H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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vielversprechend an, und die bloße Tatsache, dass Lovecraft sich entschloss, eine Erzählung daraus zu machen – auch wenn er noch ein übernatürliches Element hinzufügte –, ist ein Indiz, dass die New Yorker Atmosphäre seine Kreativität in Mitleidenschaft zog. Die Erzählung »In the Vault«, die Lovecraft am 18. September niederschrieb, fällt gegenüber »He« deutlich ab, ist jedoch nicht so atemberaubend schlecht wie »The Horror at Red Hook«, sondern schlicht mittelmäßig.

      George Birch ist der nachlässige und dickfellige Totengräber von Peck Valley, einer imaginären Kleinstadt irgendwo in Neuengland. Eines Tages wird er durch einen unglücklichen Zufall in der Leichenhalle eingeschlossen, wo die Särge der während des Winters Verstorbenen aufbewahrt werden, bis im Frühjahr die Erde wieder auftaut und man Gräber ausheben kann. Der einzige Weg, sich zu befreien, besteht darin, die acht Särge, die in der Leichenhalle stehen, zu einer Pyramide aufzuschichten und durch ein Oberlicht ins Freie zu klettern. Es ist mittlerweile Nacht geworden, sodass Birch im Dunkeln ans Werk gehen muss. Trotzdem ist er sich sicher, dass er den stabilen Sarg des zwergenhaften Matthew Fenner ganz zuoberst platziert hat. Allerdings hatte er für Fenner zunächst einen schlechter gearbeiteten Sarg angefertigt, den er dann jedoch für seinen ebenfalls verstorbenen groß gewachsenen Intimfeind, den nachtragenden Asaph Sawyer verwendet hat. Als er schließlich auf seine »Miniaturausgabe des Turms zu Babel« steigt, brechen seine Füße durch die Bretter des obersten Sarges und landen inmitten der verwesenden Überreste, die sich darin befinden. Er spürt einen durchdringenden Schmerz in seinen Knöcheln und meint, dass er sich an Holzsplittern oder vorstehenden Sargnägeln verletzt haben muss. Schließlich gelingt es ihm unter Mühen, sich durch das Oberlicht ins Freie zu wuchten. Als er sich vom Boden erheben will, muss er jedoch feststellen, dass er nicht fähig ist zu gehen – seine Achillessehnen sind durchtrennt. Als später die Leichenhalle geöffnet wird, kommt die Wahrheit ans Licht: Asaph Sawyer war zu groß für den Sarg, der ursprünglich für Matthew Fenner gefertigt wurde. Daher hat der phlegmatische Totengräber Sawyer selbst »passend gemacht«, indem er ihm die Füße an den Knöcheln abgesägt hat. Birch hatte jedoch nicht mit Asaphs Rache aus dem Jenseits gerechnet: Die Verletzungen an seinen Knöcheln stellen sich als Bisswunden heraus.

      »In the Vault« ist offensichtlich nicht mehr als eine simple übernatürliche Rachegeschichte. Clark Ashton Smith, der versuchte, das Gute in der Erzählung zu sehen, schrieb, dass sie »den grimmigen Realismus von Bierce« besäße.93 Man kann durchaus einen gewissen Einfluss des US-amerikanischen Autors in der Geschichte entdecken, doch ist keine seiner Erzählungen so einfach gestrickt wie »In the Vault«. Lovecraft versucht sich hier an einem volkstümlichen, alltäglichen Stil und geht so weit, in der Einleitung der Geschichte zu behaupten: »Es fällt mir schwer zu entscheiden, wo genau ich Birchs Abenteuer beginnen lassen soll, denn ich bin kein versierter Geschichtenerzähler.« August Derleth entwickelte eine unselige Begeisterung für die Geschichte, sodass sie bis heute einen unverdienten Platz unter Lovecrafts »besten« Erzählungen einnimmt.

      Auch das unmittelbare Schicksal von »In the Vault« war nicht übermäßig glücklich. Lovecraft widmete sie C.W. Smith, »auf dessen Anregung die zentrale Situation zurückgeht«, und sie erschien im November 1925 in Smiths TRYOUT. Es war das letzte Mal, dass Lovecraft eine neue Erzählung einer Amateurzeitschrift zur Veröffentlichung überließ. In späteren Jahren veröffentlichte er in Amateurzeitschriften nur noch Geschichten, die zuvor von professionellen Publikationen abgelehnt worden waren. Natürlich versuchte Lovecraft gleichzeitig, »In the Vault« auch professionell zu vermarkten. Obwohl man denken sollte, dass die Erzählung mit ihrer konventionellen makabren Thematik wie gemacht für WEIRD TALES war, lehnte Wright sie im November ab. Lovecraft berichtet, dass Wright die Ablehnung mit der Befürchtung begründete, dass sie »wegen ihrer extremen Blutrünstigkeit die Zensur in Indiana nicht passieren würde«.94 Das ist natürlich, wie Lovecraft in einem späteren Brief deutlich macht, eine Anspielung auf das Verbot von Eddys »The Loved Dead«: »Wrights Ablehnung von ›In the Vault‹ war reiner Unsinn – ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Zensor daran Anstoß nehmen könnte. Aber seit der Senat von Indiana wegen den ›Geliebten Toten‹ des armen Eddy in Aktion getreten ist, lebt Wright in beständiger Angst vor der Zensur.«95 Das ist das erste – aber nicht das letzte – Mal, dass der Skandal um »The Loved Dead«, was immer er dafür getan oder nicht getan haben mag, WEIRD TALES 1924 zu »retten«, negative Folgen für Lovecraft hatte.

      Es gab jedoch auch positive Neuigkeiten von Wright. Lovecraft hatte ihm »The Outsider« geschickt, offenbar zunächst nur, um seine Meinung über die Erzählung einzuholen, die er eigentlich bereits W. Paul Cook für seinen RECLUSE versprochen hatte.96 Wright gefiel die Erzählung so gut, dass er Lovecraft bat, sie ihm für WEIRD TALES zu überlassen. Lovecraft gelang es, Cook zum Verzicht zu bewegen, und Wright nahm »The Outsider« Ende des Jahres offiziell an. Die Veröffentlichung in WEIRD TALES im April 1926 war ein Meilenstein.

      Der Rest des Jahres verging mit verschiedenen Aktivitäten des Kalem Clubs, Besuchen von Gästen von außerhalb und einsamen Ausflügen, die Lovecraft immer weiter von New York wegführten. Bereits in den ersten Monaten des Jahres hatte er eine Reihe von Besuchern empfangen: John Russell, Lovecrafts Lieblingsfeind aus ARGOSY-Zeiten, der mittlerweile ein enger Freund geworden war, hatte im April mehrere Tage in der Stadt verbracht. Anfang Juni folgte Albert A. Sandusky, der ebenfalls einige Tage blieb. Am 18. August traf Alfred Galpins Frau in New York ein, eine Französin, die Galpin im Jahr zuvor kennengelernt hatte, als er in Paris Musik studierte. Sie blieb bis zum 20. und fuhr dann nach Cleveland weiter. Da Sonia gerade in der Stadt war, führten die beiden Mrs. Galpin zum Abendessen und danach ins Theater aus, um dann in die Clinton Street 169 zurückzukehren, wo die Besucherin für die Dauer ihres Aufenthalts ein Zimmer genommen hatte. Am nächsten Morgen klagte sie allerdings bitterlich über Bettwanzen und zog ins Hotel Brossert in der Montague Street um. Trotzdem nahm sie gemeinsam mit Sonia an dem Treffen des Kalem-Clubs teil, das an diesem Tag stattfand. Offenbar war das »Frauenverbot« aus Anlass einer Besucherin von jenseits des Atlantiks aufgehoben worden.

      Wenn die Reihe an ihn kam, war Lovecraft bei diesen Zusammenkünften ein gewissenhafter Gastgeber, und in seinen Briefen wird deutlich, wie viel Freude es ihm machte, seine Freunde mit Kaffee, Kuchen und anderen bescheidenen Köstlichkeiten zu bewirten, die er auf seinem besten Porzellan servierte. McNeil hatte sich einmal beschwert, dass einige andere Mitglieder des Zirkels als Gastgeber keinen Imbiss servierten, während er stets dafür sorgte, und Lovecraft war offenbar entschlossen, in dieser Hinsicht keinen Anlass zur Kritik zu geben. Am 29. Juli kaufte er für 49 Cent eine Aluminiumkanne, um von einem Schnellimbiss an der Ecke State und Court Street heißen Kaffee holen zu können. Offensichtlich war es ihm nicht möglich, in seiner Wohnung welchen zu kochen. Dazu kaufte er Apfel- und Streuselkuchen – letzterer wurde besonders von Rheinhart Kleiner geschätzt – und andere Backwaren. Als Kleiner einmal zu einem Treffen nicht erschien, vermerkte Lovecraft düster: »Es ist eine enorme Menge Streuselkuchen übrig geblieben & da sind noch vier Apfeltörtchen. Mein Speiseplan für die nächsten zwei Tage steht also schon fest!! Ironischerweise habe ich den Streuselkuchen extra für Kleiner gekauft, der ihn besonders schätzt & am Ende kam er nicht. Also muss ich, der Streuselkuchen nicht besonders mag, im Interesse der Sparsamkeit unglaubliche Mengen davon verzehren.«97 Wenn es noch irgendeiner Bestätigung bedarf, wie arm Lovecraft war, dann hat man sie hier.

      Einige neue Bekannte erschienen um diese Zeit in Lovecrafts Gesichtskreis. Wilfred Blanch Talman (1904–1986) war ein Amateurschriftsteller, der während seines Studiums an der Brown University auf eigene Kosten einen schmalen Gedichtband mit dem Titel Cloisonné and Other Verses (1923) hatte drucken lassen,98 den er im Juli an Lovecraft geschickt hatte.. Die beiden trafen sich zum ersten Mal im August, und Lovecraft fasste sofort Zuneigung zu ihm. »Er ist ein prächtiger junger Kerl – groß, rank & schlank & mit aristokratischen, regelmäßigen Gesichtszügen, hellbraunem Haar & einem exzellenten Geschmack, was Kleidung betrifft … Er ist ein Nachkomme der ältesten holländischen Familien des Staates New York & hat vor Kurzem begonnen, sich für Ahnenforschung zu begeistern.«99 Talman wurde später Reporter für die NEW YORK TIMES und Herausgeber des TEXACO STAR, der Firmenzeitung des gleichnamigen Ölkonzerns. Er versuchte sich gelegentlich als professioneller Erzähler, und Lovecraft überarbeitete später einmal eine seiner


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