H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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ich während des ersten Teils einige Male eingeschlafen bin. Dann begann der zweite Teil – das Grauen erhob sein grässliches Gesicht – & alle Opiate dieser Welt hätten mich nicht mehr in meinen schläfrigen Zustand zurückversetzen können! Uh!!! Das Gesicht, das zum Vorschein kam, als die Maske heruntergerissen wurde … & die entsetzliche Legion von Wesen, die nebelhaft neben & hinter dem Besitzer dieses Gesichts erschien, als der Mob ihn am Schluss in den Fluss jagte!59

      Lovecrafts Tagebuch vermerkt, dass er am 6. Oktober The Lost World – eine Verfilmung des Romans von Arthur Conan Doyle – ansah, aber in seiner Korrespondenz wird dieser durch seine Spezialeffekte und die Darstellung von Dinosauriern bemerkenswerte Film nicht erwähnt. Down to the Sea in Ships, einen faszinierenden Dokumentarfilm über die Walfangsaison in New Bedford, sah sich Lovecraft allein an: »Als exaktes & authentisches Zeugnis einer sterbenden, doch glanzvollen Phase amerikanischen Lebens & Abenteuers ist der ganze Film von unschätzbarem historischem Wert.«60

      Jetzt, wo Sonia nicht mehr in der Stadt war und Lovecraft seine amateurjournalistischen Verpflichtungen erledigt hatte, war für ihn die Zeit gekommen, sich wieder echter literarischer Arbeit zuzuwenden. Am 1. und 2. August schrieb er »The Horror at Red Hook«. In einem Brief an Long – der zu dieser Zeit im Urlaub war – charakterisiert er die Erzählung: »Sie handelt von entsetzlichen kultischen Praktiken, die sich hinter den Banden lärmender junger Müßiggänger verbergen, deren geheimnisvolles Wesen mich so beeindruckt hat. Die Geschichte ist ziemlich lang und weitschweifig, und ich glaube, sie ist nicht sehr gut. Aber sie ist zumindest ein Versuch, Grauen aus einer Atmosphäre zu extrahieren, in der Sie nur allergewöhnlichste Alltäglichkeit sehen.«61 Was die literarische Qualität der Erzählung angeht, ist Lovecrafts eigene Einschätzung leider zutreffend. Es handelt sich um eine seiner schwächsten längeren Arbeiten.

      Red Hook ist eine kleine Halbinsel im Südwesten von Brooklyn gegenüber Governors Island, etwa zwei Meilen von Borough Hall entfernt. Von der Clinton Street 169 war das nur ein kurzer Fußweg, und in Lovecrafts Tagebuch findet sich am 8. März der lakonische Eintrag »Red Hook«, der eine Exkursion markiert, die er gemeinsam mit Rheinhart Kleiner dorthin unternahm. Red Hook war damals und bis in die 1990er-Jahre hinein eine der verrufensten Gegenden von New York. In der Erzählung charakterisiert Lovecraft das Viertel durchaus zutreffend, wenn auch mit einer gewissen zynischen Voreingenommenheit:

      Red Hook ist ein Irrgarten vermischten Unrats nahe dem alten Uferbezirk gegenüber von Governors Island, mit schmutzigen öffentlichen Straßen, die von den Werften aus die Anhöhe zu höher gelegenem Grund erklimmen, wo die verfallenen Teile der Clinton und Court Street nach Borough Hall abzweigen. Die Häuser sind meist aus Ziegeln und stammen aus dem ersten Viertel oder der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Einige der dunkleren Gassen und Seitenwege haben jene anziehende, alte Atmosphäre, welche die Literatur gewöhnlich »dickensianisch« nennt.

      Aber natürlich ist es nicht nur der materielle Zerfall, der ihn interessiert: »Die Bevölkerung ist ein hoffnungsloses Durcheinander und Rätsel: Syrische, spanische, italienische und negroide Bestandteile treffen aufeinander, und Fragmente skandinavischer und amerikanischer Viertel liegen nicht weit davon. Es ist ein Babel der Geräusche und des Schmutzes, das als Antwort auf das Schwappen der öligen Wogen an seinen schmutzigen Piers und die ungeheuren Orgellitaneien der Dampfpfeifen im Hafen seltsame Schreie aussendet.« Das ist im Wesentlichen der Kern der Geschichte: »The Horror at Red Hook« ist im Grunde nichts weiter als ein wütender Protestschrei gegen die »Fremden«, die New York seinen weißen Bewohnern weggenommen haben. Die Erwähnung von »Syrern« ist vielleicht durch einen von Lovecrafts Nachbarn in der Clinton Street 169 inspiriert, der ständig eine eigenwillige Musik spielte, die Lovecraft sonderbare Träume bescherte. Zwei Jahre später schrieb er rückblickend: »Eine Zeit lang bewohnte eine Syrer das Apartment neben meinem und spielte eine unheimliche und jammernde eintönige Musik auf einem seltsamen Dudelsack, die mich von monströsen und unglaublichen Dingen in Krypten unter Bagdad und den endlosen Gängen von Eblis unter den mondsüchtigen Ruinen von Istakhar träumen ließ.«62 Man sollte meinen, dass Lovecraft derartige kreative Impulse zu schätzen gewusst hätte, doch war dies offensichtlich nicht der Fall.

      Sonia berichtet in ihren Erinnerungen von einem Ereignis, das Lovecraft zu der Erzählung inspiriert habe: »Es war eines Abends, während er und – wenn ich mich recht erinnere – Morton, Sam Loveman und Rheinhart Kleiner in einem Restaurant irgendwo in Columbia Heights aßen, als eine Gruppe von lärmenden, rüpelhaften Männern hereinkam. Er war über ihr flegelhaftes Benehmen so empört, dass er aus diesem Erlebnis ›The Horror at Red Hook‹ spann.«63 Es ist gut möglich, dass Lovecraft Sonia gegenüber ein solches Erlebnis erwähnte, doch habe ich gewisse Zweifel daran, dass die Erzählung auf ein einzelnes Ereignis zurückgeht. Sie scheint vielmehr die wachsende Niedergeschlagenheit Lovecrafts nach eineinhalb Jahren der Armut und der vergeblichen Bemühungen um Arbeit widerzuspiegeln.

      Die Handlung von »The Horror at Red Hook« ist schnell erzählt. Lovecraft präsentiert sie als elementaren Konflikt zwischen Gut und Böse, verkörpert in den Gestalten von Thomas Malone, einem irischen Polizeidetektiv, der in der Borough-Hall-Polizeistation von Brooklyn arbeitet, und Robert Suydam, einem exzentrischen älteren Mann aus einer ehrwürdigen niederländischen Familie, der im Mittelpunkt der grauenhaften Ereignisse steht. Suydam, der als »ausgezeichneter Kenner mittelalterlichen Aberglaubens« gilt, fällt zunächst dadurch auf, dass er »sich auf den Bänken um Borough Hall herumdrückte und sich mit Gruppen dunkelhäutiger, übelaussehender Fremder unterhielt«. Mit der Zeit wird Suydam jedoch klar, dass er für seine heimlichen Aktivitäten eine Fassade gesellschaftlicher Wohlanständigkeit benötigt. Also legt er seinen merkwürdigen Habitus ab, vereitelt die Versuche seiner Verwandten, ihn für unmündig zu erklären, und verlobt sich mit »einer jungen Dame in hervorragender Lebensstellung«, Cornelia Gerritsen. Ihre Hochzeit versammelt »eine gedrängte Seite aus dem Handbuch der guten Gesellschaft«. All das wirkt zunächst wie eine – von Lovecraft in keiner Weise beabsichtigte – zynische Satire auf die Absurdität von Klassenunterschieden. Die Hochzeitsfeier, die an Bord eines Dampfschiffes, das am Cunard Pier vor Anker liegt, abgehalten wird, nimmt jedoch ein schreckliches Ende: Das Hochzeitspaar wird auf schreckliche Weise ermordet und völlig ausgeblutet aufgefunden. In einer ziemlich dubiosen Wendung wird Suydams Leichnam, aufgrund von Anweisungen, die von ihm unterzeichnet sind, von den Behörden einer verdächtigen Gruppe von Männern übergeben, die von »einem Araber mit scheußlich negroidem Mund« angeführt wird.

      Von nun an versinkt die Geschichte immer weiter in den Niederungen des Pulp, und der Leser findet sich in der Krypta einer abbruchreifen Kirche, die zum Tanzlokal umfunktioniert wurde, wo abscheuliche halbmenschliche Wesen schreckliche Riten zu Ehren der Göttin Lilith vollziehen. Suydams Leichnam, der auf wundersame Weise wieder zum Leben erwacht, widersetzt sich seiner Opferung am Altar der Göttin, den er stattdessen umstürzt, womit er – während er selbst »zu einem schmutzigen Verwesungsfleck« zusammensinkt – dem Grauen ein Ende setzt. Detektive Malone erlebt all dies als mehr oder weniger passiver Beobachter, ist jedoch schließlich von den Ereignissen, deren Zeuge er wird, so traumatisiert, dass er sich mehrere Monate in einem kleinen Dorf in Rhode Island erholen muss.

      Neben der Abgedroschenheit der übernatürlichen Elemente überrascht an der Geschichte am meisten, wie schlecht sie geschrieben ist. Die überhitzte Rhetorik, die in anderen Lovecraft-Erzählungen dem Leser ein unschuldiges Vergnügen bereitet, wirkt


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