von unerwartetem Ausmaß außerhalb des Amateurjournalismus und gesundheitliche Probleme, die ihren Höhepunkt in meinem Aufenthalt im Brooklyn Hospital im Herbst fanden, hinderten mich im Sommer 1924 vollständig daran, mich der amateurjournalistischen Arbeit zu widmen. Die Nachwirkungen dieser verhängnisvollen Zeit waren zu tiefgreifend, um im restlichen Jahr wieder wettgemacht zu werden, insbesondere da meine Energie und freie Zeit seither äußerst eingeschränkt waren.
Sowohl Sonia als auch Lovecraft beklagen die Apathie, die den gesamten Amateurjournalismus befallen hat. Beide erwähnen die häufigen Diskussionen darüber, UAPA und NAPA zu einer Organisation zu vereinigen, um die Amateurbewegung als Ganzes zu retten. Sie stimmen jedoch darin überein, dass dies nur ein letzter Ausweg sein kann und die UAPA, wenn irgend möglich, als eigenständige Organisation erhalten bleiben sollte. Zu diesem Zweck rief Sonia für den 15. Juli zur Briefwahl eines neuen Vorstands auf. Lovecraft berichtet seiner Tante Lillian, dass er am 3. Juli zweihundert Wahlzettel faltete, in Umschläge steckte und zur Post brachte.56
Im Ergebnis wurde Edgar J. Davis zum Präsidenten, Paul Livingston Keil zum Vizepräsidenten und Grace M. Bromley zur zweiten Vizepräsidentin gewählt. Davis ernannte Victor E. Bacon zum Official Editor und Frank Long zum Leiter des Department of Public Criticism. In einem Brief an Maurice W. Moe gibt Lovecraft seiner Hoffnung Ausdruck, dass es Davis und Bacon irgendwie gelingen könnte, das Ruder herumzureißen:
Glauben Sie nicht, dass die United mit zwei solchen Cherubim an ihrer Spitze eine gewisse Chance auf einen Wiederaufstieg hat? Mit Davis’ Verstand & Bacons ruhelosem Egoismus & Energie, die diesen Verstand zur Tätigkeit zwingen, haben wir doch wohl ein Team, dessen Möglichkeiten nicht zu verachten sind … Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass es Bacon gelingt, genügend »Überlebende« aufzuwecken & um sich zu scharen, um den Verfallserscheinungen des Zeitalters zu widerstehen … sodass wir es noch ein oder zwei Jahre aufschieben können, den Bestatter zu rufen.57
In den nächsten Monaten unternahm Lovecraft einiges, um die Arbeit des neuen Vorstands in Gang zu bringen. Der Erfolg war allerdings mäßig: 1925–26 erschienen einige dünne Ausgaben des UNITED AMATEUR, doch wurden 1926 keine Vorstandswahlen mehr abgehalten, womit die United definitiv am Ende war. Ich habe keinen Überblick, wie viele Amateurzeitschriften in diesem letzten Jahr der Organisation noch herausgegeben wurden. Sicher ist, dass Lovecraft keinerlei Ambitionen hatte, seinen CONSERVATIVE wiederzubeleben, selbst wenn er die finanziellen Möglichkeiten dazu gehabt hätte.
Während Sonias langem Aufenthalt in New York im Juni und Juli unternahmen die Eheleute eine Reihe von Ausflügen. Am 13. Juni besuchten sie den Scott Park in Elizabeth. Am 28. fuhren sie nach Bryn Mawr Park in Yonkers, dem Ort ihres kurzlebigen Hausbauprojekts vom Vorjahr. In Lovecrafts Briefen an seine Tanten findet sich nichts über diesen Ausflug oder seinen Zweck. In seinem Tagebuch notiert er lakonisch »Zauber noch da«. Gemeinsam mit Frank Long besuchte Lovecraft ein weiteres Mal The Cloisters an der Nordwestspitze von Manhattan.
Am 2. Juli unternahmen Sonia und Lovecraft einen Ausflug nach Coney Island, wo Lovecraft zum ersten Mal in seinem Leben Zuckerwatte aß. Sonia ließ dort von einem Afroamerikaner namens Perry einen Scherenschnitt von sich anfertigen. Lovecraft hatte dies bereits am 26. März getan. Dieser Scherenschnitt ist durch seine getreue und vielleicht sogar etwas schmeichelhafte Wiedergabe von Lovecrafts Profil zu einer regelrechten Ikone geworden. Dass es ebenfalls einen Scherenschnitt von Sonia gibt, wissen jedoch nur die wenigsten.
Am 16. Juli machte das Paar eine Wanderung zu den New Jersey Palisades, der bewaldeten, hügeligen Gegend, die direkt gegenüber von Nord-Manhattan jenseits des Hudson River liegt. Lovecraft war von der Landschaft hingerissen:
… wir begannen den Aufstieg entlang des majestätischen Felssturzes auf einem Serpentinenweg, der zum Teil entlang der Landstraße führte, zum Teil als Fußpfad durch das grüne Zwielicht waldiger Steilhänge & dann wieder als Steinstufen, die an einer Stelle als Tunnel unter der Straße hindurchführten. Vom Kamm aus, den wir in einer halben Stunde erreichten, hat man den großartigsten Blick über den Hudson & sein Ostufer & wir wanderten auf der Höhe weiter – durch Waldstücke, Wiesen und vorbei an Schluchten, die von den vorspringenden Felsen des Hochplateaus überragt wurden.58
Lovecraft las abwechselnd Haldemann-Julius-Bändchen – preiswerte Klassikerausgaben für 5 Cent – und Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Mittags aßen die beiden mit Zunge und Käse belegte Sandwiches und Pfirsiche, Eiscreme und Limonade, die sie an einem Kiosk kauften, und kehrten anschließend mit Fähre und Untergrundbahn nach Hause zurück.
Auch für das Kino teilten Lovecraft und Sonia eine Vorliebe. Vielleicht war Sonias Interesse an dieser Form der Unterhaltung größer, doch gelegentlich konnte Lovecraft einen regelrechten Enthusiasmus für Filme entwickeln, die seinem Geschmack entsprachen, wobei es sich zumeist um Historienstreifen oder Gruselfilme handelte – dem technischen Stand der Zeit entsprechend waren es natürlich Stummfilme. Im September berichtet Lovecraft, dass er The Phantom of the Opera gesehen hat: