Kommentar zum Briefe des Heiligen Paulus an die Römer. Johannes Chrysostomos
was wirklich geschehen ist, in die Form eines Annahmesatzes, indem er spricht:
„Gott bleibe wahrhaft, sei auch jeder Mensch ein Lügner.“
—Was er damit sagen will, ist etwa das: Ich behaupte nicht, daß einige Gott keinen Glauben schenkten; wenn du willst, nimm an, alle seien ungläubig gewesen. Was tatsächlich geschehen ist, gibt er bedingungsweise zu, um nicht in den Verdacht der Feindseligkeit zu kommen. Aber auch das, sagt er, dient dazu, Gott nur noch mehr zu rechtfertigen. Was heißt: zu rechtfertigen? Wenn man einmal das sichten und nebeneinanderstellen wollte, was Gott für die Juden getan, und was sie Gott angetan haben, dann steht der Sieg auf seiten Gottes, und alles von ihm ist Rechttun. Nachdem er das mit eigenen Worten klar gemacht hat, führt er noch den Propheten an, der auch ein Verdammungsurteil über sie ausspricht, wenn er sagt:
„Auf daß du gerecht erfunden wirst in deinen Worten und den Sieg zugesprochen erhältst, wenn man über dich urteilt“. 89
—Er hat von seiner Seite alles getan, sie aber wurden keineswegs besser. — Hierauf bringt er noch einen andern Einwand vor, der auftauchen könnte, indem er sagt:
V. 5: „Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit ins Licht setzt, was sollen wir daraus schließen? * Ist Gott nicht ungerecht, wenn er in seinem Zorne straft? — menschlich gesprochen.“ *
Das sei ferne! — Der Apostel erweist den Einwand als irrig, indem er eine unsinnige Folgerung daraus ableitet. Da das aber etwas unklar ist, muß ich mich deutlicher erklären. Was will er also sagen? Gott hatte den Juden Ehre angetan, sie aber haben ihn frevelhaft mißachtet. Das hat ihm den Sieg über sie verschafft; denn es gab ihm Gelegenheit, seine große Liebe zu den Menschen an den Tag zu legen, die sich darin äußert, daß er ihnen auch dann noch Ehre antut, wenn sie sich so gegen ihn benehmen. Da könnte jemand sagen: Nun gut; wenn wir gegen Gott freveln und Unrecht tun, so verschaffen wir ihm dadurch eigentlich einen Sieg, den nämlich, daß seine Gerechtigkeit in ihrem ganzen Glanze erstrahlt. Warum werde ich aber dann gestraft, da ich, doch durch meinen Frevel die Ursache seines Sieges geworden bin? — Wie löst nun der Apostel diesen Einwand? Wie gesagt, indem er eine unsinnige Folgerung daraus ableitet. Wenn du, sagt er, die Ursache seines Sieges geworden bist und hinterdrein gestraft wirst, so geschieht damit ein Unrecht von Seiten Gottes; bist du aber nicht ungerecht und wirst doch gestraft, so hast du damit Gott nicht zu einem Siege verholten. Beachte auch die Bedachtsamkeit des Apostels (im Ausdruck)! Nach den Worten: „Ist Gott nicht ungerecht, wenn er in seinem Zorne straft?“ fügt er bei: „menschlich gesprochen“. Er will sagen: Wie man nach menschlichen Begriffen zu reden pflegt. Denn das gerechte Urteil Gottes übertrifft bei weitem das, was uns gerecht vorkommt, und hat andere unerforschliche Gründe. — Weil das eben Vorgetragene etwas unklar war, wiederholt er denselben Gedanken noch einmal:
V. 7: „Denn wenn die Wahrhaftigkeit Gottes gerade durch mein Lügengewebe zu seiner Verherrlichung ans Licht kommt, was werde ich da noch als Sünder zur Rechenschaft gezogen?“
Wenn Gott, soll das heißen, infolge deines Ungehorsams als menschenfreundlich, gerecht und gütig offenbar wird, so solltest du nicht gestraft, sondern belohnt werden. Wenn aber dem so ist, dann wird ja zur Wahrheit jene sinnlose Rede, die im Munde vieler ist, daß aus dem Bösen das Gute hervorgehe und daß schuld am Guten das Böse sei; und notwendigerweise muß eines von diesen beiden gelten. Entweder erscheint Gott, wenn er straft, ungerecht, oder er trägt einen Sieg davon infolge unserer Bosheit, wenn er nicht straft. Beides ist über die Maßen ungereimt. Der Apostel erweist dies auch dadurch als falsch, daß er die Heiden als die Erfinder solcher Lehren einführt; er ist offenbar der Meinung, es genüge zur Kennzeichnung solchen Geredes, die Person derer zu kennen, die es aufgebracht haben. Denn sie waren es, die einst uns zum Spott sagten: Lasset uns Böses tun, damit Gutes daraus hervorgehe! Darum sagt er mit offenkundiger Beziehung darauf weiter:
V. 8: „Sollten wir da nicht, wie wir geschmäht werden und wie manche uns nachsagen, daß wir diesen Grundsatz vertreten, wirklich Böses tun, damit Gutes daraus hervorgehe? Die Verurteilung solcher ist offensichtlich.“
Es ist nämlich ein Ausspruch des Paulus: „Wo die Sünde überhand genommen, da war überschwenglich geworden die Gnade“ 90. Manche hatten ihn deswegen verspottet und, indem sie diesen Worten einen falschen Sinn unterlegten, gesagt, man müsse sich ans Böse halten, um das Gute zu genießen. Das hatte aber Paulus nicht gesagt. Indem er nun seinem Worte den richtigen Sinn gibt, sagt er: Was also? Sollen wir in der Sünde verharren, damit die Gnade überschwenglich werde? Das sei ferne! Von vergangenen Zeiten, will er sagen, habe ich damals gesprochen, nicht damit wir in Zukunft darnach handeln. Er weist diese Unterstellung auch dadurch zurück, daß er sagt, es sei ein solcher Sinn übrigens auch ganz unmöglich. Wie sollten wir, sagt er, wenn wir der Sünde abgestorben sind, in ihr noch fürderhin leben?
6.
Gegen die Heiden hatte es der Apostel leicht gehabt, loszugehen; denn ihr Leben war sehr verderbt. War dagegen das Leben der Juden auch sichtlich voller Nachlässigkeit, so hatten sie doch wichtige Deckmäntel: das Gesetz und die Beschneidung; ferner daß Gott mit ihnen verkehrt und sie zu Lehrern aller gesetzt hatte. Der Apostel hat sie darum aller dieser Vorzüge entkleidet und gezeigt, daß sie ihretwegen um so mehr würden gestraft werden. Auf dasselbe läuft auch hier seine Schlußfolgerung hinaus. Denn wenn Leute, die solches tun, sagt er, nicht gestraft werden, dann gilt notwendig die gotteslästerliche Rede: „Lasset uns Böses tun, damit Gutes daraus hervorgehe.“ Wenn aber eine solche Rede gottlos ist, und wenn die, welche sie im Munde führen, Strafe verdienen — das liegt in den Worten: „Die Verurteilung solcher ist offensichtlich“ —, dann ist es ganz offenbar, daß die Juden, (von denen der Apostel spricht,) strafbar sind. Denn wenn die schon Strafe verdienen, welche eine solche Rede im Munde führen, wieviel mehr die, welche nach ihr handeln; sind aber die Juden strafbar, dann sind sie es als Sünder. Denn der, welcher die Strafe verhängt, ist ja nicht ein Mensch, daß er auch ein irriges Urteil fällen könnte, sondern der alles gerecht ordnende Gott. Wenn sie aber gerechterweise gestraft werden, dann haben auch die, welche uns zum Spott jene Rede aufbrachten, damit unrecht; denn Gott hat alles getan und tut alles, um unsern Wandel zu einem leuchtenden zu machen und ihm allseits die rechte Richtung zu geben.
Lasset uns nicht sorglos dahinleben, dann werden wir imstande sein, auch die Heiden von ihrem Irrwege abzubringen. Wenn wir aber mit dem Munde zwar weise Reden führen, in unseren Handlungen aber verächtlich sind, mit was für Augen sollen wir da die Heiden anschauen? Mit was für Lippen über die Glaubenslehren (zu ihnen) reden? Der Heide wird nämlich zu jedem von uns sagen: Du handelst nicht recht in den geringen Dingen (des gewöhnlichen Lebens); wie willst du uns viel Höheres lehren? Du hast noch nicht gelernt, daß die Habsucht ein Übel ist; wie willst du uns weise Reden halten über himmlische Dinge? Oder weißt du es, daß sie ein Übel ist? Dann ist deine Verfehlung noch größer, da du sündigst mit Wissen. Doch was rede ich von den Heiden! Auch unsere eigene Religion gestattet uns nicht solchen Freimut im Reden, wenn unser Leben ein verderbtes ist. Denn „zum Sünder“, heißt es, „spricht Gott: Was schwatzest du von meinen Satzungen?“ 91 Als die Juden in der Gefangenschaft von den Persern einmal angegangen und gebeten wurden, ihnen ihre Gesänge des Herrn vorzusingen, da scheuten sie sich, es zu tun und sprachen: „Wie sollen wir singen den Gesang des Herrn im fremden Lande?“ 92 Wenn es aber unerlaubt war, im Lande der Barbaren die Aussprüche Gottes zu singen, um wieviel mehr unerlaubt wird es einer Barbarenseele sein? Eine Barbarenseele aber ist die Seele des Hartherzigen. Denn wenn das Gesetz den Gefangenen, die im fremden Lande Sklaven von Menschen geworden waren, Schweigen auferlegte, so ist es um vieles gerechter, daß die, welche Sklaven der Sünde und so gewissermaßen Angehörige eines fremden Reiches geworden sind, zum Schweigen gebracht werden. Obzwar jene Juden Musikinstrumente besaßen — es heißt ja: „An den Weiden inmitten jenes Landes hingen wir unsere Harfen auf“ —, so war es ihnen doch nicht gestattet. So ist es auch uns, obzwar wir Mund und Zunge — die Sprachwerkzeuge — besitzen, nicht erlaubt, nach Gefallen zu sprechen, solange wir Sklaven der Sünde sind, die härtere Herrschaft ausübt als alle Barbaren. Sag’ mir, was willst du zu einem Heiden sagen, der ein Räuber und ein Geizhals ist? Etwa: Laß ab von deinem Götzendienste?