H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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Strecke nach Mineola erschien ihm einigermaßen langweilig – »fast durchgehend gesäumt von modernen Wohnhäusern, die ein trauriges Zeugnis von der Ausbreitung der Stadt & der Geschmack- & Ideenlosigkeit der Architekten kleinerer Häuser ablegten«106 –, und Mineola selbst war kaum weniger trostlos. Er ging zu Fuß weiter Richtung Süden nach Garden City, wo er sich die weitläufigen, an ein College erinnernden Ziegelbauten des Verlages Doubleday, Page & Co. ansah. Lovecraft wanderte noch weiter südlich, bis er nach Hempstead kam, das ihn vollständig in seinen Bann schlug: »Ich war ganz und gar bezaubert, denn hier wohnte die Seele des alten Neuengland in ihrer ganzen Fülle, unberührt von der verderblichen Gegenwart jenes fremdländischen Babylon, das sich nur zwanzig oder fünfundzwanzig Meilen weiter östlich erhebt.«107 Einmal mehr waren es die Kirchen, die Lovecraft in Entzücken versetzten: St. George’s Episcopal, Methodist, Christ’s First Presbyterian und so weiter. Er verbrachte einige Zeit in Hempstead und wanderte dann weiter nach Freeport, was er hübsch, aber im Hinblick auf historische Bauten unergiebig fand. Lovecraft hatte zu diesem Zeitpunkt bereits an die zehn Meilen Fußmarsch hinter sich. Erst jetzt nahm er eine Straßenbahn nach Jamaica und kehrte dann mit der Hochbahn nach Brooklyn zurück. Fünf Tage später, am 4. Oktober, fuhr er gemeinsam mit Loveman noch einmal nach Flushing und Hempstead hinaus.

      Als der Winter näher rückte, wurden Lovecrafts Ausflüge seltener. Allerdings besuchte er am 13. November noch Canarsie in Jamaica – wo er die Rufus King Mansion besichtigte, ein großartiges zweiflügliges Herrenhaus von 1750, das sich bis heute erhalten hat – und Kew Gardens, eine in geschmackvollem neo-elisabethanischen Stil gehaltene Wohnanlage. Am 14. fuhr er ein weiteres Mal nach Jamaica und am 15. gemeinsam mit Loveman nach Flushing.

      Wie wichtig diese Exkursionen für Lovecrafts seelisches Gleichgewicht waren, lässt sich wohl kaum überschätzen. Die schimmernden Wolkenkratzer von Manhattan hatten sich bei näherem Hinsehen als bedrückendes Schrecknis entpuppt, wie Lovecraft bekannte, als er das Angebot, als Herausgeber von WEIRD TALES nach Chicago zu gehen, ablehnte: »die Atmosphäre der Kolonialzeit ist mir lebensnotwendig.«108 Lovecraft hatte in der Tat ein geradezu unheimliches Talent beim Aufspüren von Altertümern entwickelt, ob in Manhattan, Brooklyn oder an den Rändern der Stadt. Für ihn verstand es sich vielleicht von selbst, dass er alles, was er sah, mit Neuengland verglich – das in dieser wie auch in fast jeder anderen Hinsicht sein unverrückbarer Bezugspunkt war –, aber möglicherweise können wir auch einen indirekten Appell an Lillian aus seinen Zeilen herauslesen. Lovecraft schickte seiner Tante pflichtbewusst die drei Erzählungen, die er im Laufe des Sommers verfasst hatte und von denen eine – »In the Vault« – in Neuengland spielt, während in den beiden anderen – »The Horror at Red Hook« und »He« – die Hauptfiguren entweder vorübergehend oder dauerhaft dort Zuflucht finden.

      Auch für Sonia waren die Zeiten nicht einfach. Im Oktober hatte sie ihre Stelle in Cleveland verloren, doch scheint sie relativ schnell eine neue Arbeit gefunden zu haben. Allerdings entsprach auch diese nicht ihren Vorstellungen, da sie wieder nur auf Kommissionsbasis arbeitete und in erbitterter Konkurrenz mit den anderen Verkaufsmitarbeitern stand.109 Im November verbrachte Lovecraft fast vier Tage damit, für Sonia einen Artikel über Verkaufstechniken zu schreiben oder zu redigieren. Seiner Tante berichtete er, dass es Sonia mit ihrer neuen Arbeit besser ging, da sie mit einem vorherigen Artikel »einen echten ›Treffer‹ in der Fortbildungsabteilung des Kaufhauses gelandet hatte«.110 In einem späteren Brief präzisierte Lovecraft, dass es sich bei Sonias Arbeitgeber um Halle’s, das führende Kaufhaus von Cleveland, handelte.111 Sonia hatte ursprünglich geplant, Weihnachten zu Hause zu verbringen, hatte jedoch so viel zu tun, dass sie vom 18. Oktober bis Mitte Januar 1926 nicht nach New York kommen konnte.

      Lovecraft verbrachte ein erfreuliches Thanksgiving mit seinem Amateurkollegen Ernest A. Dench und dessen Familie in Sheepshead Bay, Brooklyn. Ende August war er dort bereits anlässlich eines Treffens des Blue Pencil Club gewesen. Das vorgegebene Thema war damals Denchs neugeborener Sohn, und Lovecraft, der dieser Art von erzwungener literarischer Produktion immer überdrüssiger wurde, schrieb das ungewöhnlich grüblerische Gedicht »To an Infant«, in dem er in langen, an Swinburne erinnernden Alexandrinern über die Trostlosigkeit des täglichen Lebens und die Macht der Träume meditiert. An Thanksgiving wurden von den Gästen keine poetischen oder sonstigen literarischen Beiträge verlangt, und Lovecraft verlebte einen amüsanten Abend in Gesellschaft von McNeil, Kleiner, Morton und Pearl K. Merritt, einer Amateurschriftstellerin, die bald darauf Mortons Frau werden sollte.

      Weihnachten verbrachte Lovecraft bei den Longs. Er traf um halb zwei nachmittags in seinem besten grauen Anzug ein und wurde bereits von McNeil und Loveman erwartet. Die Eltern von Frank Long hatten als Geschenk für alle seidene Taschentücher gekauft, die sie entsprechend dem individuellen Geschmack der einzelnen Gäste ausgewählt hatten. Lovecrafts Taschentuch war in dezentem Grau gehalten, während Longs eine leuchtende Purpurfarbe hatte. Nach einem üppigen Truthahnessen wurde ein Geschenksack herumgereicht, der Gegenstände des täglichen Bedarfs enthielt, die Longs Eltern bei Woolworth gekauft hatten – Rasierseife, eine Zahnbürste (die Lovecraft, der sie erwischte, zu hart fand), Talkumpuder und ähnliches. Als nächstes folgte ein Wettbewerb unter den Gästen, wer die meisten aus Zeitschriften entnommenen Werbeillustrationen identifizieren konnte. Obwohl Lovecraft behauptete, kein Illustriertenleser zu sein, gewann er, indem er sechs von fünfundzwanzig Illustrationen richtig zuordnete (Loveman und McNeil kamen auf fünf, während Long nur drei erkannte). Als Siegespreis erhielt Lovecraft eine Schachtel Schokoladenpralinen. All das klingt ein wenig nach einem Kindergeburtstag, aber die Gäste nahmen es zweifellos mit Humor. Nach einer langweiligen Doppelvorstellung in einem örtlichen Kino folgte noch ein leichtes Abendessen (bei dem ein Lutscher auf jedem Teller platziert war), und gegen Mitternacht war Lovecraft wieder zu Hause.

      Von Oktober an verfiel Lovecraft erneut in literarisches Schweigen. In den letzten drei Monaten des Jahres verfasste er nur ein – gelungenes – unheimlich-phantastisches Gedicht, »October« (18. Oktober), und ein amüsantes Geburtstagsgedicht für George Willard Kirk (24. November). Doch Mitte November verkündete er: »W. Paul Cook möchte von mir einen Artikel über das Element des Schreckens & des Unheimlichen in der Literatur für seine neue Zeitschrift THE RECLUSE.«112 Im selben Brief notierte Lovecraft: »Ich werde mir dafür Zeit nehmen«, was sich als zutreffend herausstellen sollte: Es würde beinahe eineinhalb Jahre dauern, bis er jenen Essay fertigstellte, der unter dem Titel »Supernatural Horror in Literature« bekannt geworden ist.

      Lovecraft begann die eigentliche Arbeit an dem Text in der zweiten Dezemberhälfte. Anfang Januar hatte er bereits die ersten vier Kapitel geschrieben – über den Schauerroman bis einschließlich Maturins Melmoth the Wanderer – und war dabei, Emily Brontës Wuthering Heights zu lesen, um den Roman am Ende des fünften Kapitels zu behandeln.113 Im März war das siebente Kapitel über Poe fertig,114 und Mitte April hatte er sich »zur Hälfte durch Arthur Machen« gearbeitet (Kapitel 10).115 Lovecraft ging bei der Arbeit auf recht eigentümliche Weise vor: Er las jeweils die Werke eines Autors oder einer Epoche und schrieb dann direkt den entsprechenden Abschnitt. Aus der ursprünglichen Beschreibung des Projekts geht nicht klar hervor, dass Cook sich einen literaturgeschichtlichen Abriss vorgestellt hatte – ein Essay über »das Element des Schreckens & des Unheimlichen in der Literatur« könnte auch eine theoretische oder thematische Abhandlung sein –, aber Lovecraft interpretierte Cooks Anfrage eindeutig in diesem Sinne. Gegenüber Morton rechtfertigt er seine Vorgehensweise:

      Mit meinem miserablen Gedächtnis habe ich innerhalb von sechs Monaten oder einem Jahr die Hälfte von dem, was ich gelesen habe, vergessen, sodass ich, um irgendeinen sinnvollen Kommentar zu den ausgewählten Stellen abgeben zu können, diese Stellen dann noch einmal gründlich lesen müsste. So sah ich mich gezwungen, als ich bis Otranto gekommen war, das verdammte Buch wieder hervorzuholen und nachzuschauen, was in ihm wirklich passiert. Dasselbe galt für The Old English Baron. Und als ich bei Melmoth angelangt war, bin ich sorgfältig die beiden Anthologieauszüge durchgegangen, die alles sind, was ich davon kriegen konnte – es ist ein Witz, wenn man sich die Lobgesänge ansieht, die ich auf das Werk angestimmt habe, ohne es mir überhaupt einmal im Ganzen zu Gemüte geführt zu haben! Dann waren Vathek und die Episodes of Vathek an der Reihe, noch einmal durchgeackert


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