H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
wurde Lovecrafts Fremdenfeindlichkeit von seinem immer instabileren psychischen Zustand verschärft. Er fand sich in einem Überlebenskampf in einer fremden, unwirtlichen Stadt, in die er nicht zu gehören schien und in der er wenig Aussichten hatte, Arbeit zu finden oder dauerhaft heimisch zu werden. Einwanderer und Fremde boten sich als bequeme Sündenböcke an, und New York City – damals wie heute die kosmopolitischste und kulturell heterogenste Stadt der Vereinigten Staaten – stand in starkem Kontrast zu der homogenen und konservativen Gesellschaft Neuenglands, in der er die ersten vierunddreißig Jahre seines Lebens verbracht hatte. Die Stadt, die ihm anfangs als Dunsany’scher Quell der Pracht und des Staunens erschienen war, hatte sich in einen schmutzigen, lauten, übervölkerten Ort verwandelt, der Lovecrafts Selbstbewusstsein einen Schlag nach dem anderen versetzte: Trotz seiner Fähigkeiten war es ihm nicht gelungen, dort eine Arbeit zu finden, und er hatte sich gezwungen gesehen, sich in einem schäbigen, rattenverseuchten, von Einbrechern heimgesuchten Loch zu verkriechen, wo sein einziger Ausweg darin bestand, rassistische Geschichten wie »The Horror at Red Hook« zu verfassen, um seiner Wut und Verzweiflung ein Ventil zu bieten.
Doch Lovecrafts Kreativität war trotz allem nicht erschöpft. Acht Tage nachdem er »Red Hook« zu Papier gebracht hatte, brach er zu einem langen, einsamen Abendspaziergang auf, der ihn durch Greenwich Village zur Battery und von dort zur Fähre nach Elizabeth führte, die er um sieben Uhr abends erreichte. In einem Geschäft kaufte er für 10 Cent ein Notizbuch, ging in den Scott Park und schrieb eine Geschichte:
Unwillkürlich stiegen Ideen in mir auf wie schon seit Jahren nicht mehr & die sonnige reale Umgebung verschwamm bald in das Purpur und Rot einer höllischen Mitternachtserzählung – einer Erzählung von geheimnisvollen Schrecken im Gewirr der vorsintflutlichen Gassen von Greenwich Village – in die ich eine gute Portion poetischer Beschreibung hineinwob & den nachhaltigen Schrecken, den derjenige empfindet, der nach New York kommt wie zu einer Feenblume aus Stein & Marmor und doch nur einen von Würmern wimmelnden Leichnam findet – eine tote Stadt schielender Fremdheit, die nichts mit seiner eigenen Vergangenheit oder der Tradition Amerikas im Allgemeinen gemein hat. Ich nannte sie »He« …82
Es ist bemerkenswert, dass Lovecraft New York erst verlassen musste, um darüber schreiben zu können. Laut seinem Tagebuch war er am 13. Juni zum ersten Mal im Scott Park gewesen, der rasch zu einer seiner bevorzugten Zufluchtsstätten wurde. Und wenn die oben zitierte Beschreibung der Erzählung autobiographisch klingt, so ist das kein Zufall, denn »He« ist zwar »The Horror at Red Hook« literarisch weit überlegen, zugleich jedoch ein ebenso herzzerreißender Verzweiflungsschrei wie die Vorgängererzählung – woraus Lovecraft kein Geheimnis macht. Der Anfang der Geschichte ist berühmt:
Ich sah ihn in einer schlaflosen Nacht, als ich verzweifelt herumwanderte, um meine Seele und meine Träume zu retten. Es war ein Fehler gewesen, nach New York zu kommen; denn wo ich in dem wimmelnden Labyrinth alter Straßen, die sich endlos von vergessenen Gassen, Plätzen und Uferbezirken zu Gassen, Plätzen und Uferbezirken schlängeln, die genauso vergessen sind, und in den gigantischen modernen Türmen und Zinnen, die sich schwärzlich und riesengroß unter dem abnehmenden Mond erheben, nach prickelnden Wundern und Inspirationen gesucht hatte, fand ich stattdessen nur ein Gefühl des Grauens und der Bedrückung, das mich zu überwältigen, zu beherrschen und zu vernichten drohte.
Die Wirkung dieser Passage ist natürlich nicht davon abhängig, ob man Lovecrafts Biographie kennt oder nicht. Doch wenn man um seine Lebensumstände weiß, dann gewinnt sie, als offenkundige Reflexion seines geistigen Zustandes, zusätzliche Eindringlichkeit. Der Erzähler berichtet nun, wie ihn die glitzernden Türme von New York einst in ihren Bann zogen, doch
das nackte Tageslicht zeigte nur Schmutz und Fremdartigkeit und die verderblichen Schwellungen sich auftürmender Steine, wo der Mond Schönheit und alten Zauber angedeutet hatte, und die Menschenmassen, die in den klammähnlichen Straßen wimmelten, waren gedrungene Fremde von dunkler Gesichtsfarbe mit harten Zügen und schmalen Augen, gewandte Fremde ohne Träume und ohne Beziehung zu ihrer Umwelt, die einem blauäugigen Menschen aus altem Stamm mit der Liebe zu schönen, grünen Pfaden und den weißen Kirchtürmen eines New-England-Dorfes im Herzen nichts bedeuten konnten.
Das ist Lovecrafts Soziologie von New York: Die Einwanderer, die sich dort zusammenballen, haben keine »Beziehung« zu der Stadt, die von Holländern und Engländern gegründet wurde, während sie ein ganz anderes kulturelles Erbe mitbringen. Diese spitzfindige Beobachtung führt Lovecraft zu dem Schluss, dass »diese Stadt aus Stein und Lärm keine spürbare Fortsetzung des alten New York ist, so wie London eine von Alt-London und Paris eine von Alt-Paris ist, sondern dass sie in der Tat völlig tot ist, ihr hingestreckter Leichnam schlecht einbalsamiert und von merkwürdigen belebten Dingen zerfressen, die nichts mehr mit dem zu tun haben, was sie im Leben war«. Die Einwanderer werden jetzt mit Maden gleichgesetzt.
Was aber hält den Erzähler an einem solchen Ort? Er tröstet sich in gewissem Maße, indem er die älteren Teile der Stadt durchstreift, doch was ihn eigentlich davon abhält, ihr den Rücken zu kehren, ist etwas anderes: »Mir schien es unmöglich, zu meinen Leuten nach Hause zurückzukehren, denn wäre ich nicht unwürdig, wie ein Besiegter heimwärts gekrochen.« Inwieweit dies Lovecrafts eigene Empfindungen wiedergibt, ist schwer zu sagen, doch wir werden auf diese Passage und insbesondere auf Sonias Reaktion auf sie noch einmal zurückkommen.
Wie für Lovecraft ist für den Erzähler Greenwich Village eines seiner bevorzugten Ziele, und dort begegnet er, um zwei Uhr morgens in einer Augustnacht, »dem Mann«. Dieser Mann zeichnet sich durch eine sonderbar altertümliche Ausdrucksweise und eine ebenso antiquierte Garderobe aus, und der Erzähler hält ihn zunächst für einen harmlosen Exzentriker. Der Mann erkennt in ihm jedoch sofort einen Gleichgesinnten und nimmt ihn mit auf einen verwirrenden Rundgang durch alte Gassen und Höfe, der an der »efeuüberwachsenen Mauer eines privaten Anwesens« endet, wo der Mann wohnt. Lässt sich dieser Ort in der realen Topographie von New York lokalisieren? Am Ende der Geschichte findet sich der Erzähler »am Eingang einer kleinen, düsteren Gasse wieder, die in die Perry Street mündet«. Dieser Hinweis genügt, um den Bogen zu einer Exkursion zu schlagen, die Lovecraft etwa ein Jahr vor der Entstehung von »He«, am 29. August 1924, unternahm, einer »einsamen Expedition in die Kolonialzeit«, die ihn in die Perry Street führte, wo er »jene namenlose versteckte Gasse aufspüren wollte, die an jenem Tag in der EVENING POST erwähnt worden war«. Er fand die entsprechende Örtlichkeit ohne Schwierigkeiten und »genoss ihren Anblick umso mehr, als ich bereits ihr Bild gesehen hatte. Diese vergessenen Straßen einer älteren Stadt üben eine unermessliche Faszination auf mich aus …«83 Lovecraft spielt hier auf einen Artikel aus der NEW YORK EVENING POST vom selben Tag an, der im Rahmen einer regelmäßigen Kolumne mit dem Titel »Little Sketches About Town« erschienen war. Die Kolumne enthielt eine Zeichnung der »vergessenen Gasse« an der Perry Street und einen kurzen Text: »Alles, was sie betrifft, ist in Vergessenheit geraten – ihr Name, ihr Bezirk, jeder Anhaltspunkt zu ihrer Identifikation. Ihr auffälligstes Kennzeichen, eine alte Öllampe über ein paar ausgetretenen Kellerstufen, sieht so aus, als käme sie nach vielen Jahren schiffbrüchiger Einsamkeit von der Insel der gestrandeten Schiffe und wirkt unrettbar fehl am Platz.«84 Man kann sich vorstellen, dass diese Beschreibung Lovecrafts Neugier entflammte, und es verwundert nicht, dass er sich sofort auf die Suche nach der »vergessenen Gasse« machte. Er berichtet, dass er das Sträßchen ohne Schwierigkeiten fand. Aus der Zeichnung und dem Artikel geht in der Tat ziemlich klar hervor, dass es sich um den Gebäudekomplex handelt, der heute als Perry Street 93 bezeichnet wird: Durch einen Torbogen betritt man ein Gässchen zwischen drei Gebäuden, das noch ziemlich genauso aussieht wie in der Kolumne beschrieben. Dazu kommt, dass eine lokalgeschichtliche Abhandlung über die Perry Street berichtet, dass die Gegend ursprünglich von Indianern besiedelt war (die ihr den Namen Sapohanican gaben), und nicht zuletzt, dass zwischen 1726 und 1744 auf dem Areal, das heute von Perry, Charles, Bleecker und West Fourth Street begrenzt wird, ein luxuriöses Herrenhaus errichtet wurde, das einer Folge von reichen New Yorker Bürgern als Wohnsitz diente, bis es 1865 abgerissen wurde.85 Zweifellos kannte Lovecraft die Geschichte der Gegend und hat sie geschickt in seine Erzählung eingearbeitet.
Entscheidend für die Logik von »He« ist jedoch, dass das Haus, das der Mann bewohnt, nicht leicht zu