H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
man ehrlich Bilanz zieht, dann muss man zugeben, dass vieles in James’ Werk dünn und substanzlos ist: Im Gegensatz zu Machen, Dunsany, Blackwood und Lovecraft hatte James keine Vision von der Welt, der er Ausdruck verleihen wollte, und viele seiner Geschichten wirken letztlich wie Fingerübungen im Erzeugen von Gänsehaut. Lovecraft scheint James erstmals Mitte Dezember 1925 in der New York Public Library gelesen zu haben.120 Ende Januar hatte er bereits die ersten drei Sammlungen von James’ Erzählungen beendet und wandte sich dem gerade erschienenen Band A Warning to the Curious zu. Obwohl Lovecraft zunächst enthusiastisch war – »James Meisterschaft beim Erzeugen von Grauen ist beinahe unübertrefflich«121 –, kühlte seine Begeisterung später ab. Während er James in »Supernatural Horror in Literature« noch zu den »modernen Meistern« zählte, schrieb er 1932: »Er gehört nicht wirklich zur selben Klasse wie Machen, Blackwood & Dunsany. Er ist der irdischste von den ›großen Vier‹.«122
Der Aufbau von »Supernatural Horror in Literature« ist außergewöhnlich elegant. In der Einleitung skizziert Lovecraft seine persönliche Theorie der unheimlich-phantastischen Literatur. Die folgenden vier Kapitel behandeln unheimlich-phantastische Werke von der Antike bis zum Ausklang des Schauerromans im frühen 19. Jahrhundert. Ihnen schließt sich ein Überblick über die phantastische Literatur auf dem europäischen Kontinent an. Poe nimmt in diesem historischen Panorama einen zentralen Platz ein, und sein Einfluss auf nachfolgende Autoren scheint in den abschließenden drei Kapiteln immer wieder auf.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es bis zu diesem Zeitpunkt kaum eine kritisch-literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit unheimlich-phantastischer Literatur gegeben hatte. Ende November las Lovecraft Edith Birkheads The Tale of Terror (1921), eine wegweisende Studie über den Schauerroman, und obwohl August Derleth das Gegenteil behauptet hat,123 ist es offensichtlich, dass Lovecraft sich in seinen Kapiteln über das Thema in hohem Maße auf Birkhead stützt, sowohl, was die Struktur seiner Analyse, wie auch, was bestimmte Wertungen betrifft. Zusammen mit Saintsbury nennt Lovecraft Birkhead auch namentlich am Ende seines vierten Kapitels. Etwa zeitgleich mit Lovecrafts Essay erschien Eino Railos The Haunted Castle (1927), eine äußerst gründliche und treffsichere historische und thematische Studie, die Lovecraft sehr schätzte.
Die einzige umfassende Abhandlung, die sich mit der neueren unheimlich-phantastischen Literatur auseinandersetzte, war Dorothy Scarboroughs The Supernatural in Modern English Fiction (1917), die Lovecraft jedoch erst 1932 las. Dann allerdings kritisierte er Scarborough – zu Recht – als übermäßig schematisch in ihren thematischen Analysen und machte sich über ihre übermäßige Empfindlichkeit angesichts der handgreiflichen und erotisch aufgeladenen Schrecken von Autoren wie Stoker und Machen lustig. Dementsprechend liegt die eigentliche Bedeutung von Lovecrafts literaturgeschichtlichem Essay in den letzten sechs Kapiteln. Bis heute beschäftigt man sich im angloamerikanischen Raum kaum mit nicht-englischsprachiger unheimlich-phantastischer Literatur, und Lovecrafts Auseinandersetzung mit Schriftstellern wie Maupassant, Balzac, Erckmann-Chatrian, Gautier, Ewers und anderen ist wahrhaft eine Pionierleistung. Das ausführliche Kapitel über Poe ist in meinen Augen trotz seines flamboyanten Stils eine der klarsichtigsten Analysen des Werks dieses Autors, die es gibt. Für die Autoren des viktorianischen England brachte Lovecraft weniger Begeisterung auf, doch seine umfangreichen Auseinandersetzungen mit Hawthorne und Bierce im achten Kapitel sind in hohem Maße erhellend. Sein vielleicht größter Verdienst war jedoch, Machen, Dunsany, Blackwood und M. R. James als die vier »modernen Meister« der unheimlich-phantastischen Erzählung zu identifizieren, ein Urteil, das, trotz der Beckmessereien Edmund Wilsons und anderer Kritiker, von der späteren Literaturwissenschaft bestätigt wurde. Der einzige »Meister«, der auf dieser Liste fehlt, ist Lovecraft selbst.
An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, die Frage aufzuwerfen, wie vollständig Lovecrafts Überblick über die unheimlich-phantastische Literatur ist. Fred Lewis Pattees Urteil, dass Lovecraft »nichts Wichtiges ausgelassen hat«,124 ist nicht überall auf Zustimmung gestoßen. So bemängelte Peter Penzoldt, dass Oliver Onions und Robert Hitchens nicht einmal erwähnt werden,125 während Jack Sullivan Lovecraft vorwirft, das Werk von Le Fanu zu vernachlässigen.126 Nachdem ich vor kurzem Le Fanus weitschweifige und einfallslose Arbeiten noch einmal gelesen habe, fällt es mir jedoch schwer, Lovecraft diese Auslassung anzukreiden. Zwar trifft es zu, dass er, als er die erste Version seines Essays schrieb, Le Fanu nur dem Namen nach kannte, später las er jedoch den mittelmäßigen Roman The House by the Churchyard (1863), von dem er berechtigterweise keine hohe Meinung hatte. Der Teil von Le Fanus Werk, der überhaupt eine gewisse Aufmerksamkeit verdient, sind seine Kurzgeschichten und längeren Erzählungen, und diese waren Anfang des 20. Jahrhunderts kaum greifbar. Auch als Lovecraft 1932 Le Fanus Meistererzählung »Green Tea« in Dorothy L. Sayers’ Omnibus of Crime (1928) las, fühlte er sich nicht bemüßigt, seine Einschätzung grundsätzlich zu revidieren: »Endlich habe ich den ›Omnibus‹ & auch ›Green Tea‹ gelesen. Die Geschichte ist zweifellos besser als alles andere von Le Fanu, was ich je gelesen habe. Ich würde sie aber kaum auf die Poe-Blackwood-Machen-Stufe stellen.«127
Doch trotz der scharfsichtigen Einschätzung einzelner Autoren und der Sicherheit, mit der Lovecraft die geschichtliche Entwicklung des Genres skizziert – wobei man sich vor Augen führen muss, dass es sich um den allerersten literaturgeschichtlichen Überblick dieser Art handelte, da Scarboroughs Studie thematisch aufgebaut war –, ist der vielleicht bedeutendste Teil von »Supernatural Horror in Literature« das einleitende Kapitel. In ihm verteidigt Lovecraft das Unheimlich-Phantastische nicht nur als ernstzunehmende literarische Ausdrucksform, sondern umreißt auch eine kurzgefasste Theorie der unheimlich-phantastischen Erzählung, die eine Weiterentwicklung seiner Thesen aus früheren Schriften wie den In Defence of Dagon-Essays ist. Der ersten Frage wendet Lovecraft sich gleich im Eröffnungssatz zu, in dem er selbstbewusst erklärt: »Angst ist die älteste und stärkste Empfindung des Menschen, und die älteste und stärkste Angst ist die Furcht vor dem Unbekannten.« Diese »Tatsachen«, so fährt er fort, müssen »den Anspruch der unheimlichen Horrorgeschichte als ernsthafte literarische Gattung von Rang endgültig begründen«. Dann wendet er sich, nicht ohne Sarkasmus, dem Kampf zu, den das Unheimlich-Phantastische gegen »einen naiven und faden Idealismus« führt, »der das ästhetische Motiv verurteilt und nach einer belehrenden Literatur ruft, die den Leser auf ein angemessenes Niveau von einfältigem Optimismus erhebt«.128 Dies bringt ihn, wie schon in den In Defence of Dagon-Essays zu der Diagnose, dass die unheimlich-phantastische Literatur sich vor allem an »hinreichend empfindsame Gemüter« richtet, oder wie er es am Ende des Essays ausdrückt: »Es [das Unheimliche in der Literatur] ist ein kleines aber wesentlicher Zweig menschlicher Ausdruckskraft und wird, so wie seit jeher, von einem begrenzten, besonders empfindsamen Publikum geschätzt werden.«129
Mit seinen Versuchen einer Definition hat Lovecraft in »Supernatural Horror in Literature« einen bleibenden Beitrag zur Theorie der literarischen Phantastik geleistet. Eine entscheidende Passage ist Lovecrafts Unterscheidung zwischen dem Unheimlich-Phantastischen und dem bloß Grauenhaften.
Die echte unheimliche Erzählung bietet etwas mehr als heimtückischen Mord, blutige Knochen oder eine von Bettlaken umhüllte Gestalt, die der Regel entsprechend mit den Ketten rasselt. Eine bestimmte Atmosphäre atemloser und unerklärlicher Furcht vor äußeren, unbekannten Mächten muss vorhanden sein, und es muss eine Andeutung jener schrecklichsten Vorstellung des menschlichen Verstandes geben, welche mit einem dem Thema gebührenden Ernst und auf ahnungsvolle Weise zum Ausdruck gebracht wird – eine bösartige und einzigartige Aufhebung oder Überwindung jener feststehenden Naturgesetze, die unseren einzigen Schutzwall gegen die Attacken des Chaos und der Dämonen des unergründlichen Weltalls darstellen.130
Man könnte natürlich einwenden, dass es sich hier um eine nachträgliche Rechtfertigung von Lovecrafts eigener Spielart von kosmischem Horror handelt, doch ich denke, die Definition hat eine größere Tragweite. Im Wesentlichen argumentiert Lovecraft, dass das Übernatürliche bestimmend für die unheimlich-phantastische Erzählung ist, weil es das einzige Element ist, das unheimlich-phantastische Texte von allen anderen Arten von Literatur unterscheidet, die sich ausschließlich in der Sphäre des Möglichen bewegen und daher metaphysisch, epistemologisch und psychologisch einen