H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


Скачать книгу
Möbel sind auch Gegenstand einer der bemerkenswertesten Passagen in Lovecrafts Briefen an seine Tanten, die zugleich eine präzise Momentaufnahme seiner Stimmung in der schwärzesten Phase seiner New Yorker Zeit bietet. Lillian hatte (vielleicht als Reaktion auf Lovecrafts langatmigen Bericht vom Kauf seines neuen Anzugs) in einem ihrer Briefe bemerkt, dass »Besitz eine Last« sei. Im August 1925 holte Lovecraft zu einer Antwort aus:

      Jeder Mensch hat einen anderen Grund zu leben … d. h. für jeden Menschen gibt es eine Sache oder eine Gruppe von Dingen, die das Zentrum all seiner Interessen & den Kern all seiner Gefühle bilden & ohne die das bloße Überleben nicht nur keinerlei Bedeutung hat, sondern oft zu einer unerträglichen Last und Qual wird. Diejenigen, für die alte Erinnerungen & Besitztümer nicht dieses zentrale Interesse & diese zentrale Lebensnotwendigkeit sind, sollen ruhig salbungsvolle Predigten über die »Abhängigkeit von weltlichen Besitztümern« halten – solange sie ihre Ansichten nicht anderen aufzwingen.

      Und worin sieht Lovecraft dieses »Zentrum all seiner Interessen«?

      Was mich betrifft, so ist das Einzige, was mir Vergnügen bereitet und wofür ich Interesse aufbringen kann, in meinem Geist vergangene und bessere Tage wiedererstehen zu lassen – denn offen gestanden, habe ich keine Hoffnung, jemals ein mir wirklich angemessenes Umfeld zu finden oder wieder unter zivilisierten Menschen zu leben, die die alten Erinnerungen an die Yankee-Geschichte pflegen. Also muss ich mich, um dem Wahnsinn zu entgehen, der zu Gewalttätigkeit & Selbstmord führt, an den paar Fetzen alter Zeiten und alter Sitten festhalten, die mir übrig geblieben sind. Daher soll niemand von mir erwarten, dass ich die sperrigen Möbel & Gemälde & Uhren & Bücher aufgebe, mit deren Hilfe ich weiterhin von der Angell Street 454 träumen kann. Wenn sie dahin sind, dann werde auch ich dahin sein, denn ohne sie wäre es mir unmöglich, morgens die Augen zu öffnen und einem weiteren bewusst erlebten Tag entgegenzusehen, ohne vor Verzweiflung zu schreien & den Kopf gegen Wand und Fußboden zu hämmern, in der Hoffnung, aus dem Albtraum, den wir Realität nennen, in meinem alten Zimmer in Providence aufzuwachen. Ja, solche Empfindlichkeiten kommen äußerst ungelegen, wenn man kein Geld hat, aber es ist einfacher, sie zu kritisieren, als sie zu heilen. Wenn ein armer Narr, der an ihnen leidet, sich aufgrund einer vorübergehenden perspektivischen Täuschung & Unkenntnis der Welt ins Exil begibt & auf die falsche Bahn gerät, dann ist das einzig Richtige, ihn so lange wie möglich an seinen armseligen Fetzen festhalten zu lassen. Sie sind sein ganzes Leben.7

      In diesen herzzerreißenden Sätzen scheinen sich das ganze Elend und die Perspektivlosigkeit von Lovecrafts New Yorker Zeit zu verdichten. Keine Spur mehr von dem selbstbewussten »wenn ich wieder nach Hause komme«. Jetzt sieht Lovecraft »keine Möglichkeit« mehr, jemals in die Heimat zurückzukehren. Wie Lillian darauf reagierte, dass ihr einziger Neffe allen Ernstes – oder zumindest im Ton bittersten Sarkasmus – davon spricht, seinem Leben ein Ende zu machen und mit den Fäusten gegen die Wände zu schlagen, wissen wir nicht. Seltsamerweise scheint das Thema in den folgenden Briefen zwischen den beiden nicht mehr angesprochen worden zu sein.

      Es gibt eine merkwürdige, von anderer Seite kolportierte Anekdote, die vielleicht in diesen Zusammenhang gehört. Winfield Townley Scott berichtet, dass Lovecraft, nach Aussage von Samuel Loveman, während der letzten Monate seiner New Yorker Zeit »immer eine Ampulle mit Gift bei sich herumtrug«, um seinem Dasein ein Ende zu machen, wenn seine Lage unerträglich würde.8 Um ehrlich zu sein, halte ich diese Geschichte für einigermaßen absurd. Ich glaube, dass Loveman sie schlicht und einfach erfunden hat. Es gibt jedenfalls keinerlei Bestätigung für den Wahrheitsgehalt dieser Anekdote, und sie wird auch sonst von keinem Freund oder Briefpartner Lovecrafts erwähnt – obwohl man eigentlich vermuten sollte, dass Lovecraft eine so persönliche Sache eher Frank Belknap Long als Loveman anvertraut hätte. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Lovecraft, selbst in einer so schwierigen Zeit seines Lebens, derart starke suizidale Tendenzen entwickelte. Sogar wenn man Passagen wie die oben zitierte miteinbezieht, ist der allgemeine Ton der Briefe an seine Tanten keineswegs durchgehend bedrückt oder schwermütig. Lovecraft tat alles, was in seiner Macht stand, um seinen Lebensumständen positive Seiten abzugewinnen, und seine historischen Erkundungen und die Gesellschaft enger Freunde bildeten ein echtes Gegengewicht zu seinen drückenden Problemen

      Aber wie stand es um sein Verhältnis zu Sonia? Wenn Lovecraft in seinem oben zitierten Brief von »einer vorübergehenden perspektivischen Täuschung« und seiner »Unkenntnis der Welt« spricht, kann sich das eigentlich nur auf seine Ehe mit Sonia beziehen, die er damit für gescheitert erklärt. Etwa um dieselbe Zeit findet sich auch in einem der Briefe von George Kirk an seine Verlobte eine beiläufige Bemerkung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: »Urteile nicht zu hart über Mrs. L. Wie schon gesagt, ist sie zurzeit im Krankenhaus. H. machte ziemlich deutlich, dass sie sich trennen werden.«9 Der undatierte Brief, aus dem dieses Zitat entnommen ist, stammt wahrscheinlich aus dem Herbst 1925. Unklar ist allerdings, worauf sich Kirks Bemerkung über Sonias Krankenhausaufenthalt bezieht. Weder in Lovecrafts Briefen an seine Tanten noch anderswo wird ein solcher in dieser Zeit erwähnt. Auch wenn Lovecraft von einer Rückkehr nach Neuengland sprach, war fast immer davon die Rede, dass er sich gemeinsam mit Sonia dort niederlassen wollte. So schreibt er etwa im Juni an Maurice W. Moe: »Der Tumult und die Menschenmassen von N.Y. schlagen ihr aufs Gemüt, wie mir inzwischen auch, und wenn sich die Möglichkeit ergibt, wollen wir diesen Moloch ein für alle Mal hinter uns lassen. Ich … hoffe, den Rest meines Lebens in Neuengland verbringen zu können.«10

      In seinen erhaltenen Briefen an Lillian spricht Lovecraft das Thema erst im Dezember wieder an:

      Was die Wohnortfrage angeht – du meine Güte, S. H. würde mich nur allzu gern dabei unterstützen, mich dort niederzulassen, wo mein Geist am ehesten Ruhe findet & am produktivsten sein kann! Was ich mit der »Drohung einer Rückkehr nach N. Y.« meinte, war die Frage des Broterwerbs, wie zum Beispiel das Paterson-Projekt. Denn bei meinen mageren Finanzen wäre praktisch jede Möglichkeit zum Geldverdienen etwas, das ich guten Gewissens nicht ausschlagen kann. Solange ich in N. Y. bin, könnte ich so etwas vielleicht mit philosophischem Gleichmut ertragen. Doch wenn ich zurückgekehrt bin, wäre die Aussicht, wieder fortgehen zu müssen, unerträglich. Wenn ich einmal zurück in Neuengland bin, muss ich dort bleiben können – und von da an in Boston oder Providence oder Salem oder Portsmouth nach Stellen suchen, statt meine Augen auf Manhattan oder Brooklyn oder Paterson oder ähnliche entfernte & unvertraute Gegenden zu richten.11

      Aus dieser Passage geht klar hervor, dass die Frage zwischen Lovecraft und seiner Tante schon zuvor diskutiert wurde, die »Drohung einer Rückkehr nach N.Y.«, die Lovecraft anführt, findet sich allerdings in keinem der erhaltenen Briefe. Es wird jedoch deutlich, dass Lillian ihm offenbar vorgeschlagen hatte, vorübergehend nach Neuengland zurückzukehren. Eine solche vorübergehende Rückkehr ist für Lovecraft aber ausgeschlossen. Im Folgenden schreibt er, dass »S. H. meinen Plan einer endgültigen Rückkehr nach Neuengland voll und ganz unterstützt & selbst vorhat, in einiger Zeit nach beruflichen Möglichkeiten in der Gegend von Boston Ausschau zu halten.« Dann singt Lovecraft ein Loblied auf Sonia, das trotz seines gestelzten Tons etwas Anrührendes hat:

      S. H.s Haltung zu all diesen Fragen ist von solcher Güte & Großherzigkeit, dass jede Absicht einer dauerhaften Trennung meinerseits ein Akt der Barbarei wäre & allen Prinzipien des guten Geschmacks zuwiderlaufen würde, die einen dazu zwingen, eine Hingabe der selbstlosesten Art & ungewöhnlichsten Intensität anzuerkennen und hoch zu schätzen. Niemals habe ich eine bewundernswürdigere Haltung von Uneigennützigkeit & Beflissenheit erlebt, die das beständige Scheitern meiner Bemühungen, finanziell auf eigenen Füßen zu stehen, hinnimmt & verzeiht, sobald es sich als unvermeidlich herausgestellt hat & die selbst meine Aussage akzeptiert …, dass das Einzige, was ich wirklich zum Leben brauche, ein gewisses Maß an Ruhe & Freiheit ist, um mich kreativer literarischer Arbeit widmen zu können … Eine Hingabe, die diese Kombination von Unfähigkeit & ästhetischer Eigensucht ohne Murren hinnehmen kann, obwohl sie doch allen ursprünglich gehegten Erwartungen zuwiderlaufen muss, ist gewiss ein Phänomen, das so selten ist und jener Eigenschaft, die man ehedem als Heiligkeit bezeichnet hat, so nahekommt, dass niemand, der auch nur über den mindesten künstlerischen Sinn für Proportion verfügt, sie anders erwidern kann


Скачать книгу