Kommentar zum Briefe des Heiligen Paulus an die Römer. Johannes Chrysostomos
und widerspruchsvoll erscheinen, daß einer, der weder von Gesetz noch Propheten gehört hat, für gute Werke belohnt werden soll. Darum bereitete der Apostel, wie ich schon sagte, seine Leser darauf vor, wo er von den Zeiten sprach, die der Gnade vorausgehen, damit sie ihm später, wenn er von der Zeit der Gnade sprechen wird, um so leichter Beifall zollen. Denn da ist er ganz unverdächtig, da er ja nicht etwas behauptet, was in seinem Interesse liegt. Nach den Worten: „Herrlichkeit und Ehre und Friede jedem, der das Gute betreibt, dem Juden in erster Linie und dem Heiden“, fährt er fort: „Denn bei Gott gilt kein Ansehen der Person.“ Wahrhaftig, diese Begründung ist schlagend! Paulus führt nämlich aus, daß es widersinnig wäre und Gott gar nicht entspräche, wenn es nicht so wäre; denn dann gäbe es ja ein Ansehen der Person. Das gibt es aber bei Gott nicht. Er sagt indes nicht: „Wenn dem nicht so wäre, so gäbe es bei Gott ein Ansehen der Person“, sondern etwas zarter: „Denn bei Gott gilt kein Ansehen der Person.“ D. h. Gott schaut nicht auf die Beschaffenheit der Person, sondern das Unterscheidende für ihn liegt im Werke. Damit bringt er zum Ausdruck, daß den Juden vom Heiden nur die Person, nicht die Werke unterscheiden. Dem entsprechend war zu sagen: Nicht weil der eine ein Jude, der andere ein Heide ist, wird der eine belohnt, der andere bestraft, sondern das eine wie das andere geschieht mit Rücksicht auf die Werke. Doch der Apostel sagt nicht so — er hätte nämlich dadurch den Zorn der Juden erregt —, sondern er bringt noch etwas anderes, wodurch er ihren Hochmut niederdrückt und sie für die Annahme (seiner oben vorgetragenen Lehre von der Gleichheit der Juden und Heiden) empfänglicher macht. Was ist das? Das, was folgt:
V. 12: „Die ohne das Gesetz gesündigt haben, werden auch verloren gehen ohne das Gesetz, und die in dem Gesetze gesündigt haben, werden durch das Gesetz gerichtet werden.“
Hier zeigt der Apostel, daß Jude und Heide nicht bloß gleichartig seien, wie ich schon sagte, sondern daß der Jude durch das Geschenk des Gesetzes sogar noch eine Belastung erfahre; denn der Heide wird ohne Gesetz gerichtet. Das „ohne Gesetz“ will aber hier nicht einen Nachteil besagen, sondern einen Vorteil, nämlich den, daß er das Gesetz nicht zum Ankläger hat. Denn dieses „ohne das Gesetz“ ist dasselbe, wie wenn er sagte: Er wird, abgesehen von dem Maßstab des Gesetzes, einzig und allein aus Gründen der natürlichen Vernunft verurteilt werden. Der Jude aber „in dem Gesetze“ d h. nach der Anklage, die Natur und Gesetz gegen ihn vorbringen; denn je größerer Fürsorge er sich erfreut hat, desto größer wird auch die Strafe für ihn sein.
5.
Siehst du daraus, wieviel mehr der Apostel den Juden die Notwendigkeit nahelegt, sich um die Gnade zu bemühen? Da sie nämlich behaupteten, sie bedürften der Gnade nicht, da sie durch das Gesetz allein gerechtfertigt seien, zeigt er ihnen, daß sie der Gnade noch mehr bedürftig seien als die Heiden, da ihnen die Strafe noch mehr bevorstehe. — Dann führt er noch einen anderen Grund zur Verteidigung seiner Behauptung an:
V. 13: „Denn nicht die Hörer des Gesetzes sind gerecht bei Gott.“
Treffend setzt der Apostel hinzu: „bei Gott“; denn bei den Menschen können sie wohl untadelig erscheinen und sich etwas darauf zugute tun, bei Gott aber steht die Sache ganz anders.
„Nur die Befolger des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“ — Siehst du, mit welchem Nachdruck der Apostel die Rede ins Gegenteil wendet? Wenn du meinst, sagt er, durch das Gesetz gerettet zu werden, so steht dir der Heide dadurch voran, daß er als Befolger dessen erscheint, was ihm ins Herz geschrieben ist. — Aber wie ist es möglich, fragst du, daß jemand, der nicht Hörer (des Gesetzes) ist, ein Befolger (desselben) sein kann? Nicht allein das ist möglich, antwortet der Apostel, sondern noch viel mehr als das. Man kann nämlich nicht bloß, ohne ein Hörer des Gesetzes zu sein, doch ein Befolger desselben sein, sondern man kann ein Befolger auch nicht sein, trotzdem man ein Hörer gewesen ist. Dasselbe spricht der Apostel später noch klarer und mit noch mehr Nachdruck aus, wenn er sagt: „Einen andern belehrst du, dich selber aber belehrst du nicht?“ Nun führt er vorläufig das erstere näher aus.
„Denn wenn die Heidenvölker, die das Gesetz nicht haben, von Natur die Forderungen des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die kein Gesetz haben, sich selbst Gesetz.“
Ich verwerfe nicht das Gesetz, will der Apostel sagen, sondern ich rechtfertige die Heiden eben daraus. Siehst du, wie er, während er die überragende Stellung des Gesetzes untergräbt, doch keine Handhabe zu der Beschuldigung bietet, als mißachte er das Gesetz, sondern wie er im Gegenteil das Ganze so dreht, als halte er eine Lobrede auf das Gesetz, als stelle er es als etwas Großes dar? Wenn er von der „Natur" spricht, so meint er damit die natürliche Vernunft. Er zeigt, daß die Heiden besser seien als die Juden, ja noch mehr, eben gerade deswegen besser, weil sie das Gesetz nicht empfangen haben und das nicht besitzen, worauf sich die Juden soviel zugute tun. Eben darum, sagt er, sind die Heiden der Bewunderung wert, daß sie des Gesetzes nicht bedurften und doch die Forderungen des Gesetzes alle erfüllten. Die Werke des Gesetzes, nicht dessen Buchstaben gruben sie in ihre Seelen ein. Der Apostel sagt nämlich:
*V. 15: „Sie zeigen ja, daß das Gesetzeswerk ihnen ins Herz geschrieben ist, indem ihr Gewissen ihnen zugleich Zeuge ist, wobei ihre eigenen Gedanken sich gegenseitig anklagen und lossprechen“
V. 16: „am Tage, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird meinem Evangelium nach durch Jesus Christus.“ *
Siehst du, wie der Apostel wieder jenen Tag (des Gerichtes) vor Augen stellt und heranzieht, um die Juden in ihrem Innern zu erschüttern und ihnen zu zeigen, daß die mehr Belohnung verdienen, welche ohne Gesetz sich Mühe gegeben haben, die Forderungen des Gesetzes zu erfüllen? Hier sei verdienterweise aufmerksam gemacht auf die bewundernswerte Klugheit des Apostels. Seine ganze Beweisführung läuft darauf hinaus, zu zeigen, daß der Heide über dem Juden stehe; in der ganzen Gedankenkette und auch am Schluß derselben spricht er aber diesen Satz nicht ausdrücklich aus, um den Juden nicht zu reizen. Um klarer zu machen, was ich gesagt habe, will ich die Worte des Apostels noch einmal anführen. Nachdem er gesagt hatte: „Nicht die Hörer des Gesetzes, sondern die Befolger desselben werden gerechtfertigt werden“, wäre es folgerichtig gewesen, fortzufahren: Wenn nun die heidnischen Völker, welche das Gesetz nicht haben, auf Antrieb der Natur das tun, was des Gesetzes ist, so sind sie viel besser als die, welche durch das Gesetz belehrt sind. Das sagt er aber nicht, sondern er hält inne mit der Lobrede auf die Heiden und spinnt den Vergleich zwischen Heiden und Juden nicht weiter aus, damit seine Ausführungen auch dem Juden annehmbar werden. Er fährt darum nicht so fort, wie ich es sagte, sondern wie? „Denn wenn die Heidenvölker, die das Gesetz nicht haben, von Natur die Forderungen des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die kein Gesetz haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen ja, daß das Gesetzeswerk ihnen ins Herz geschrieben ist, indem ihr Gewissen ihnen zugleich Zeuge ist.“ Statt des Gesetzes genügt das Gewissen und die Vernunft. Damit zeigt er wieder, daß Gott den Menschen mit der Fähigkeit geschaffen habe, die Tugend zu wählen und das Laster zu fliehen. Wundere dich nicht, daß der Apostel dasselbe einmal und zweimal und noch öfter beweist. Er mußte nämlich diesen Hauptpunkt ganz besonders stark betonen, um dem Einwand zu begegnen: Warum ist Christus erst jetzt gekommen? Wo blieb die ganze Zeit vorher die (göttliche) Leitung? Gegen diesen Einwand wendet er sich nebenbei, indem er zeigt, daß auch in den Zeiten vor Christus, auch vor der Gesetzgebung (des Alten Bundes) die Menschennatur sich der (göttlichen) Leitung erfreute. Denn das, was erkennbar ist an Gott, war ihnen offenbar, und auch Gut und Bös wußten sie zu unterscheiden und richteten danach ihre andern Mitmenschen. Das macht er ihnen gerade zum Vorwurf, wenn er sagt: „Worin du einen andern richtest, darin verurteilst du dich selbst.“ Gegen die Juden tritt aber außerdem noch das Gesetz als Ankläger auf, nicht bloß die Vernunft und das Gewissen. — Weshalb fügt der Apostel hinzu: „wobei ihre eigenen Gedanken sich anklagen und lossprechen“? Denn wenn sie das Gesetz geschrieben in sich tragen und das Gesetzeswerk aufweisen, was hat da noch die Vernunft anzuklagen? Nun, der Apostel meint dies nicht bloß von guten Werken (im Sinne des Gesetzes), sondern von dem ganzen Gebiete des sittlichen Tuns. An jenem Tage werden unsere eigenen Gedanken auftreten, teils zur Anklage, teils zur Verteidigung; einen andern Ankläger wird der Mensch bei jenem Gerichtshofe gar nicht nötig haben. — Hierauf sagt er, um die Furcht zu vermehren, nicht: „die Sünden