H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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… Nach der Vorstellung kehrte ich nach Hause zurück, las & legte mich hin. Am nächsten Tag machte ich nach dem Aufstehen mein Zimmer für das Treffen der »Boys« am Abend sauber. Mortonius traf als Erster ein, dann folgten zeitgleich Kleiner & Loveman & schließlich Leeds. Sonny konnte nicht kommen, und Kirk entschuldigte sich per Telegramm aus New Haven. Die Stimmung war angeregt, aber Morton musste früh aufbrechen, um noch den letzten Zug nach Paterson zu erwischen – Loveman ging mit ihm zusammen. Als Nächster verabschiedete sich Kleiner – woraufhin Leeds & ich nach oben gingen, um uns Kirks Bücher & Bilder anzusehen. Leeds ging um drei Uhr morgens & ich schloss mich ihm für Kaffee & Aprikosenkuchen bei Johnson’s an. Dann nach Hause, las – legte mich hin – & ein neuer Tag.50

      Kirk beschreibt einen Abend mit Lovecraft später im April:

      HPL kam zu Besuch und las, während ich über einer Patience grübelte. Jetzt schläft er auf dem Sofa, vor ihm aufgeschlagen The Ghost Girl – kein Kompliment für Saltus51 … HPL wachte auf – sagte »Avernus!« und kehrte ins Nirvana zurück … gegen Mitternacht gingen wir in Tiffany’s Restaurant, wo ich einen wunderbaren Krabbensalat und Kaffee verzehrte, während H ein Stück Käsekuchen und zwei Tassen Kaffee hatte. Wir saßen 1 ½ Stunden bei unserer Mahlzeit und den Morgenzeitungen …52

      Anscheinend standen die Wohnungen der Mitglieder des Kalem Clubs den anderen Mitgliedern jederzeit offen. Für den 15. und 16. März gibt es einen merkwürdigen Eintrag in Lovecrafts Tagebuch, der auch durch Lovecrafts erhaltene Korrespondenz nicht erhellt wird. Nach einem Spaziergang entlang des Gowanus Expressway in der Nähe des East River gingen Lovecraft und Long zu Lovemans Apartment, und Lovecraft schreibt »trage FBL nach oben«. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Long betrunken war oder etwas Ähnliches. Vielleicht war er nach dem langen Spaziergang schlicht zu erschöpft, um die Treppen hinaufzusteigen.

      Am Abend des 11. April bestiegen Lovecraft und Kirk an der Pennsylvania Station gegen Mitternacht den Nachtzug nach Washington D. C. und kamen frühmorgens in der Hauptstadt an. Sie nutzten ein spezielles Angebot der Eisenbahngesellschaft, bei dem Hin- und Rückfahrt nur 5 Dollar kosteten, hatten dadurch jedoch nur bis nachmittags Zeit, die Stadt zu besichtigen. Sie versuchten, das Beste daraus zu machen. Es gab in Washington zwei Amateurkollegen, die ihnen als Fremdenführer dienten: Anne Tillery Renshaw und Edward L. Sechrist. Renshaw hatte Lovecraft und Kirk zuvorkommenderweise angeboten, sie so weit wie möglich in ihrem Auto herumzufahren. Zunächst besichtigten Lovecraft, Kirk und Sechrist jedoch zu Fuß die Sehenswürdigkeiten im Stadtzentrum: die Library of Congress, die Lovecraft nicht besonders beeindruckte, das Kapitol, das er weniger imposant fand als das State Capitol von Rhode Island mit seiner Marmorkuppel, das Weiße Haus, das Washington Monument, das Lincoln Memorial und weitere historische Bauten. Anschließend fuhr Renshaw sie nach Georgetown, der heute zu Washington gehörenden Kolonialstadt, 1751 gegründet – Jahrzehnte bevor die zukünftige Hauptstadt geplant oder gebaut war. Lovecraft war angetan von der Vielfalt an Häusern aus der Gründungszeit der Stadt. Dann überquerte die Reisegesellschaft die Key Memorial Bridge nach Virginia und fuhr durch Arlington und Alexandria, wo sie neben anderen historischen Gebäuden die exquisite Christ Church (1772–73) besichtigten, in der George Washington den Gottesdienst zu besuchen pflegte. Anschließend fuhren sie weiter zu Washingtons Landsitz, Mount Vernon, der allerdings sonntags geschlossen war. Nach Arlington zurückgekehrt, besichtigten sie das gleichnamige Anwesen der Custis-Familie und erkundeten den Soldatenfriedhof, insbesondere das riesige, 1920 fertiggestellte Amphitheater, das Lovecraft als »einen der außerordentlichsten und spektakulärsten architektonischen Triumphe der westlichen Welt« bezeichnete.53 Es erstaunt nicht, dass sowohl die antike Anmutung – das Amphitheater wurde nach dem Vorbild des Dionysos-Theaters in Athen erbaut – als auch die gewaltige Größe des Bauwerks – es misst fast 3.200 Quadratmeter – Lovecraft begeisterten. Danach kehrten sie nach Washington zurück, wo sie sich unter anderem noch das Brick Capitol (1815) und das Gebäude des Supreme Court ansahen, bevor sie den 4-Uhr-35-Zug zurück nach New York nahmen, den sie gerade noch rechtzeitig erreichten.

      Etwa Mitte Mai 1925 herum scheint diese endlose Folge geselliger Aktivitäten für Lovecraft schließlich ermüdend geworden zu sein. Während der ersten vier Monate des Jahres hatte seine kreative Arbeit praktisch brachgelegen. Das Einzige, was er in dieser Zeit literarisch zu Papier gebracht hatte, waren fünf Gedichte gewesen, von denen zwei – »My Favourite Character« (31. Januar) und »Primavera« (27. März) – anlässlich von Treffen des Blue Pencil Club entstanden waren, bei denen die Mitglieder die Aufgabe bekommen hatten, Texte zu einem vorgegebenen Thema zu verfassen. »My Favourite Character« ist ein witziges, harmloses Gedicht, das zunächst einen humoristischen Überblick über verschiedene Arten fiktionaler Charaktere gibt, von den kanonischen Klassikern der Schullektüre (»Esmond, D. Copperfield, or Hiawatha, / Or anything from some nice highschool author«) bis zu den gewagteren (»Jurgen, Clerk Nicholas, Boccaccio’s misses, / And sundry things of Joyce’s, from Ulysses«), ohne dabei die Lieblingsgestalten seiner Kindheit zu vergessen (»Boyhood’s own idols, whom the sages hear not – / Frank Merriwell, Nick Carter, and Fred Fearnot!«), um dann zu dem Schluss zu kommen:

      Now as for me, I am no man of learning

      To know just what I like and why I like it;

      Letters and hist’ry set my poor head turning

      Till not a choice can permanently strike it!

      My fav’rite? Fie on printed information—

      Wenn man bedenkt, dass Lovecraft heute tatsächlich selbst zu einer literarischen Figur geworden ist, dann klingen die beiden letzten Zeilen geradezu wie eine Vorahnung. »Primavera« hingegen ist ein nachdenkliches Naturgedicht, das in der nicht-menschlichen Welt sowohl Schönheit als auch Schrecken entdeckt:

      There are whispers from groves auroral

      To blood half-afraid to hear,

      While the evening star’s faint choral

      Is an ecstasy touch’d with fear.

      And at night where the hill-wraiths rally

      Glows the far Walpurgis flame,

      Which the lonely swain in the valley

      Von den drei anderen Gedichten sind zwei künstlerisch nicht weiter erwähnenswert: Das eine ist Lovecrafts jährliches Geburtstagsgedicht für Jonathan E. Hoag, das er dieses Jahr gerade einen Tag vor Hoags Geburtstag am 10. Februar verfasste. Das zweite ist ein ebenfalls recht leichtgewichtiges Geburtstagsgedicht für Sonia: »To Xanthippe«. Sonia erklärt die Herkunft dieses Spitznamens: »Die Bezeichnung ›Sokrates und Xanthippe‹ brachte ich in unsere Korrespondenz ein, als diese mit der Zeit persönlicher wurde. Ich meinte in Howard sokratische Weisheit und Genie zu erkennen – oder schrieb ihm diese zumindest zu – und machte mir dementsprechend in scherzhafter Weise die Rolle der Xanthippe zu eigen.«54 Da die Überlieferung bekanntlich kein allzu positives Bild von der antiken Xanthippe zeichnet, bewies Sonia mit dieser Wahl entweder beträchtliche Selbstironie oder eine gewisse Naivität.

      Das letzte Gedicht, »The Cats« vom 15. Februar, ist von einem ganz anderen Kaliber. Diese dämonische Beschwörung in sechs Strophen ist eines von Lovecrafts wirkungsvollsten unheimlich-phantastischen Gedichten – eine wilde, unkontrollierte Tour de Force, die das ganze schauerliche Geheimnis dieser Tierart effektvoll in Szene setzt:

      Legions of cats from the alleys nocturnal,

      Howling and lean in the glare of the moon,

      Screaming the future with mouthings infernal,

      Was bei allen fünf Gedichten positiv auffällt, ist, dass Lovecraft völlig auf den stereotypen heroischen Paarreim verzichtet.

      Sie


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