SONNENBRAND. Peter Mathys

SONNENBRAND - Peter Mathys


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Phobos und Deimos. Der Schwarm umfasst sie und fliegt weiter zum Planeten hinunter. Eine große Enttäuschung. Der Rote Planet ist tot, seine beiden Trabanten ebenfalls. Nur einige Sporen in den Ritzen zwischen den Felsblöcken deuten auf vergangenes Leben hin. Aber das Urgedächtnis des Schwarms weiß mehr. Unter widrigen Umständen brauchen Sporen weder Wasser noch Nährstoffe. Sauerstoff sowieso nicht. Gewisse Sporen überdauern lebend mehrere Hundert Jahre. Wenn wir uns an ihnen festhalten, entstehen vielleicht richtige Zellen. Das wäre ein gewaltiger wissenschaftlicher Erfolg.

      Der Schwarm handelt rasch. Er zieht die beiden Teilschwärme zurück, die er auf Phobos und Deimos angesetzt hat. Zusammen machen sie ein Viertel des Gesamtschwarms aus, mehr als hundert Milliarden Viren. Er stellt fest:

      »Das genügt bei Weitem, um einen Tochterschwarm zu bilden. Und wenn wir Mars unter Kontrolle haben, steht diese ganze Galaxis mit ihren Sonnensystemen und Planeten zu unserer Verfügung. Wichtig ist, die Sporen sorgfältig zu pflegen, dann dienen sie uns als Nährstoff für die Viren. Dies ist dann der Moment, zu anderen Sonnensystemen aufzubrechen, Alpha Centauri zum Anfang. Das Schöne ist, wir bleiben unentdeckt, bis es zu spät ist. Für sie zu spät, nicht für uns. Ihre Planeten verändern sich nicht, bloß das Leben darauf wird leiden. Einige werden mit einem Schnupfen davonkommen, andere kriegen unheilbare Atembeschwerden, und wieder andere werden an Lungenentzündung sterben. Das Ist sehr gut, da werden auch die technische und die philosophische Entwicklung der Menschen empfindlich leiden, und wir könne diskret wachsen, hrr … hrr …!

      Der Schwarm hat auch die Fähigkeit, mit sich selber zu reden und zu argumentieren. Solche Dialoge entstehen in allen Viren im selben Moment gleichzeitig, ebenso die Antworten.

      Frage: »Und wenn die Aufzucht der Sporen auf dem Mars misslingt?«

      Antwort: »Dann suchen wir ein paar Tausend Erdjahre lang weiter.«

      Doktor Bauer, kahl und ständig lächelnd, klopft die Asche von seiner Zigarre. Auf dem Tisch steht eine Vase mit langstieligen gelben Rosen. Ein Besucher hat sie stehen lassen.

      Oskar Bauer erklärt: »Die Anzahl Neuansteckungen und die Zahl der Todesfälle sind nun seit zehn Tagen regelmäßig zurückgegangen. Das lässt mich schließen, dass das Schlimmste hinter uns liegt.«

      »Lieber Kollege, ich kann Ihnen nicht folgen«, sagt Doktor Degenhart in seinem gemütlich bayrischen Dialekt.

      »Ihre Begründung?«

      Doktor Emil Wetter, Chefarzt des Inselspitals von Bern, ein kleiner Napoleon, zieht das Wort an sich und sagt: »Wir arbeiten alle mit denselben Tatsachen, nur die Schlussfolgerungen stimmen nicht überein.« Dazu nicken die anderen zustimmend. Doktor Wetter fährt fort: »Ich wäre nicht persönlich zu dieser Sitzung gefahren, wenn mich nicht die Entwicklung dieser Seuche aufs Äußerste alarmieren würde.« Er fixiert Doktor Degenhart. »Es würde mich sehr interessieren, wie unser Münchner Kollege die Lage einschätzt.«

      »Mich auch!«, ruft Oskar Bauer ins Rund.

      »Aber gerne, verehrte Herren Kollegen«, sagt Wolfgang Degenhart unaufgeregt. »Die Weltgesundheitsorganisation hat dem neuen Virus die Bezeichnung n-Virus verliehen. Wie es entsteht, weiß man noch nicht, was es bewirkt schon. Wenn es auf Menschen trifft, bildet es im Blut seines Opfers zunächst mikroskopisch kleine Partikel, die rasch wachsen. Auf der Haut entstehen daraus oft rote Pusteln, die einen heftigen Juckreiz auslösen können. Was jedoch mit dem Virus geschieht, wenn es keinen Kontakt mit Menschen hat, weiß man noch nicht. Bemerkenswert ist, dass es sich mit den neuesten Superteleskopen laut den Forschungen auch auf dem Mond nachweisen lässt. Das lässt den Schluss zu, dass das Virus vom Mond auf die Erde gelangt ist.«

      »Oder umgekehrt«, ergänzt Oskar Bauer.

      »Möglich«, bestätigt Degenhart. »Auf jeden Fall zeichnet sich hier ein Beweis ab, dass sich das n-Virus frei im Weltall bewegen kann. Nochmals: Ich wäre nicht erstaunt, wenn es auch auf dem Mars nachgewiesen werden könnte.«

      Doktor Wetter sagt: »Ich gehe davon aus, dass Kollege Degenhart uns seine Erkenntnisse dokumentarisch belegt. Dann neige ich zur These Mond  Erde. Das Virus wäre dann mit oder ohne Mars Teil einer großen Familie, die durchs Weltall vagabundiert, bis sie einen Planeten findet, der genügend Wirtskörper für die Viren zur Verfügung stellen kann. Diese Voraussetzung ist auf der Erde mehr als reichlich erfüllt; der Mond wäre dann für die Viren eine bloße Zwischenstation auf dem Weg zur Erde.«

      Jetzt meldet sich Doktor Bauer. »Auch damit wissen wir nicht, woher das Virus wirklich stammt. Da wir diese Frage kurzfristig nicht klären können, müssen wir uns auf das Abwehrmittel konzentrieren, an dem die Wissenschaft arbeitet.«

      »Und auf unsere Patienten«, erinnert Wolfgang Degenhart.

      Der Schwarm besteht aus der Summe aller Viren. Er überprüft seine eigene Argumentation laufend, indem er sie ausspricht. So sind auch alle Viren immer informiert. Aussprechen bedeutet hier nicht, Laute zu äußern, die von jemand anderem verstanden werden. Die Informationsübermittlung ist viel komplexer. Sie besteht aus virtuellen Spuren, die mit Lichtgeschwindigkeit zu den einzelnen Viren befördert und dort in materielle Impulse umgewandelt werden. Dieser Prozess kann von jedem Virus in Gang gesetzt werden. Jetzt gerade haben folgende Impulse materialisiert:

      Zürich, Kantonsspital

      Frau, 38 Jahre

      Anita Berger

      Bereits infiziert.

      Kommentar: Am Objekt können wir lernen.

      Frage: Wie viele Viren verträgt sie? Was geschieht mit ihren Viren, wenn sie stirbt?

      Beschluss: Sofort Beginn Bearbeitung des Objekts.

      Nach zwei Wochen wird Anita Berger von der Intensivstation in die normale Station verlegt, schon weil das Personal überlastet ist und die Betten überbeansprucht sind. Sie spricht, nur leise, fühlt sich schwach und denkt immer mehr ans Sterben. Doktor Bauer steht vor einem Rätsel. Seine anderen n-Virus-Patienten, die den ersten Anfall überlebt haben, erholen sich langsam und dürfen nach einer Ruhepause das Krankenhaus verlassen. Anitas Erholung jedoch bleibt auf halber Strecke stehen. Ihre Schwester Theodora verbringt jeden Tag Stunden bei ihr, meistens am Abend, bis Anita in einen unruhigen Schlummer versunken ist. Sie ist traurig, weil sie spürt, dass die Lebenszeit ihrer Schwester langsam, aber sicher verrinnt.

      Am siebzehnten Tag ihres Spitalaufenthalts macht Doktor Bauer bei der Routineuntersuchung eine erschreckende Feststellung. Bei Anita haben sich am ganzen Körper große rote Pusteln gebildet; nur der Kopf ist freigeblieben. Es sieht hässlich aus, aber Anita ist dankbar, dass die Pusteln nicht jucken. Der Arzt geht systematisch vor. Vorsichtig zwackt er eine Pustel ab und trägt sie ins Labor zur Untersuchung. Unterdessen bringt eine junge Pflegerin auf einem Tablett eine Kanne Tee zu Anita. Aber der Anblick ihrer pustelübersäten Patientin erschreckt sie dermaßen, dass sie das Tablett fallen lässt und fluchtartig das Krankenzimmer verlässt. Anita stößt einen Schrei aus. In dem Augenblick betritt Theodora das Zimmer. Sie erfasst das ganze Unglück mit einem Blick, die Pusteln, die Scherben, die Teelache, ihre entsetzte Schwester im Bett. Sie geht zu ihr, streicht ihr ein verschwitztes Haarbüschel aus der Stirne und küsst sie.

      Sie sagt: »Du Ärmste! Was haben sie mit dir gemacht?«

      Anita erwidert, schwer atmend: »Ich glaube nichts. Sie wissen nicht weiter.«

      Theodora: »Ich will den Arzt sprechen. Sofort!«

      Aber Doktor Bauer steht schon im Zimmer, hinter ihm die Pflegerin mit Putzmaterial. Er geht zum Bett von Anita und sagt:

      »Frau Berger, was da passiert ist, tut mir leid und ist mir peinlich. Ich entschuldige mich dafür in aller Form. Ich darf jedoch beifügen, dass wegen der n-Virus-Pandemie unser Spital überfüllt ist. Außerdem fehlen uns über zwanzig qualifizierte Pflegekräfte und sieben Ärzte. Die junge Mitarbeiterin – sie ist keine Pflegerin, sondern ausgebildete IT-Sachbearbeiterin – arbeitet erst seit vier Tagen aushilfsweise bei uns und hat noch keine Erfahrung im Umgang mit Patienten.«

      Jetzt macht sich Anita bemerkbar. Sie legt ihren linken Arm


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