H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
und komplizierte Windungen jeden Hinweis auf unsere geographische Position auslöschten«. Dieser Moment ist entscheidend für die Einführung des phantastischen Moments in die Erzählung: In einer Geschichte, die sich ansonsten durch ein hohes Maß an topographischem Realismus auszeichnet, muss eine Zone des Geheimnisses etabliert werden, in der das Unwirkliche angesiedelt werden kann.
Es gibt ein weiteres biographisches Detail, das sich mit der Erzählung in Verbindung bringen lässt: Bei einer früheren Erkundung der aus der Kolonialzeit stammenden Teile von Greenwich Village Anfang August 1924 waren Lovecraft und Sonia tatsächlich einem älteren Herrn begegnet, der sie auf einige versteckte Örtlichkeiten aufmerksam gemacht hatte, die ihnen sonst entgangen wären:
Indem wir uns auf eine Unterhaltung mit dem oben erwähnten redefreudigen Gentleman einließen, erfuhren wir viel von der lokalen Geschichte, darunter, dass die Häuser am Milligan Court ursprünglich Ende des 18. Jahrhunderts von der methodistischen Kirche für die ärmeren, aber ehrenwerten Familien der Gemeinde errichtet worden waren. Während er mit seinen Erklärungen fortfuhr, geleitete uns unser liebenswürdiger Führer zu einer scheinbar unauffälligen Tür in der Mauer des Hofes und durch den schummrigen Korridor dahinter zu einer Hintertür. Wohin er uns führte, wussten wir nicht. Doch als wir aus der Hintertür traten, hielten wir in entzücktem Erstaunen inne. Dort, zu allen Seiten von der Welt durch blanke Mauern und Hausfassaden abgetrennt, befand sich ein zweiter, versteckter Hof oder eine Gasse. Hier und da wuchsen Büsche und Bäume, und auf der Südseite erstreckte sich eine Reihe von schlichten Hauseingängen im Kolonialstil und Fenster mit Butzenscheiben!! … Angesichts dieser abgeschlossenen und verborgenen Bruchstücke der Vergangenheit beschwört die Phantasie ungezählte unheimliche Möglichkeiten herauf …86
Die Ähnlichkeit mit dem Weg, der den Erzähler von »He« in den versteckten Hof führt, ist augenfällig – auch wenn es hier keine Strecke gibt, die auf Händen und Knien zurückgelegt werden muss. Und die »unheimlichen Möglichkeiten« des Ortes machten zweifellos einen starken Eindruck auf Lovecraft, auch wenn es ein Jahr dauern sollte, bis er ihnen literarischen Ausdruck verlieh.
In dem Herrenhaus angekommen, beginnt der Mann von einem »Ahnen« zu erzählen, der eine Art Hexerei praktizierte, die er von den in der Gegend ansässigen Indianern erlernt hatte. Später vergiftete er die Indianer mit schlechtem Rum, sodass er der alleinige Träger der Geheimnisse wurde, die er ihnen entlockt hatte. Um was für ein geheimes Wissen handelt es sich dabei? Der Mann führt den Erzähler zu einem Fenster, und als er die Vorhänge zurückschlägt, wird eine idyllische ländliche Gegend sichtbar, bei der es sich nur um das Greenwich des 18. Jahrhunderts handeln kann. Der erstaunte und bestürzte Erzähler fragt: »Ist es möglich … wagen Sie … weiterzugehen?« Verächtlich zieht der Mann die Vorhänge ein weiteres Mal zurück und offenbart nun einen Blick in die Zukunft:
Ich sah den Himmel von merkwürdigen fliegenden Objekten wimmeln und darunter eine höllenschwarze Stadt riesiger Steinterrassen, mit gotteslästerlichen Pyramiden, die sich dem Mond entgegenstreckten, und Teufelslichter, die in unzähligen Fenstern brannten. In luftigen Säulenhallen sah ich die gelben, schielenden Bewohner dieser Stadt ekelerregend herumwimmeln, grässlich in Orange und Rot gekleidet und wie wahnsinnig zum Hämmern fiebriger Kesselpauken tanzen, zum Aneinanderschlagen widerlicher Klappern und zum manischen Jammern gedämpfter Hörner, deren endloses Klagelied sich wellenförmig hob und senkte, wie die Wellen eines unheiligen Ozeans aus Bitumen.
Es lässt sich nicht leugnen, dass hier erneut ein rassistisches Element ins Spiel kommt. Die »gelben, schielenden Bewohner« sind offensichtlich asiatische Einwanderer, die die Stadt in der Zwischenzeit überrannt haben – entweder als Eroberer oder (was in Lovecrafts Augen wohl noch schlimmer wäre) durch Rassenmischung. Doch trotz allem verfehlt das entworfene Panorama seinen Eindruck nicht. Ich vermute, dass Lovecraft sich zu dieser Szene von Lord Dunsanys pikareskem Roman The Chronicles of Rodriguez (1922) inspirieren ließ, in dem Rodriguez und ein Freund nach steilem Aufstieg auf einen Berg zum Haus eines Zauberers kommen, der ihnen aus verschiedenen Fenstern des Hauses Ausblicke auf vergangene und zukünftige Kriege gewährt – wobei es sich bei letzteren um die titanischen Schrecken des Ersten Weltkriegs handelt, der von der mittelalterlichen Zeit aus gesehen, in der der Roman spielt, in einer entfernten Zukunft liegt.87
Wenn Lovecraft seine Erzählung an dieser Stelle hätte enden lassen, dann könnte man sie als rundum gelungen bezeichnen. Er hatte jedoch die unglückliche Idee, noch einen pulp-kompatiblen Schluss anzufügen, in dessen Verlauf die Geister der ermordeten Indianer, die sich als schwarzer Schleim manifestieren, in das Haus eindringen und den uralten Mann mit sich nehmen – bei dem es sich natürlich selbst um den »Ahnen« handelt. Der Erzähler stürzt daraufhin in einer unwahrscheinlichen Wendung durch die verschiedenen Etagen des Gebäudes und findet sich schließlich auf der Perry Street wieder. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis Lovecraft gelernt hatte, sich genug erzählerische Zurückhaltung aufzuerlegen, um derartige Fehlgriffe zu vermeiden.
Auch die letzten Zeilen der Erzählung sind in autobiographischer Hinsicht interessant: »Was mit ihm geschehen ist, weiß ich nicht. Doch ich bin nach Hause zurückgekehrt, zu den klaren Gassen von Neuengland, durch die am Abend der aromatische Seewind fährt.« Thomas Malone aus »The Horror at Red Hook« wird nach Chepachet in Rhode Island geschickt, um sich von den Schrecken, die er erlebt hat, zu erholen. Doch in »He« kehrt der Erzähler für immer nach Hause zurück: Ein offensichtlicheres Beispiel imaginärer Wunscherfüllung lässt sich wohl kaum finden. Nichtsdestotrotz ist »He« eine überzeugende Erzählung, deren brütende Prosa und apokalyptische Visionen einer aus den Fugen geratenen Zukunft den Leser gefangen nehmen – und sie ist sicherlich einer der Texte, in denen Lovecraft seiner Herzensqual am unmittelbarsten Ausdruck gibt.
Farnsworth Wright nahm »He« zusammen mit »The Cats of Ulthar« Anfang Oktober für WEIRD TALES an, wo die Geschichte im September 1926 erschien. Merkwürdigerweise hatte Lovecraft »The Shunned House« noch nicht bei WEIRD TALES eingereicht, und als er dies – wohl Anfang September – nachholte, lehnte Wright die Erzählung mit der Begründung ab, dass sie sich zu langsam entwickle.88 Lovecraft kommentiert diese Ablehnung nicht, obwohl es das erste – wenn auch unter Wright keineswegs das letzte – Mal war, dass WEIRD TALES eine seiner Geschichten ablehnte. Er kündigte an, einige seiner älteren Erzählungen für Wright nochmals abzutippen, und schickte ihm einige davon Ende September und eine zweite Ladung Anfang Oktober. Wright sprach auch davon, einen Band mit Erzählungen aus WEIRD TALES zusammenzustellen, der »The Rats in the Walls«89 enthalten sollte, doch führte er diesen Plan letztlich nicht aus. Die Popular Fiction Publishing Company veröffentlichte 1927 unter dem Titel The Moon Terror tatsächlich ein Buch mit Geschichten von A. G. Birch, Anthony M. Rud, Vincent Starrett und Wright selbst, die alle in frühen Ausgaben von WEIRD TALES erschienen waren. Der Band war allerdings ein derartiges kommerzielles Desaster, dass keine weiteren folgten.
»He« war jedoch nicht das Einzige, was Lovecraft im Spätsommer 1925 erzählerisch zu Papier brachte. Das Treffen des Kalem Klubs am Mittwoch, dem 12. August, endete erst gegen vier Uhr morgens, und Lovecraft ging direkt nach Hause und skizzierte »die Handlung für eine neue Geschichte, vielleicht einen kurzen Roman«, dem er den Titel »The Call of Cthulhu« gab.90 Obwohl er zuversichtlich bemerkte, dass »die eigentliche Niederschrift jetzt eine relativ einfache Angelegenheit ist«, sollte es noch über ein Jahr dauern, bis er diese Meistererzählung tatsächlich zu Papier brachte. Es stimmt einen ein wenig traurig, wie Lovecraft seiner Tante Lillian gegenüber versucht, das Scheitern seiner Bemühungen um eine Anstellung durch den Hinweis zu rechtfertigen, dass eine Erzählung dieses Umfangs »einen äußerst anständigen Scheck einbringen sollte«. Er hatte bereits früher bemerkt, dass sein projektierter Kurzroman über Salem »eine hübsche Summe Bares einbringen würde, wenn er angenommen wird«.91 Es hat den Anschein, als versuchte er Lillian verzweifelt davon zu überzeugen, dass er, obwohl er keiner regelmäßigen Arbeit nachging und mit seinen Freunden eine »Kaffeehausexistenz« führte, keine Belastung für ihre – und Sonias – Finanzen war.
Irgendwann im August schlug C. W. Smith, der Herausgeber des TRYOUT, Lovecraft eine Idee für eine Geschichte vor. Lovecraft schildert sie in einem Brief an Clark Ashton Smith: »… ein Totengräber wird in der Leichenhalle des Dorfes