H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
von New York regelmäßig an dessen Zusammenkünften teilzunehmen.
Ein weiterer neuer Bekannter, dem sich Lovecraft vielleicht noch seelenverwandter fühlte als Talman, war Vrest Teachout Orton (1897–1986). Orton war ein Freund W. Paul Cooks und arbeitete zu dieser Zeit in der Anzeigenabteilung des AMERICAN MERCURY. Später sollte er sich als Redakteur der SATURDAY REVIEW OF LITERATURE Verdienste erwerben und noch später den Vermont Country Store gründen. 1925 wohnte er in Yonkers, zog jedoch bald nach Lovecrafts Rückkehr nach Providence wieder ins heimatliche Vermont. Am 22. Dezember besuchte er Lovecraft in der Clinton Street 169, und die beiden Männer verbrachten den Nachmittag und Abend zusammen. Sie aßen in Lovecrafts Brooklyner Stammrestaurant, dem John’s, zu Abend und spazierten über die Brooklyn Bridge zur Grand Central Station, wo Orton um zwanzig vor zwölf einen Zug zurück nach Yonkers nahm. Lovecraft war enorm von ihm angetan:
Nie hat es einen liebenswürdigeren, fröhlicheren und anziehenderen Menschen gegeben als ihn. Von Gestalt ist er eher klein, dunkel, schlank, gutaussehend & einnehmend. Er ist glattrasiert & seine Kleidung ist gewählt, ohne bemüht zu wirken … Er bekannte, bereits seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert zu haben, sieht jedoch nicht älter als 22 oder 23 aus. Seine Stimme ist sanft & angenehm und seine Sprechweise lebhaft & maskulin – die sorglose Herzlichkeit eines jungen Weltmannes von guter Herkunft … Er stammt aus dem tiefsten Vermont und ist ein Yankee durch und durch. Er plant, in einem Jahr dorthin zurückzukehren & verabscheut New York genauso herzlich wie ich. Seine Familie ist durchweg aristokratisch – alter neuenglischer Adel väterlicherseits & neuenglische Knickerbocker-Holländer & französische Hugenotten mütterlicherseits.100
Man hat beinahe den Eindruck, als würde Lovecraft in Orton den Mann sehen, der er selbst gern gewesen wäre. Orton wurde zum zweiten Ehrenmitglied des Kalem Clubs, obwohl auch er, solange Lovecraft in New York war, nur unregelmäßig an dessen Zusammenkünften teilnahm. Orton war in bescheidenem Umfang literarisch aktiv – er stellte eine Theodore-Dreiser-Bibliographie mit dem Titel Dreiseriana (1929) zusammen, gründete die bibliophile Zeitschrift COLOPHON und später in Vermont die Stephen Daye Press, einen Verlag, für den Lovecraft einige Aufträge übernehmen sollte. An unheimlich-phantastischer Literatur scheint er jedoch kaum Interesse gehabt zu haben. Was beide Männer verband, war wohl eher ihre gemeinsame neuenglische Herkunft und ihre Abneigung gegen New York.
Neben den Aktivitäten mit seinen Freunden unternahm Lovecraft in der zweiten Jahreshälfte 1925 eine große Zahl einsamer Ausflüge. Nur drei Tage nach seiner nächtlichen Wanderung nach Elizabeth, bei der er »He« geschrieben hatte, kehrte Lovecraft in der Nacht vom 14. auf den 15. August dorthin zurück, wobei er diesmal seinen Fußmarsch bis nach Union Center (heute Union) und Springfield fortsetzte, zwei kleinen Städten einige Meilen nordwestlich von Elizabeth, und durch die Gemeinden Galloping Hill Park, Roselle Park und Raway zurückkehrte.101 Lovecraft hatte eine enorme Strecke zu Fuß zurückgelegt, doch war er unermüdlich, wenn es um die Suche nach Zeugnissen der Vergangenheit ging.
Am 30. August besuchte Lovecraft zum ersten Mal Paterson, wo er mit Morton, Kleiner und Ernest A. Dench an einer Wanderung des Paterson Rambling Club teilnahm. Sein Eindruck von der Stadt war wenig positiv:
Um die »Schönheit« der Stadt zu entdecken, muss man schon einen kräftigen Schuss Phantasie zu Hilfe nehmen – sie ist zweifellos einer der trostlosesten, heruntergekommensten und gesichtslosesten Orte, die ich je das zweifelhafte Vergnügen hatte zu besuchen … Das Stadtleben wird hauptsächlich von Yankees & Deutschen bestimmt, obwohl die Physiognomien des abstoßenden Pöbels, der in den Fabriken arbeitet, auf ein bastardisiertes italienisches und slawisches Element hindeuten … Es heißt, die Stadt habe schöne Parks, aber ich habe keinen davon gesehen. Das hässliche Fabrikviertel ist glücklicherweise außer Sicht, von der Stadt aus auf der anderen Seite des Flusses.102
Das eigentliche Ziel des Ausflugs waren jedoch die Wasserfälle von Buttermilk Falls, die Lovecraft für den Eindruck von Paterson entschädigten:
Es liegt etwas wunderbar Malerisches & eine unaussprechliche Majestät in einem solchen Schauspiel – die jäh abfallenden Klippen, der zerfurchte Fels, das klare Wasser des Stroms & die titanischen Stufen der Terrassen, die von dichtgedrängten schlanken Säulen aus unvordenklich altem Stein flankiert sind. Alles eingehüllt in das abgründige Schweigen & das magische grüne Zwielicht der tiefen Wälder, wo gedämpftes Sonnenlicht den laubbedeckten Boden sprenkelt & die großen knorrigen Baumstämme tausend subtile & flüchtige phantastische Formen annehmen lässt.
Einmal mehr legt Lovecraft eine ungeheure Sensibilität für jede Art landschaftlicher Eindrücke an den Tag – egal, ob es sich um Stadt oder Land, Vorstadt oder Wald, Insel oder Meer handelt. Nur sechs Tage später, am 5. September, unternahmen Lovecraft, Loveman und Kleiner eine nächtliche Erkundungstour in einen Teil von Brooklyn, der nicht weit von der Clinton Street 169 entfernt lag: Union Place, eine kleine Straße mit Kopfsteinpflaster, die heute nicht mehr existiert:
Nur von einem höckrigen Mond und einem einzelnen Laternenpfahl erhellt, der ein phantastisch flackerndes Licht warf, lag hinter jenem hölzernen Tunnel ein kleines Reich für sich – ein verträumtes Nest aus den 1850er-Jahren, wo um einen viereckigen Platz, in dessen Mitte sich ein kleines, von einem Eisengeländer umschlossenes Stück Park befand, die Häuser einer vergangenen Zeit mit ihren hohen Eingangstreppen standen, jedes in seinem von einem eisernen Zaun umschlossenen Hof mit einem Garten oder einem kleinen Stück Rasen & völlig unberührt von der ungeschickten Hand des barbarischen Restaurators. Wohltuendes Schweigen lag über allem & das äußere Universum verblasste, sowie es aus den Augen verschwunden war. Hier träumte die unberührte Vergangenheit – müßig, anmutig & ungestört, allem trotzend, was sich in der brodelnden Hölle des Lebens jenseits jenes schützenden Torbogens abspielen mochte.103
Manchmal findet sich eine Atempause vom Leben der Metropole dort, wo man sie am wenigsten erwartet: gleich nebenan.
Am 9. September unternahmen Lovecraft und Loveman gemeinsam mit der Familie Long eine Schiffstour auf dem Hudson nach Newburgh, etwa zwanzig Meilen nördlich von New York. Unterwegs passierten sie jene Region, der Washington Irving in »The Legend of Sleepy Hollow« und anderen Werken ein Denkmal gesetzt hat. In Newburgh – »wo Giebel aus der Kolonialzeit & gewundene Seitengassen für eine Atmosphäre sorgten, wie man sie außer in Marblehead kaum ein zweites Mal findet«104 –, hatten sie nur vierzig Minuten Aufenthalt, doch versuchten sie, so viel von der Stadt zu sehen wie möglich. Die Rückfahrt verlief ereignislos. Am 20. September unternahm Lovecraft gemeinsam mit Loveman einen Ausflug nach Elizabeth.
Lovecrafts wohl ausgedehnteste Tour dieser »Saison« war eine Exkursion nach Jamaica, Mineola, Hempstead, Garden City und Freeport auf Long Island, die sich über drei Tage hinzog. Jamaica gehört heute zu Queens, war damals jedoch noch eine eigenständige Gemeinde, die anderen Städte liegen in Nassau County, östlich von Queens. Am 27. September besuchte Lovecraft Jamaica und war »zutiefst erstaunt«: »Plötzlich befand ich mich mitten in einem veritablen neuenglischen Dorf mit hölzernen Kolonialzeithäusern, Georgianischen Kirchen & entzückend verschlafenen & schattigen Straßen, die von dichten und üppigen Reihen von riesigen Ulmen und Ahornbäumen gesäumt waren.«105
Danach wandte er sich nach Norden, in Richtung Flushing, das heute auch zu Queens gehört. Flushing war ursprünglich eine holländische Siedlung gewesen, die ebenfalls noch erfreuliche Züge der Kolonialzeit aufwies. Besonders ein Gebäude – das Bowne House (1661) an der Ecke Bowne Street und 37. Straße – wollte Lovecraft unbedingt besichtigen, und er musste eine ganze Reihe von Polizisten fragen – die »keine guten Geschichtskenntnisse hatten, denn keiner von ihnen hatte das Haus jemals gesehen oder auch nur von ihm gehört« –, bis er es endlich gefunden hatte. Allerdings geht aus seinen Aufzeichnungen nicht hervor, ob es ihm gelang, das Haus von innen zu sehen, da es damals wohl noch kein Museum war wie heute. Lovecraft blieb bis zur Abenddämmerung in Flushing und kehrte dann nach Hause zurück.
Am nächsten Tag fuhr er nochmals nach Flushing und Jamaica und besichtigte beide Orte ausführlicher. Der Tag seiner großen Long-Island-Tour war jedoch der 29. September. Lovecraft fuhr wiederum nach Jamaica, von wo aus er eine Straßenbahn nach Mineola