H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
dies laut Sonia zu einem guten Teil in der Absicht, Lovecraft von seinen Vorurteilen gegen Juden zu »heilen«, indem er einem von ihnen von Angesicht zu Angesicht begegnete. Sie fährt fort:
Leider beurteilt man oft ein ganzes Volk nach dem Eindruck der ersten Vertreter, denen man begegnet. Doch H. P. versicherte mir, dass er weitgehend »geheilt« war und dass wir, da ich mich der amerikanischen Lebensart und meinem amerikanischen Umfeld so gut angepasst hatte, mit Sicherheit eine harmonische Ehe führen würden. Doch leider (und hier muss ich von etwas sprechen, was ich nie an die Öffentlichkeit bringen wollte) war es so, dass er, wann immer er auf Menschenmengen stieß – in der Untergrundbahn oder um die Mittagszeit auf den Bürgersteigen am Broadway, oder wo auch immer er sonst in Menschenansammlungen geriet, und oft waren das Arbeiter, die ethnischen Minderheiten angehörten –, blass vor Zorn und Wut wurde.73
In einem Brief an Winfield Townley Scott kommt Sonia auf diese Bemerkung zurück:
Ich wiederhole noch einmal und schwöre feierlich, dass es die Wahrheit ist: Er wurde blass vor Wut, wenn er die zahlreichen fremdländisch aussehenden Menschen sah, denen er, insbesondere um die Mittagszeit, auf den Straßen von New York City begegnete. Ich versuchte seine Ausbrüche zu besänftigen, indem ich sagte: »Du musst sie ja nicht lieben. Aber sie so maßlos zu hassen, kann zu nichts Gutem führen.« Darauf antwortete er: »Es ist wichtiger zu wissen, was man hassen soll, als zu wissen, was man lieben soll.«74
Wiederum findet sich in diesen Äußerungen wenig Überraschendes. Nichtsdestotrotz wirkt Lovecrafts Haltung aus heutiger Perspektive abstoßend. In den Briefen an seine Tanten, die in dieser Zeit entstanden, fanden sich allerdings, anders als L Sprague de Camp behauptet, nur wenige Bemerkungen dieser Art. Berüchtigt ist Lovecrafts Bericht von einem Ausflug in den Pelham Bay Park, eine weitläufige Grünanlage im äußersten Nordosten der Bronx, den er am vierten Juli gemeinsam mit Sonia unternahm: »… wir hatten uns die ländliche Einsamkeit, die uns erwartete, in den leuchtendsten Farben ausgemalt. Aber dann kam die Endstation – & unsere Illusionen zerstoben. Bei Peter von Pegāna, was für ein Gedränge! Und das war noch nicht das Schlimmste … denn ich schwöre jeden heiligen Eid und will verdammt sein, wenn nicht drei von vier Leuten, nein, ganze neun von zehn – fette, stinkende, grinsende, plappernde Neger waren!«75 Sonia und Lovecraft beschlossen gemeinsam, so rasch wie möglich die Flucht zu ergreifen – möglicherweise war auch Sonia, zumindest zu dieser Zeit, nicht so frei von rassistischen Vorurteilen, wie sie es in ihren Erinnerungen suggeriert. In einem langen Brief von Anfang Januar lässt sich Lovecraft ausführlich darüber aus, dass es den Juden niemals gelingen könne, sich dem amerikanischen Leben wirklich zu assimilieren. »Jene Idealisten, die dem Glauben an eine unmögliche Verschmelzung Vorschub leisten, richten enormen Schaden an«, behauptet er, um dann fortzufahren: »Auf unserer Seite erregen die meisten semitischen Typen Schauder des Abscheus.«76 Damit stößt Lovecraft, zumindest was ihn selbst betrifft, unwillentlich zum Kern der Sache vor: Trotz allem hochtrabenden Gerede über Unassimilierbarkeit – was Lovecraft an den Fremden – oder besser gesagt Nicht-»Ariern«, denn viele Angehörige ethnischer Minderheiten in New York waren bereits in erster oder zweiter Generation gebürtige Amerikaner – vor allem störte, war die simple Tatsache, dass sie irgendwie merkwürdig aussahen.
Doch müssen an diesem Punkt auch einige Worte zu Lovecrafts Verteidigung gesagt werden. Zunächst ist festzustellen, dass diese anti-jüdische Tirade, die er seiner Tante Lillian schickte, in ihrer Ausführlichkeit und Vehemenz eine einmalige Sache in ihrer Korrespondenz war. Lillian scheint daraufhin befürchtet zu haben, dass ihr Neffe sich zu verbalen oder körperlichen Ausfällen gegen Juden oder Vertreter nicht-nordischer Ethnien hinreißen lassen könnte. Lovecraft schreibt ihr Ende März: »Übrigens – mach Dir keine Sorgen, dass meine nervöse Reaktion gegen das fremde Element in N. Y. mich zu Äußerungen verleitet, an denen jemand Anstoß nehmen könnte. Man hat ein Gefühl dafür, wann & wo man über gesellschaftliche oder ethnische Fragen sprechen kann & unsereins neigt nicht zu faux pas oder dazu, mit seiner Meinung hausieren zu gehen.«77
Es ist dieser letzte Punkt, auf dem Lovecrafts Fürsprecher eine ihrer Argumentationslinien aufbauen. Frank Long schreibt: »Während all dieser Gespräche und langen Wanderungen durch die Straßen von New York oder Providence hörte ich von ihm niemals irgendeine abfällige Bemerkung über Angehörige einer Minderheit.«78 Dies widerspricht scheinbar den Erinnerungen von Sonia, doch vielleicht hielt Lovecraft es schlicht nicht für klug, solche Ansichten in Gegenwart von Long zu äußern, auch wenn er in einem Brief von Anfang Januar an Lillian über diesen bemerkte:
Die einzig angemessene Gesellschaft für einen echten konservativen Amerikaner ist die Gesellschaft anderer echt konservativer Amerikaner – von guter Herkunft & in gesicherten Verhältnissen inmitten alter Traditionen aufgewachsen. Aus diesem Grund ist Belknap der Einzige aus der »Gang«, der bei mir nie für Irritationen sorgt. Er ist in diesem Sinne echt – er steht in einer Weise mit angeborenen Erinnerungen & meiner Providencer Lebensart in Verbindung, dass er mir wie eine reale Person vorkommt und nicht wie ein zweidimensionaler Schatten in einem Traum, wie es bei mehr bohèmehaften Persönlichkeiten der Fall ist.79
Ich bin mir nicht sicher, ob Long über dieses vorgebliche Kompliment glücklich gewesen wäre. Wie dem auch sei, es scheint, dass Lovecraft zumindest in Erwägung gezogen hat, nicht nur in brieflichen Tiraden gegen die »Fremden« vorzugehen. Sechs Jahre später bemerkt er rückblickend: »Die Bevölkerung von New York City ist eine bastardisierte Herde, in der abstoßende mongoloide Juden sichtbar die Mehrheit stellen. Die vulgären Gesichter und schlechten Manieren werden einem mit der Zeit so unerträglich, dass man Lust bekommt, jedem gottverdammten Bastard, der einem über den Weg läuft, die Fresse zu polieren.«80 Das Fehlen von Anhaltspunkten für ein manifest rassistisches Verhalten bei Lovecraft ist jedoch zentral für die Argumentation, die Dirk W. Mosig, dessen Forschungen in den 1970er-Jahren bahnbrechend für eine ernsthafte literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lovecrafts Werk waren, in einem Brief an Frank Long skizziert. Mosig führt drei »mildernde Umstände« für Lovecraft ins Feld: 1. »… der Begriff ›Rassist‹ hat heute einen Bedeutungsumfang, der sich stark von dem unterscheidet, den er im ersten Drittel des Jahrhunderts hatte.«; 2. »Wie jeden anderen auch sollten wir Lovecraft nach seinem Handeln beurteilen und nicht nach privaten Äußerungen, die nicht in der Absicht gemacht wurden, irgendjemanden zu verletzen«; 3. »HPL nahm gegenüber seinen verschiedenen Briefpartnern unterschiedliche Posen oder personae ein … Es scheint wahrscheinlich, dass er … sich seinen Tanten gegenüber so äußerte, wie sie es hören wollten, und dass einige seiner ›rassistischen‹ Äußerungen weniger tiefer Überzeugung entsprangen, sondern vielmehr dem Wunsch, sich den Auffassungen anderer anzupassen.«81
Ich befürchte, dass keines dieser Argumente wirklich stichhaltig ist. Natürlich hat der Begriff des Rassismus nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust eine düsterere Bedeutung angenommen, doch hinkte Lovecraft – wie ich später noch ausführlicher zeigen werde – mit seinen Auffassungen über die biologische Minderwertigkeit von Schwarzen, die Unmöglichkeit einer kulturellen Assimilation zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen und die rassische und kulturelle Homogenität von Ethnien und Nationen seiner Zeit schlicht hinterher. Der Prüfstein für Lovecrafts Überzeugungen sind nicht die Auffassungen des »Mannes von der Straße« – der damals wie heute oft mehr oder weniger offen rassistisch dachte –, sondern die Position der fortschrittlichen Intellektuellen seiner Zeit, die in diesen Fragen ganz andere Ansichten vertraten. Was das Argument angeht, dass das Handeln mehr zählt als private Äußerungen, so erscheint es mir als eine Binsenweisheit. Man kann Lovecraft nicht vom Vorwurf des Rassismus freisprechen, bloß weil er keinen Juden von Angesicht zu Angesicht beleidigt und keinen Schwarzen mit dem Baseballschläger traktiert hat. Für Mosigs dritten Punkt, dass Lovecraft nur schrieb, was seine Tanten lesen wollten, gilt im Grunde dieselbe Kritik. Auch wird er durch eine systematische Lektüre von Lovecrafts Korrespondenz widerlegt. Die lange Tirade gegen die Juden in Lovecrafts Brief vom Januar 1926 war keine Reaktion auf irgendetwas, das Lillian geschrieben hatte, sondern wurde durch einen Zeitungsausschnitt über die ethnische Abstammung Jesu ausgelöst, den ihm seine Tante geschickt hatte. Es ist zwar durchaus wahrscheinlich, dass Lillian und Annie als alteingesessene Yankees ähnliche Ansichten wie