H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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war in der Tat manchmal übertrieben sorgfältig. Er verbrachte drei Tage in der New York Public Library, um E.T. A. Hoffmann zu lesen, obwohl er ihn langweilig fand und ihn schließlich in einem halben Abschnitt abhandelte, in dem er zu dem Schluss kam, dass seine Werke eher grotesk als unheimlich-phantastisch sind. Natürlich machte er es sich an anderen Stellen wiederum einfach: Die erwähnten »Anthologieauszüge«, die er von Melmoth the Wanderer las, stammten aus George Saintsburys Tales of Mystery (1891), einer Sammlung, die Texte aus Werken von Ann Radcliffe, M. G. Lewis und Maturin enthielt, sowie aus Julian Hawthornes großartiger zehnbändiger Anthologie The Lock and Key Library (1909), die Lovecraft sich 1922 auf einer seiner New-York-Reisen angeschafft hatte. Aus der letztgenannten Sammlung bediente Lovecraft sich großzügig: die relativ spärlichen Beispiele für Unheimlich-Phantastisches in der antiken Literatur sind ebenso aus ihr entnommen wie die vier Geschichten des französischen Autorengespanns Erckmann-Chatrian, die er erwähnt.

      Lovecraft hatte zu diesem Zeitpunkt natürlich bereits den Großteil der bedeutenden phantastischen Autoren gelesen, doch machte er immer noch Entdeckungen. So stieß er erst jetzt auf zwei Autoren, die er in seinem Essay sehr hoch bewerten sollte. Zwar hatte er Algernon Blackwood (1869–1951) bereits 1920 auf Empfehlung von James F. Morton gelesen, kam zu diesem Zeitpunkt jedoch zu einem eher negativen Urteil über den englischen Phantasten: »Ich kann nicht behaupten, dass ich besonders beeindruckt bin. Irgendwie fehlt Blackwood die Kraft, eine wirklich bedrohliche Atmosphäre zu erzeugen. Zum einen ist er zu vage, und zum anderen sind seine Schrecken und phantastischen Elemente zu offensichtlich symbolisch – eher symbolisch als überzeugend extravagant. Und sein Symbolismus ist nicht von jener schwelgerischen Art, die aus Dunsany einen so phänomenalen Fabulierer macht.«117 Das nächste Mal erwähnt Lovecraft Blackwood 1924, nachdem er den Band The Listener and Other Stories (1907) gelesen hatte, der auch »The Willows« enthält, eine Erzählung, die Lovecraft als »das wohl verheerendste Stück angedeuteter übernatürlicher Entsetzlichkeit« bezeichnete, »das mir in den letzten zehn Jahren untergekommen ist.«118 Später kam Lovecraft – wie ich glaube zu Recht – zu der Überzeugung, dass »The Willows« die beste unheimlich-phantastische Geschichte ist, die je geschrieben wurde, gefolgt von Machens »The White People«. Lovecraft erwähnt seine Blackwood-Lektüre erst wieder im Januar 1926, doch in der Zwischenzeit hatte er mehrere seiner frühen Erzählungssammlungen gelesen – darunter The Lost Valley and Other Stories (1910) und Incredible Adventures (1914). Bald darauf las er auch John Silence – Physician Extraordinary (1908), eine Sammlung, in der ihn einige Geschichten sehr beeindruckten, die in seinen Augen jedoch unter der klischeehaften Verwendung der Figur des »übernatürlichen Detektivs« litt.

      Wie auch im Fall von Machen und Dunsany hätte Lovecraft Blackwood eigentlich schon früher entdecken können. Blackwoods erstes Buch The Empty House and Other Stories (1906) ist zugegebenermaßen noch etwas dünn, wenn es auch bereits einige bemerkenswerte Geschichten enthält. John Silence wurde ein Bestseller, dessen Erfolg es Blackwood ermöglichte, die Jahre 1908–1914 in der Schweiz zu verbringen, wo die Mehrzahl seiner besten Arbeiten entstand. Incredible Adventures, der Band, der bei Lovecraft 1920 eine so lauwarme Reaktion hervorgerufen hatte, ließ Lovecraft später zu der Auffassung kommen, dass aus diesem Band »ein ernsthaftes und einfühlsames Verständnis des Entstehungsprozesses der menschlichen Illusionen« spricht, »das Blackwood zu einem weit bedeutenderen Künstler macht als manch anderen Kunsthandwerker, der ihm, was den Umgang mit Worten und die allgemeinen technischen Fähigkeiten angeht, himmelhoch überlegen ist …«119

      Blackwood machte aus seinen mystizistischen Neigungen kein Geheimnis. In seiner glänzenden Autobiographie Episodes Before Thirty (1923) – die mit Machens Far Off Things (1922) und Dunsanys Patches of Sunlight (1938) eine Art Trilogie großartiger autobiographischer Texte von Autoren der unheimlichen Phantastik bildet – beschreibt er, wie er sich vor der bedrückenden konventionellen Religiosität seines Elternhauses in den Buddhismus flüchtete und schließlich einen kraftvollen und tiefempfundenen Pantheismus entwickelte, der am deutlichsten in dem Roman The Centaur (1911) zum Ausdruck kommt, den man als eine Art spirituelle Autobiographie bezeichnen kann. In gewissem Sinne ging es Blackwood, ähnlich wie Dunsany, um eine Art Rückkehr zur natürlichen Welt. Aber weil er, im Gegensatz zu Dunsany, zu einer mystischen Weltsicht neigte – und sich später, vielleicht unvermeidlicherweise, zum Okkultismus hingezogen fühlte –, bedeutete diese Rückkehr zur Natur für ihn zugleich, die moralischen und spirituellen Scheuklappen abzuwerfen, welche die moderne urbane Zivilisation uns seiner Auffassung nach anlegt. Sein eigentliches Ziel war daher eher eine Erweiterung des Bewusstseins, durch die das grenzenlose Universum mit seinen pulsierenden Präsenzen unserer Wahrnehmung zugänglich gemacht wird. Mehrere seiner Romane – insbesondere Julius Le Vallon (1916), The Wave (1916) und The Bright Messenger (1921) – handeln von Reinkarnation, und die Art, wie Blackwood über dieses Thema schreibt, deutet darauf hin, dass er selbst an eine solche Wiedergeburt glaubte.

      Weltanschaulich waren Blackwood und Lovecraft in dieser Hinsicht Antipoden, doch maß Lovecraft dem keine große Bedeutung bei – dasselbe gilt übrigens auch für sein Verhältnis zu Arthur Machen, dessen Weltanschauung er ebenso ablehnte. Und letztlich kann man Blackwoods unheimlich-phantastische Erzählungen auch genießen, wenn man seine Weltsicht nicht teilt. Derartige Differenzen trugen vielleicht dazu bei, dass Lovecraft einige von Blackwoods unbekannteren Werken weniger schätzte. Zudem spielt in Werken wie The Wave und The Garden of Survival (1918) die Liebe eine große Rolle, und es überrascht nicht, dass sie Lovecraft kalt ließen. Zugleich hatte Blackwood – obwohl oder gerade weil er kinderlos war und lebenslang Junggeselle blieb – ein starkes Interesse an der Welt der Kindheit, das sich in rein phantastischen Werken wie Jimbo (1909) oder The Education of Uncle Paul (1909) widerspiegelte. Obwohl Lovecraft Jimbo sehr schätzte, verwarf er Blackwoods übrige Kindheitsromane als übertrieben skurril und unerträglich sentimental. Bei einigen von Blackwoods schwächeren Werken wie A Prisoner in Fairyland (1913) oder The Extra Day (1915) kann man dieses Urteil vielleicht gelten lassen, den besten von Blackwoods Arbeiten im Bereich der reinen Fantasy wird es jedoch nicht gerecht. In der Tat scheint es Blackwood oft nicht in erster Linie darum zu gehen, Grauen zu erzeugen. Eher versucht er eine Art von ehrfürchtigem Schauder heraufzubeschwören, und wo ihm dies gelingt, wie in Incredible Adventures, entstehen echte Meisterwerke. Lovecraft würde in seinen späteren Erzählungen etwas Ähnliches versuchen. Es dauerte nicht lange, bis Lovecraft in Blackwood – noch vor Machen – den führenden unheimlich-phantastischen Schriftsteller seiner Zeit sah.

      Montague Rhodes James (1862–1936) ist ein völlig anderer Fall. Die unheimlich-phantastische Literatur nimmt in seinem Gesamtwerk im Grunde nur einen relativ kleinen Platz ein, ja sie diente ihm vielleicht bloß als Ablenkung von seiner wissenschaftlichen Arbeit als Mediävist und Kirchenhistoriker. Seine Ausgabe der Apokryphen zum Neuen Testament, The Apocryphal New Testament (1924), war lange ein Standardwerk. James entdeckte seine Vorliebe für das Erzählen von Geistergeschichten während seiner Zeit in Cambridge. Seine ersten Geschichten trug er bei einem Treffen der Chitchat Society im Jahre 1893 vor. Später wurde er Provost von Eton und begann damit, seinen Zöglingen an Weihnachten seine Gespenstergeschichten zu erzählen. Diese wurden schließlich in vier Bänden gesammelt: Ghost-Stories of an Antiquary (1904), More Ghost Stories of an Antiquary (1911), A Thin Ghost and Others (1919) und A Warning to the Curious (1925). Dieses relativ schmale Werk, das in den Collected Ghost Stories of M. R. James (1931) gerade 650 Seiten umfasst, ist nichtsdestotrotz ein Meilenstein der unheimlich-phantastischen Literatur. James’ Erzählungen stellen gewissermaßen die äußerste Verfeinerung der konventionellen Gespenstergeschichte dar, und die Art, wie James diese Form perfektioniert, macht den Weg frei für die Entwicklung der psychologischen Geistergeschichte bei Walter de la Mare, Oliver Onions und L. P. Hartley. James war ein Meister in der Konstruktion von Kurzgeschichten, und die Struktur mancher seiner längeren Erzählungen ist so komplex, dass sich die Abfolge, in der das Geschehen berichtet wird, fast völlig von der eigentlichen chronologischen Reihenfolge der Ereignisse löst. James gehört darüber hinaus zu den wenigen Autoren, denen es gelingt, in einem skurril-scherzhaften Plauderton zu schreiben, ohne damit die Wirkung ihrer Schrecken zu zerstören. Obwohl Lovecraft diese Fähigkeit bei James


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