H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
Erzählungen, aber es handelt sich dabei um Ausnahmen. Auch unterscheidet er explizit das Genre der conte cruel von der genuinen unheimlichen Phantastik. Die conte cruel, so Lovecraft, ist dadurch charakterisiert, dass in ihr »mittels dramatischer Folterszenen, Enttäuschungen und grässlicher physischer Schrecken an der Nervenschraube gedreht wird«. Lovecraft selbst empfand durchaus Bewunderung für Autoren solcher ›grausamer Geschichten‹, wie Maurice Level, »dessen sehr kurze Episoden sich als so geeignet für eine Bühnenadaption in den ›Schockern‹ des Grand Guignol erwiesen haben«.131
Ein großer Teil der Texte, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten unter dem Etikett der unheimlich-phantastischen Literatur veröffentlicht worden sind, gehören eigentlich dem Genre des psychologischen Thrillers oder des »schwarzen Thrillers« oder des »schwarzen Kriminalromans« an, um andere, ebenso vage definierte Begriffe zu benutzen. Robert Blochs Psycho (1959), ohne Zweifel ein äußerst kompetent geschriebenes Buch, ist gewissermaßen die Blaupause für diese Richtung von Literatur. Viele von Blochs Nachfolgern – insbesondere solche, die auf die längst zum Klischee geronnene Figur des Serienmörders setzen – scheinen allerdings weder ein Gespür für die Eigenheiten der verschiedenen Genres noch für den ontologischen Status ihrer Themen zu haben. Gehen die Autoren solcher Werke von der These aus, dass »grässlicher physischer Schrecken« unter gewissen Umständen so extrem werden kann, dass er in etwas umschlägt, das emotional oder metaphysisch einem übernatürlichen Grauen gleichkommt? Wie unterscheiden sich solche Texte von bloßen Thrillern? Solange derartige Fragen nicht schlüssig beantwortet sind, behält Lovecrafts Definition der unheimlich-phantastischen Erzählung ihre Gültigkeit.
Lovecraft weist darauf hin, dass die Arbeit an »Supernatural Horror in Literature« zwei positive Nebeneffekte hatte. Zum einen sah er sie als eine »gute Vorbereitung dafür, selbst eine Reihe neuer unheimlich-phantastischer Geschichten zu verfassen«,132 und zum anderen schien sie ihm »eine hervorragende geistige Disziplinierung & eine schöne Trennlinie zwischen meiner ziellosen, verlorenen Existenz der vergangenen beiden Jahre & der Wiederaufnahme eines Einsiedlerlebens, wie ich es in Providence geführt habe, unter dessen Einfluss ich hoffe, mir ein paar Geschichten abzuringen, die es wert sind, geschrieben zu werden«.133 Allerdings war dies nicht das erste Mal, dass Lovecraft den Vorsatz fasste, das tägliche und nächtliche Herumstreunen mit der »Gang« aufzugeben und sich wieder ernsthafter Arbeit zuzuwenden. Da es für 1926 keine Tagebuchaufzeichnungen gibt, ist es schwierig einzuschätzen, inwieweit er mit seinem Vorsatz ernstmachte. Was seine Absicht betrifft, wieder literarisch aktiv zu werden, so setzte er diesen Ende Februar in die Tat um, indem er »Cool Air« verfasste.
»Cool Air« ist die letzte und wahrscheinlich beste von Lovecrafts New Yorker Geschichten und eine aufs äußerste verdichtete Darstellung reinen physischen Grauens. Der namenlose Erzähler hat sich »im Frühjahr 1923 irgendeine öde und schlechtbezahlte Arbeit für eine Zeitschrift an Land gezogen« und bezieht ein Zimmer in einer heruntergekommenen Pension. Unter den zwielichtigen Bewohnern dieser Bleibe sticht ein gewisser Dr. Muñoz hervor, ein kultivierter Mediziner im Ruhestand, der sich die Zeit mit chemischen Experimenten vertreibt und sich die Extravaganz leistet, seine Wohnung mithilfe eines Ammoniak-Kühlsystems bei einer Temperatur von 13 Grad Celsius zu halten. Der Erzähler ist von Dr. Muñoz’ Erscheinung überaus angetan:
Die Gestalt vor mir war klein, aber von erlesenen Proportionen und gekleidet in einen ziemlich förmlichen Anzug von perfektem Sitz und Schnitt. Ein kurzer eisengrauer Vollbart zierte ein vornehmes Gesicht mit zwar gebieterischem, aber nicht arrogantem Ausdruck, und ein altmodisches Pincenez schirmte die großen dunklen Augen und überragte eine Adlernase, die einer ansonsten überwiegend keltiberischen Physiognomie einen maurischen Anstrich verlieh. Dichtes, gutgeschnittenes Haar bezeugte die pünktlichen Besuche beim Friseur und lag anmutig gescheitelt über einer hohen Stirn; das Ganze war ein Bild hervorstechender Intelligenz und vortrefflicher Herkunft und Bildung.
Muñoz verkörpert offensichtlich Lovecrafts Idealtyp: jemanden, der zugleich der Aristokratie des Blutes und der Aristokratie des Geistes angehört, der auf seinem Gebiet hochgebildet ist, sich aber zugleich geschmackvoll zu kleiden weiß. Wie soll man hier nicht an Lovecrafts langatmige Tiraden nach dem Diebstahl seiner Anzüge denken? Der Leser soll also offenbar Sympathie für Muñoz empfinden, der seit achtzehn Jahren unter einer entsetzlichen ungenannten Krankheit zu leiden scheint, die ihn dazu zwingt, sich in einer Umgebung aufzuhalten, deren Temperatur 13 Grad Celsius nicht überschreiten darf. Als einige Wochen später das Ammoniakkühlsystem der Wohnung ausfällt, wird der Erzähler von dem verzweifelten Muñoz um Hilfe gebeten und versucht in höchster Eile, die Reparatur zu organisieren, während er gleichzeitig einen »abgerissenen Eckensteher« anheuert, um den Arzt mit Eis zu versorgen, welches dieser in immer größeren Mengen verlangt. Doch als der Erzähler schließlich mit zwei Mechanikern zurückkehrt, um die defekte Pumpe der Kühlung auszutauschen, ist es bereits zu spät, und er findet die Pension in hellem Aufruhr vor. Nachdem er die Tür von Doktor Muñoz’ Wohnung aufgebrochen hat, bietet sich ihm ein abscheulicher Anblick: »Eine Art dunkle Schleimspur führte von der offenen Badezimmertür zur Flurtür und von dort zum Schreibtisch, wo sich eine entsetzliche kleine Pfütze angesammelt hatte. Irgendetwas stand dort von furchtbarer, blinder Hand mit Bleistift hingekritzelt auf einem Stück Papier, das wie von ebenjenen Klauen, die die letzten hastigen Worte zogen, grässlich besudelt war. Dann führte die Spur zum Sofa und endete unsäglich.« Aus dem gefundenen Schriftstück geht hervor, dass Muñoz bereits vor achtzehn Jahren gestorben ist und seinem toten Körper nur durch künstliche Konservierung einen Anschein von Leben verliehen hat.
»Cool Air« wirft keine großen philosophischen Fragen auf, doch einige der grausigen Effekte in der Erzählung sind exquisit. Wenn Muñoz an einem Punkt der Geschichte einen Krampf erleidet und daraufhin »die Hände vor die Augen schlägt und im Badezimmer verschwindet«, begreift der Leser sofort, dass ihm durch die körperliche Erschütterung beinahe im buchstäblichen Sinne die Augen aus dem Kopf gesprungen wären. Die ganze Geschichte hat möglicherweise einen leicht komischen Unterton, so wenn Muñoz, der sich offenbar in eine eisgefüllte Badewanne zurückgezogen hat, durch die verschlossene Badezimmertür ruft: »Mehr – mehr!«
Lovecraft hat später behauptet, dass er die eigentliche Inspiration zu »Cool Air« nicht so sehr Poes »Facts in the Case of M. Valdemar« entnommen hat, sondern Machens »The Novel of the White Powder«,134 in der ein ahnungsloser Student unwissentlich eine Droge zu sich nimmt, die ihn zu einer »dunklen und fauligen Masse« zusammenfallen lässt, »die vor Fäulnis und ekelhafter Zersetzung brodelte, weder flüssig noch fest, sondern vor unseren Augen zusammenschmelzend und ihre Beschaffenheit verändernd und schleimige, ölige Blasen werfend wie kochender Teer«.135 Es lässt sich jedoch kaum bestreiten, dass Lovecraft, als er »Cool Air« verfasste, Poes Valdemar im Hinterkopf hatte, jenen Mann, der nach seinem vermeintlichen Tod monatelang durch Hypnose in einem lebensähnlichen Zustand gehalten wird, bis er sich schließlich in eine »nahezu flüssige Masse von ekelhafter, abscheuerregender Fäulnis« auflöst.136 Weit erfolgreicher als in »The Horror at Red Hook« gelingt es Lovecraft in »Cool Air«, den Schrecken zu beschwören, der sich in den lärmerfüllten Straßenschluchten von Nordamerikas einziger echter Megalopolis verbirgt.
Der Schauplatz der Erzählung ist dem Haus in der West 14th Street 317 in Manhattan nachempfunden, in dem George Kirk zu dieser Zeit wohnte und zugleich seine Buchhandlung, den Chelsea Book Shop, betrieb. Kirk war bereits im Juni 1925, nach nur fünf Monaten, aus der Clinton Street 169 ausgezogen und hatte sich zunächst bei seinem Partner Martin Kamin und dessen Frau in die West 115th Street 617 in Manhattan einquartiert. Nach einem kurzen Aufenthalt in seiner Heimatstadt Cleveland hatte er dann die Räume in der West 14th Street bezogen. Doch schon im Oktober zog Kirk mit seiner Buchhandlung in die West 15th Street 365 um.137
Lovecraft hatte also nur relativ wenig Zeit, sich mit dem Haus in der 14th Street vertraut zu machen, doch bereits kurz nachdem Kirk eingezogen war, gab er seiner Tante Lillian eine ausführliche Beschreibung der Wohnung:
… Kirk hat zwei enorme viktorianische Zimmer gemietet, die ihm gleichzeitig als Büro und Wohnung dienen … Es ist ein typisch viktorianisches Haus aus New Yorks »Zeit der Unschuld«, mit einem gefliesten Flur, geschwungenen Kaminsimsen aus Marmor,