H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
den anderen Kennzeichen von New Yorks Zeitalter des immensen Reichtums & unmöglichen Geschmacks. Kirks Zimmer sind die beiden großen Salons im Erdgeschoss, die von einem offenen Bogen verbunden werden. Nur im vorderen Zimmer gibt es zwei Fenster. Sie gehen auf die 14. Straße & haben den Nachteil, dass sie den gesamten babylonischen Lärm der großen Durchgangsstraße hereinlassen, mit ihrem Verkehrsgewühl & den unaufhörlichen Straßenbahnen.138
Der letzte Satz schlägt den Bogen zum Beginn von »Cool Air«: »Es ist ein Fehler, sich das Grauen als untrennbar mit Dunkelheit, Stille und Einsamkeit verwoben vorzustellen. Es begegnete mir am helllichten Nachmittag, im Getöse einer Metropole und inmitten des Gewimmels eines schäbigen und ganz gewöhnlichen Logierhauses …«
Selbst das in der Erzählung erwähnte Ammoniakkühlsystem hat einen autobiographischen Hintergrund. Im August 1925 berichtete Lillian Lovecraft von einem Theaterbesuch, den sie in Providence unternommen hatte, woraufhin dieser antwortete: »Schön, dass du der Albee Co. die Treue gehalten hast. Allerdings erstaunt es mich, zu erfahren, dass es im Theater heiß war. Sie haben ein hervorragendes Ammoniakkühlsystem installiert, & wenn sie es nicht anschalten, dann nur aus übertriebener Sparsamkeit.«139
Unerklärlicherweise lehnte Farnsworth Wright »Cool Air« ab, obwohl die Erzählung eigentlich genau die Art von konventioneller makabrer Geschichte ist, die seinem Geschmack entsprach. Vielleicht scheute er, wie schon im Falle von »In the Vault«, aufgrund des allzu grausigen Schlusses vor einer Veröffentlichung zurück. Lovecraft sah sich jedenfalls später gezwungen, die Erzählung gegen ein sehr geringes Honorar an die kurzlebige Zeitschrift TALES OF MAGIC AND MYSTERY zu verkaufen, wo sie im März 1928 erschien.
Sonias einziger Besuch in New York während der ersten drei Monate des Jahres 1926 dauerte etwa vom 15. Februar bis zum 5. März. Offensichtlich war dies der erste längere Zeitraum, den sie bei Halle’s freinehmen konnte. Am Tag ihrer Abreise berichtete Lovecraft, dass er sie erst im Juni wieder zurückerwartete, wenn mit ihrer Arbeit in dem Kaufhaus weiterhin alles so gut lief.140 Inzwischen gelang es auch Lovecraft endlich, sich einen Job zu verschaffen, der allerdings nur vorübergehend war und in keiner Weise seinen Fähigkeiten entsprach. Im September hatte Loveman eine Stelle in der renommierten Buchhandlung Dauber & Pine an der Ecke Fifth Avenue und 12th Street angetreten, und nun überredete er seine Vorgesetzten, Lovecraft für drei Wochen als Aushilfe zum Etikettieren von Briefumschlägen anzustellen. Lovecraft hatte im Vorjahr mehrfach Kirk bei dieser Aufgabe geholfen, wobei er allerdings umsonst gearbeitet hatte, um sich für die vielen Gefallen zu revanchieren, die Kirk ihm erwiesen hatte. Einige Male hatten die Mitglieder des Kalem-Clubs solche Massenbriefsendungen sogar gemeinsam vorbereitet, wobei sie plauderten und alte Lieder sangen und das Ganze zu einem amüsanten Ereignis machten. Die Arbeit bei Dauber & Pine begann vermutlich am 7. März, und die Bezahlung betrug 17,50 Dollar pro Woche. Lovecraft versuchte, die ganze Sache von der humorvollen Seite zu sehen: »Moriturus te saluto! Bevor ich mich endgültig in den Abgrund stürze, bringe ich meine gesamten Schulden bei der Menschheit in Ordnung & antworte kurz auf Deine geschätzte Nachricht …«141 Doch Sonia zeichnet in einem späteren Brief an Loveman ein anderes Bild: »Ich weiß, dass es Ihnen gelungen ist, H. P. L. für einige Wochen eine Arbeit zu besorgen, während ich in Cleveland war. Es ging darum, Kataloge für Dauber & Pine zu adressieren. Er arbeitete gerade einmal 2 Wochen für 17 Dollar die Woche und hasste den Job.«142 Ich glaube, dass Sonia sich täuscht, was die Dauer von Lovecrafts Arbeit angeht, da er tatsächlich zwischen dem 6. März und dem 27. März keine Briefe an seine Tante Lillian verfasste, aber mit ihrer Einschätzung seiner Reaktion auf die Arbeit hat sie wahrscheinlich recht, da ihm mechanische, repetitive Tätigkeiten dieser Art stets zuwider waren.
Seiner Tante gegenüber beklagte sich Lovecraft jedoch nicht. Vielleicht wollte er nicht den Eindruck erwecken, dass er sich zu fein sei, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Vielleicht waren für ihn am 27. März jedoch bereits ganz andere Dinge in den Vordergrund getreten. Der Brief, den er an diesem Tag an seine Tante Lillian richtete, begann:
Wahrhaftig!!! Alle deine Briefe sind angekommen & wurden mit Dankbarkeit aufgenommen. Der dritte jedoch bildete den Höhepunkt, der alles andere in den Hintergrund rückt!! Hip Hip Hurra! Ich musste sofort feiern gehen … & bin jetzt zurück, um mich weiter zu freuen & zu antworten. A. E. P. G.s Brief ist auch angekommen – ein wildes Freudenfest! …
Und jetzt zu eurer Einladung. Hurra!! Lang lebe der Bundesstaat Rhode Island & Providence-Plantations!!!143
Mit anderen Worten: Seine Tanten hatten Lovecraft eingeladen, nach Providence zurückzukommen.
Anmerkungen
1 »Tagebuch 1925«, Manuskript JHL.
2 In: HPL, COLLECTED ESSAYS Bd. 5, hrsg. v. S. T. Joshi, New York: Hippocampus Press 2006.
3 HPL an LDC, 13.–16. September 1922, Letters from New York, S. 24.
4 HPL an MWM, 15. Juni 1925, Letters from New York, S. 143.
5 HPL an LDC, 23.–24. September 1925 (Manuskript, JHL).
6 HPL an MWM, 15. Juni 1925, Letters from New York, S. 143.
7 HPL an LDC, 7. August 1925, Letters from New York, S. 164.
8 HPL an AEPG, 26. Februar 1925, Letters from New York, S. 114.
9 HPL an MWM, 15. Juni 1925, Letters from New York, S. 144.
10 HPL an LDC, 11. April 1925, Letters from New York, S. 119.
11 HPL an LDC, 28. Mai 1925, Letters from New York, S. 132.
12 HPL an LDC, 30.–31. Juli 1925, Letters from New York, S. 159.
13 HPL an LDC, 1. September 1925 (Manuskript, JHL).
14 HPL an LDC, 22. Oktober 1925, Letters from New York, S. 227.
15 HPL an LDC, 14.–19. November 1925 und 22.–23. Dezember 1925, Letters from New York, S. 247, 255.
16 Im Ergebnis bedeutet dies, dass Sonia im Jahr 1925 insgesamt 89 Tage in der Clinton Street 169 verbrachte: 11.–16. Januar; 3.–6. Februar; 23. Februar – 19. März; 8.–11. April; 2.–5. Mai; 9. Juni–24. Juli; 15.–20. August; 16.–17. September; 16.–18. Oktober.
17 HPL an LDC, 28. Mai 1925, Letters from New York, S. 133.
18 Die Titel der fünf Artikel lauten: »Beauty in Crystal« (über das »Steuben-Glas«, das von den Corning Glass Works in Corning, New York, hergestellt wurde); »The Charm of Fine Woodwork« (über die Möbelfabrik Curtis Companies in Clifton, Iowa); »Personality in Clocks« (über Standuhren, die von der Colonial Manufacturing Company in Zealand, Michigan, hergestellt wurden); »A Real Colonial Heritage« (über die »Danersk«-Möbel der Erskine-Danforth Corporation in New York City) und »A True Home of Literature« (über den Alexander Hamilton Bookshop in Paterson, New Jersey).
19 Sonia H. Davis, Brief an Samuel Loveman (1. Januar 1948), zitiert in Gerry de la Ree, »When Sonia Sizzled«, in: Talman, The Normal Lovecraft, S. 29.
20 W. Paul Cook, »In Memoriam«, in: Cannon, Lovecraft Remembered, S. 115.
21 HPL an LDC, 29. November 1924, Letters from New York, S. 102.
22 HPL an AEPG, 26. Februar 1925, Letters from New York, S. 113.
23 HPL an LDC, 11. April 1925, Letters from New York, S. 119.
24 HPL an LDC, 28.–30. September 1925, Letters from New York, S. 213.
25 Hart, »Walkers in the City«, S. 8.
26 RK, »After a Decade and the Kalem Club«, CALIFORNIAN 4, No. 2 (Herbst 1936), S. 47. Ein mehr oder weniger bewusstes Vorbild bei der Namenswahl könnte auch die 1905 gegründete Filmgesellschaft Kalem Company gewesen sein, deren Firmierung nach exakt dem gleichen Prinzip aus den Nachnamen ihrer Gründer George Kleine, Samuel Long und Frank Marion entstand (Vgl. Eric Rhode, A History of the Cinema from Its Origins to 1970