Kommentar zum Briefe des Heiligen Paulus an die Römer. Johannes Chrysostomos
entgehen wirst?“ fährt er fort — damit du nicht bloß dasselbe Urteil erwartest, wie du es selbst fällst, sondern damit du weißt, daß das Urteil Gottes noch strenger ist —: „das Verborgene der Menschen“, und fügt hinzu: „meinem Evangelium nach“. Menschen richten nämlich nur über äußere Handlungen. Oben hat er nur vom Vater gesprochen; aber weil er seine Zuhörer noch mehr in Furcht setzen will, bringt er nun auch Christus in die Rede herein. Aber er tut es nicht ohne weiteres, sondern erst nachdem er des Vaters Erwähnung getan. Dadurch erhöht er die Würde des Predigtamtes. Unser Predigtamt, will er damit sagen, bringt dasselbe zu Verkündigung, was vorher schon die Natur verkündigt hat.
6.
Siehst du, wie klug der Apostel seine Zuhörer an das Evangelium und an Christus heranbringt und sie an dasselbe fesselt? Wie er ihnen zum Bewußtsein bringt, daß unser Leben sich nicht bloß auf das Diesseits beschränkt, sondern weiter reicht? Es ist derselbe Gedanke, den er oben ausgesprochen hat: „Du häufst dir Zorn auf den Tag des Gerichtes“ 76 und hier wieder: „Gott wird das Verborgene der Menschen richten.“
Es gehe daher jeder mit seinem Gewissen zu Rate, denke nach über seine Verfehlungen und gebe sich genaue Rechenschaft darüber, damit wir nicht mit der Welt verdammt werden. Denn furchtbar ist jenes Gericht, schauerlich der Richterstuhl, voller Schrecken die abzulegende Rechenschaft, ein Strom von Feuer fließt daher: „Ein Bruder erlöset ja nicht, erlöset ein anderer Mensch? 77 Denk an das, was im Evangelium gesagt ist von den hin- und hereilenden Engeln, von dem versperrten Hochzeitssaale, von den nicht verlöschenden Lampen, von den Mächten die zum Feuerofen schleppen! Stelle dir auch das vor: Eine geheime Sündentat jemandes von uns würde bloß vor dieser Versammlung ans Licht gezogen. Würde sich ein solcher nicht wünschen, lieber zu vergehen und daß sich die Erde vor ihm auftue, als so viele Zeugen seiner Sünde zu haben? Was werden wir erst dann erleiden, wenn vor der ganzen Welt alles ans Licht gezogen werden wird auf dieser so glänzenden allseits sichtbaren Schaubühne, wo alle, Bekannte und Unbekannte, ihre Blicke auf uns richten werden! Aber ach! womit suche ich zu schrecken! Mit Furcht vor den Menschen! Sollte ich es nicht vielmehr tun mit Furcht vor Gott und seinem Verdammungsspruch? Wie wird uns dann zumute sein, sag’ mir, wenn wir werden gebunden und zähneknirschend hinausgeworfen werden in die äußerste Finsternis! Was werden wir erst machen, wenn wir — was das Schrecklichste von allem ist — Gott unter die Augen treten sollen! Hat jemand Gefühl und Verstand, so heißt es für ihn schon die Hölle ausstehen, wenn er aus Gottes Augen verwiesen wird; aber weil das von vielen nicht schwer empfunden wird, darum droht Gott mit dem Feuer. Eigentlich sollten wir betrübt sein, nicht wenn wir gestraft werden, sondern wenn wir sündigen. Höre nur, wie Paulus weint und klagt über Sünden, für die ihm keine Strafe bevorstand, „ich bin nicht würdig“, spricht er, „Apostel zu heißen, weil ich die Kirche verfolgt habe“ 78. Höre auch David, wie er, obzwar freigesprochen von der Strafe, doch die Strafe Gottes über sich herabruft, weil er glaubt, Gott beleidigt zu haben. Er spricht: „Deine Hand komme über mich und über das Haus meines Vaters 79. Gott beleidigt zu haben, ist viel schlimmer als gestraft zu werden. Nun sind wir aber so erbärmlich gesinnt, daß wir uns, wenn es keine Hölle gäbe, nicht leicht zu einer guten Tat bewegen ließen. Darum hätten wir eigentlich die Hölle, wenn schon wegen nichts anderem, deswegen verdient, weil wir sie mehr fürchten als Christus. Doch nicht so (gesinnt) war der hl. Paulus, sondern ganz das Gegenteil. Weil aber wir anders (gesinnt) sind, darum werden wir zur Hölle verdammt. Wenn wir Christus so liebten, wie wir sollten, würden wir erkennen, daß es schlimmer als die Hölle ist, den Geliebten beleidigt zu haben. Weil wir ihn aber nicht (so) lieben, erkennen wir auch die Größe der Strafe nicht, die darin liegt. Und das ist es, was ich am meisten beklage und beweine. Was hat Gott nicht alles getan, um von uns geliebt zu werden? Was hat er alles ins Werk gesetzt? Was hat er unterlassen? Wir haben gefrevelt gegen ihn, und doch hatte er uns nichts zuleid getan, sondern uns unaussprechlich viele und große Wohltaten erwiesen; wir haben uns abgewandt von ihm, und doch hatte er uns zu sich gerufen und auf alle Weise an sich zu ziehen gesucht. Aber auch da hat er uns nicht gestraft, sondern er ist uns nachgegangen und hat uns, die Fliehenden, festgehalten. Wir aber haben nach ihm geschlagen und sind zum Teufel übergelaufen. Und auch jetzt ließ er nicht aus, sondern er schickte uns unzählige (Boten) nach, die uns zurückrufen sollten: Propheten, Engel, Patriarchen. Wir aber haben ihre Botschaft nicht nur nicht angenommen, sondern wir haben ihnen, als sie zu uns kamen, Schmach angetan. Und trotz alledem gab er uns noch nicht auf, sondern nach Art glühender Liebhaber, die sich verschmäht sehen, ging er herum und klagte es allen, die er traf, dem Himmel, der Erde, dem Jeremias, dem Michäas, nicht um sich über uns zu beschweren, sondern nur um sich selbst zu rechtfertigen für sein Verhalten. Ja, er trat sogar in der Person seiner Propheten vor die hin, die sich von ihm abgewendet hatten, bereit, ihnen Rechenschaft zu geben; er forderte sie auf, mit ihm zu rechten, er lud sie, die für alles taub waren, ein zu einer Unterredung mit ihm. „Mein Volk“, spricht er, „was habe ich dir getan? Oder womit habe ich dich betrübt? Antworte mir!“ 80 Auf alles das hin haben wir seine Propheten ermordet, gesteinigt und andere Übeltaten vollführt. Und was tat er daraufhin? Nicht mehr Propheten, nicht mehr Engel, nicht mehr Patriarchen sandte er, sondern — seinen Sohn. Getötet wurde auch der Sohn, als er kam; und nicht einmal das erlöschte seine Liebe, sondern fachte sie noch mehr an; er fährt fort, auch nach der Tötung seines Sohnes zu rufen, zu bitten und alles zu tun, damit wir uns zu ihm zurückwenden. Und Paulus ruft: „An Christi Statt sind wir Gesandte, als wenn Gott selbst durch uns ermahnte“ 81.
7.
Aber durch nichts von alledem hat er uns gewinnen können. Er hat uns aber auch da noch nicht verlassen, sondern er fährt fort, mit der Hölle zu drohen, das Himmelreich zu verheißen, um uns so an sich zu ziehen. Wir aber bleiben immer noch verstockt. Was kann es wohl Schlimmeres geben als solche Gefühllosigkeit? Wenn uns ein Mensch solches getan hätte, wären wir nicht oft und oft seine Sklaven geworden? Und Gott, der es getan hat, kehren wir den Rücken! O, des Leichtsinnes ! O, der Undankbarkeit! Wir leben in Sünden und Lastern dahin, und wenn wir je einmal ein klein wenig Gutes tun, dann zählen wir es nach Art undankbarer Sklaven mit großer Genauigkeit her und rechnen haarklein aus, was wir dafür zu erhalten haben und ob der Lohn dem Geleisteten entspricht. Der Lohn wird indes größer sein, wenn du nicht in der Hoffnung auf Lohn handelst. So reden und rechnen ist eher die Sprache des Mietlings als des dankbaren Dieners. Man muß alles um Christi willen tun, nicht um des Lohnes willen. Denn auch die Hölle hat er in der Absicht angedroht und den Himmel verheißen, damit er selbst von uns geliebt werde.
Lieben wir ihn also, wie wir ihn lieben sollen! Denn darin liegt der große Lohn, darin das Himmelreich und selige Lust, darin Genuß und Ruhm und Ehre, darin Licht, darin tausendfältige Seligkeit, die kein (menschliches) Wort ausdrücken, kein (menschlicher) Geist fassen kann. — Doch ich weiß nicht, wie ich mich mit meiner Rede soweit versteige, daß ich von Menschen, welche irdische Macht und Herrlichkeit nicht verachten, verlange, sie möchten um Christi willen das himmlische Reich verachten. Gleichwohl haben jene großen und edlen Männer einen solchen Grad der Liebe erreicht. Höre nur, wie Petrus für ihn entflammt ist, und ihn höher schätzt als Seele und Leben und alles. Als er ihn verleugnet hat, da ist er betrübt nicht nur der Strafe wegen, sondern weil er ihn, den innig Geliebten verleugnet hat. Das war für ihn bitterer als jede Strafe. Und alle diese Beweise seiner Liebe gab er, bevor er die Gnade des Hl. Geistes empfangen, und diese Gesinnung kommt in seinem Reden beständig zum Ausdruck: „Wohin gehst du?“ und vorher: „Zu wem sollen wir gehen?“ 82 und wiederum: „Ich folge dir, wohin immer du gehen magst.“ 83 Jesus war seinen Aposteln eben alles, und nicht einmal der Himmel mit seiner Herrlichkeit galt ihnen so viel, wie ihr Geliebter. Denn du bist uns alles das, sagten sie. Und was Wunder, daß Petrus so gesinnt war? Höre nur was auch der Prophet spricht: „Was habe ich im Himmel, und was habe ich gewollt auf der Erde?“ 84 Mit anderen Worten: Weder droben (im Himmel) noch hier unten (auf der Erde) verlange ich nach etwas anderem als nur nach dir. Das nenne ich Liebe, das nenne ich Freundschaft. Wenn wir einmal so lieben, dann gilt uns weder das Gegenwärtige etwas noch das Zukünftige im Vergleich zu dem Gegenstand unserer Liebe, und wir gewinnen den Himmel im Genuß seiner Liebe. Wie soll das möglich sein? heißt es. Wenn wir uns zu Gemüte führen, wie oft