H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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als das Wetter kälter wurde, entschloss er sich, einen Anzug aus schwererem Stoff für den Winter zu kaufen. Er war sich bewusst, dass es sich um ein schwierigeres Unterfangen handelte, da gute Winteranzüge im Herbst kaum zu reduzierten Preisen zu haben sind. Außerdem hatte Lovecraft zwei zwingende Anforderungen an einen Anzug: Der Stoff durfte nicht gemustert sein, und es musste sich um einen Anzug mit drei Knöpfen handeln. Zu seiner Bestürzung fand er auf seinen beschwerlichen Streifzügen heraus, dass »in Zeiten wohlgeheizter Wohnungen Anzüge nicht mehr aus denselben schweren Stoffen gemacht sind wie früher … sodass das unglückliche Opfer eines Hauswesens, in dem zwar die Familie Burns heißt, die Öfen jedoch zumeist kalt bleiben, buchstäblich in der Kälte steht!«43 Die Stoffe der Anzüge, die Lovecraft sich bei Monroe Clothes und in anderen Geschäften ansah, waren kaum schwerer als die seines Sommeranzugs. Und Anzüge ohne Muster mit drei Knöpfen waren schlicht nicht zu finden. Lovecraft hatte gelernt, Stoff und Schnitt eines Anzugs genau unter die Lupe zu nehmen: »Alles unter 35 Dollar war entweder dünn & lappig oder zu sportlich geschnitten oder unschön gemustert oder entsetzlich gewebt und verarbeitet … die Stoffe scheinen entweder mit einer stumpfen Axt bearbeitet worden zu sein oder von einem Blinden mit einer rostigen Schere!«44

      Schließlich fand Lovecraft bei Borough Clothiers in der Fulton Street doch noch genau das, was er suchte – abgesehen davon, dass die Anzugjacke nur zwei Knöpfe hatte. Lovecraft verhandelte geschickt mit dem Verkäufer: Er gab vor, dass er sich nur einen Übergangs-Anzug kaufen wollte, bis er sich einen besseren anschaffen konnte, womit er andeutete, dass er vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt einen weiteren Anzug kaufen würde – wobei natürlich keine Rede davon war, dass es noch über ein Jahr dauern könnte, bis es so weit war. Der Verkäufer beriet sich mit seinem Vorgesetzten und zeigte Lovecraft einen teureren Anzug, setzte den Preis jedoch auf nur 25 Dollar herab. Lovecraft probierte den Anzug an und »war überaus entzückt«, zögerte jedoch wegen des fehlenden dritten Knopfes. Er bat den Verkäufer, den Anzug für ihn zurückzulegen, während er sich noch in weiteren Geschäften umsah. Der Verkäufer meinte, dass er kaum ein besseres Angebot finden werde, und nachdem Lovecraft sich noch in einigen weiteren Läden umgeschaut hatte, kehrte er zu Borough Clothiers zurück und kaufte den Anzug für 25 Dollar.

      In dem langen Brief, in dem Lovecraft seiner Tante Lillian von der Episode berichtet, findet sich mehr als ein Hinweis darauf, dass die Anzugfrage für Lovecraft geradezu den Charakter einer Obsession angenommen hatte. Die ständige Betonung des Wunsches nach einem Anzug mit drei Knöpfen wirkt beinahe manisch, und als der Schneider, der später die erforderlichen Änderungen an dem Anzug vornahm, die Stoffreste – die Lovecraft seiner Tante schicken wollte, damit sie sich von der Güte des Materials überzeugen konnte – weggeworfen hatte, machte Lovecraft Anstalten, ihr die komplette Anzugjacke per Expresspost zu schicken. Lillian lehnte dieses Ansinnen offenbar ab, woraufhin Lovecraft mit der folgenden Klage antwortete:

      … aber wie zum Teufel willst Du Dir dann eine Vorstellung davon machen, was ich ergattert habe? Es geht ja gerade darum, dass ich Dir die Webart des Stoffes zeigen will – die glatte, aber nicht steife Oberfläche, die vornehme Mischung eines ungemusterten Gewebes, in dem sich helle & dunkelgraue Fäden auf aristokratische Weise zu einem einheitlichen Ganzen verbinden, in dem die Unruhe des »Pfeffer-&-Salz-Effekts« nur von ferne angedeutet wird, insofern das Auge schwankt, ob der Stoff schwarz, dunkelblau oder von sehr dunklem Grau ist.45

      Lovecraft gewöhnte sich an, den Anzug liebevoll »den Triumph« zu nennen. Doch schnell wurde ihm klar, dass er zusätzlich noch einen billigeren Winteranzug kaufen musste, um den guten nicht vorzeitig aufzutragen, sodass er sich Ende Oktober erneut auf eine langwierige Suche nach einem Straßenanzug für weniger als 15 Dollar machte. Lovecraft sah sich zunächst in den Geschäften an der 14. Straße zwischen der 6. und 7. Straße in Manhattan um – damals wie heute die erste Adresse für preiswerte Bekleidung im Stadtzentrum. Nachdem er »ein Dutzend mehr oder weniger unmögliche Anzugjacken« anprobiert hatte, fand er einen »schlaffen Fetzen, zerknittert, staubig, faltig und ungebügelt«, erkannte aber, »dass Schnitt, Stoff & Sitz gerade richtig waren«. Die Jacke wurde im Ausverkauf für 9,95 Dollar angeboten. Das Problem war jedoch, dass sich keine passende Hose fand, nur noch zwei, die zu kurz, und eine, die zu lang waren. Der Verkäufer versuchte, Lovecraft davon zu überzeugen, eine der kurzen Hosen zu nehmen, doch Lovecraft wollte die lange. Nach einigem Hin und Her überredete er den Verkäufer, ihm die Anzugjacke, die lange und eine der zu kurzen Hosen für 11,95 Dollar zu überlassen. Lovecraft hatte ziemlich geschickt verhandelt und ließ die Jacke und die Hosen am nächsten Tag von einem Schneider ändern. Auch von diesem Abenteuer berichtete Lovecraft seiner Tante Lillian in einem ausführlichen, ziemlich sarkastischen Brief, der in einer langen Tirade über das Thema Kleidung gipfelt:

      Ich glaube, mittlerweile kann ich im Großen und Ganzen den Unterschied zwischen dem erkennen, was ein Gentleman anziehen sollte & was nicht. Was diesen Sinn geschärft hat, ist der beständige Anblick des verfluchten dreckigen Gesindels, das die Straßen von N.Y. verstopft & dessen Kleidung sich so grundlegend von der normalen Kleidung wirklicher Menschen auf der Angell Street & in der Butler Avenue oder der Elmgrove Avenue unterscheidet, dass besagten Gentleman ein entsetzliches Heimweh überfällt & er verzweifelt nach anderen Gentlemen Ausschau hält, deren Kleidung sauber & geschmackvoll ist & eher an den Blackstone Boulevard als an Borough Hall und Hell’s Kitchen erinnert … Zur Hölle damit, entweder kleide ich mich mit Geschmack, wie ich es in Providence gelernt habe, oder ich laufe in einem verdammten Bademantel herum! Der Schnitt eines Revers, der Stoff & der Sitz eines Anzugs sprechen Bände. Es amüsiert mich, wie einige dieser schicken jungen Lackaffen & Ausländer ein Vermögen für alle möglichen teuren Kleidungsstücke ausgeben, die sie für den Höhepunkt des guten Geschmacks halten, die aber in Wirklichkeit ihr unwiderrufliches gesellschaftliches & ästhetisches Verdammungsurteil sind. Sie könnten sich genauso gut Plakate umhängen, auf denen in großen Buchstaben steht: »Ich bin ein ungebildeter Bauerntölpel«, »Ich bin eine bastardisierte Kanalratte«, »Ich komme aus der Provinz und habe keinen Geschmack.«

      Woraufhin er mit entwaffnender Naivität hinzufügt: »aber vielleicht ist diesen Geschöpfen gar nicht daran gelegen, in jeder Hinsicht dem ästhetischen Standard eines Gentlemans zu entsprechen.«46 Diese bemerkenswerte Passage, die einmal mehr von Lovecrafts Unfähigkeit zeugt, sich von den gesellschaftlichen Konventionen seiner Jugend zu lösen, endet mit einer anrührend persönlichen Note:

      In meinen besten Zeiten hätte ich mich nie derart über Kleidungsfragen aufgeregt, aber das Exil & das Alter lassen Kleinigkeiten wichtig werden. Angesichts meiner Empfindlichkeit in Hinsicht auf nachlässige & plebejische Kleidung & nach dem nervenaufreibenden Einbruch, der drohte, mich genau in jenen Zustand zu versetzen, den ich bei anderen verabscheue, musst Du zugeben, dass es naheliegend ist, dass Kleidungsfragen für mich zu einem »heiklen Thema« geworden sind – so lange bis ich wieder die vier Anzüge besitze, die notwendig sind, um sommers wie winters stets angemessen gekleidet zu sein.

      Doch nun besaß Lovecraft wieder seine vier Anzüge, und er musste sich nicht länger den Kopf über die Angelegenheit zerbrechen. Nicht alle seine Briefe aus dieser Zeit sind so manisch wie der vorstehende. Zumeist gelang es ihm, auch im Angesicht von Armut und Not seine gute Laune zu bewahren. Ende August bemerkt er über seine Schuhe, »die guten alten Regals stehen kurz vor einem atemberaubenden Zerfall«47 – um wenig später zu notieren, dass die neuen Regal-2021-Schuhe, die er Ende Oktober kaufte, beim folgenden Treffen des Kalem Club eine »echte Sensation« waren.48

      Keine Arbeit zu haben, bedeutete für Lovecraft zumindest, dass er sich jederzeit mit seinen Freunden treffen konnte und genug Freiraum hatte, um bescheidene Ausflüge zu unternehmen. In seinem Tagebuch und seinen Briefen finden sich zahlreiche Berichte über Exkursionen in den Van Cortlandt Park, den Greene Park, nach Yonkers und zu anderen Zielen in der Umgebung von New York. Er unternahm seine üblichen Touren durch die alten Teile von Greenwich Village und überquerte unzählige Male die Brooklyn Bridge. In seinen Briefen zeichnet er seinen Tagesablauf oft sehr detailliert auf. So schreibt er Anfang April an seine Tante Lillian:

      Wie verabredet ging ich zu den Longs, bekam ein exzellentes Mittagessen vorgesetzt, & er las mir eine ausgezeichnete neue Geschichte & ein neues Prosagedicht vor.


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