Sommerleithe. Klaus Weise

Sommerleithe - Klaus Weise


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dem Ersten Weltkrieg von einem gemeinnützigen Bauverein für Kriegsbeschädigte gebaut wurden und Gartenbewirtschaftung und Kleintierzucht ermöglichten. Die Straße trug und trägt den Namen Sommerleithe. Sommerleithe 15. Für mich war Sommerleithe das wohlklingendste Wort der Welt. Und ist es bis heute. Ich kann es gar nicht oft genug aussprechen: Sommerleithe. Nicht mit dem protestantisch-prosaischen t, sondern mit einem lyrisch-romantischen th. Die Sommerleithe war die Leitplanke des Glücks. Sie flankierte den Sommer meiner ersten Lebensjahre; als sie weg war, war alles weg, was mir vertraut war und was ich liebgewonnen hatte. Was mir Heimat war, wurde zerrissen wie ein soeben beschriebenes Blatt Papier, das – die Tinte ist noch nicht getrocknet – zerrissen und weggeworfen wird und dessen eine Hälfte das Abwasser in die Kanalisation spült und dessen andere der Wind in den Himmel verweht. Jedes Mal werden meine Augen feucht, und ich verfalle in Schwermut und Trauer um die verlorene Zeit, denke ich an diese Königin unter den Wörtern.

      Auch wenn er schon lange tot ist, sehe ich das Gesicht meines Vaters vor mir, habe seine weiche, fast zärtliche Aussprache im Ohr, wenn er sich – auch viele Jahre nach der Flucht in den Westen – bemühte (und es nie schaffte), die harten und scharfen Konsonanten von den weichen zu unterscheiden, um die weichen nicht hart und die harten nicht weich auszusprechen. Doch Sommerleithe klang bei ihm stets wie Sommerleidhe, niemals anders. Ich sehe das angestrengte Bemühen in seinem Gesicht, sehe, wie sich sein Mund verzieht und die Lippen sich verformen, ganz so, als wollte er meine Mutter küssen, damit es ihm zumindest dieses eine Mal gelinge, ein t wie ein t, ein p wie ein p klingen zu lassen und nicht wie d und b. Es ist ihm nie gelungen. Tür klang immer wie Dür, Paul wie Baul, tot wie dod und Tod wie Dod. Allerdings bestand er darauf, dass er diesen Unterschied, der in den Ohren der Zuhörer niemals einer war, diesmal deutlich hervorgehoben habe und wir diesen deudlichen Underschied doch hören müssden – ein Handicap nicht nur für meinen Vater, sondern auch, wie sich später beim Dikdad im Deudschunderricht auf dem Gymnasium herausstellen sollte, für mich. Im wechselvollen Leben meines Vaters war, anders als im vielleicht noch wechselvolleren meiner Mutter, seine eigenwillige Aussprache die konstanteste, zumindest aber die dauerhafteste Begleiterin. Die Ausschläge seines Dialekts waren enorm. Zumindest für ihn. Nie für die anderen. Auch wenn er glaubte, zwei Sprachen zu sprechen, Thüringisch und Hochdeutsch, so war und blieb es doch immer nur Dhüringisch.

      Von seiner Heimat konnte er sich trennen – entschied sich dazu, als wir in den Westen flohen –, aber nie von seiner Sprache, von ihrem Wohlklang, ihrem Rhythmus und ihrer Melodie. Wenngleich sie sich im Lauf der Jahre ein wenig verschliff und er sich bemühte, sie loszuwerden, um nicht als Flüchtling aufzufallen, erlitt er schwerste, offenbar nie zu therapierende Rückfälle, wenn ihn seine Schwester Marie aus Leibdzsch im Westen besuchte. Das Thüringische schoss aus dem manierlich mit der hochdeutschen Fremdsprache überdeckten Urgrund hervor wie Pilze im Wald nach warmem Regen und verhalf vom Aussterben bedrohten Worten wie Diegel, Nischel, Bemme und Däts zu erneuter Blüte. Sein schweres Asthma – der real existierende Sozialismus, dessen Drangsale er einatmen musste, ohne sich durch Ausatmen Freiheit verschaffen zu können, hatte ihn in Erstickungsanfälle und aus dem Bett meiner Mutter ins Bett auf dem Dachboden getrieben – konnte er in der frischen und befreienden Luft des Westens, in der Luft von Marktwirtschaft und Demokratie, über Nacht ablegen. Aber der Dür, dem Baul und dem Dod konnte er auch hier, sein Leben lang, nicht entrinnen. Aus Liebe zu seiner Heimat? Vielleicht. Später aus Sehnsucht nach seiner Heimat? Auch vielleicht. Aber gewiss aus dem Verlangen nach einer glücklicheren Kindheit, als er, der Vaterlose, sie erlebt hatte. Die Kindheit lag lange zurück, und wenn seine Mutter ihn als letztgeborenes und damit überflüssiges Kind von vielen nicht so geliebt hat, wie er sich das wünschte, so blieb ihm zumindest die Geborgenheit in der Muttersprache und ihrem geliebten Klangbild erhalten. Als Liebessehnsucht, als Liebesbekundung und Liebesersatz hat er sie mitgenommen in sein Leben. Und immer war er glücklich, sein Gesicht entspannte sich, und er strahlte, wenn er sich in der Muttersprache suhlte und in ihr den Weg zurück in den Mund und den Schoß seiner Mutter fand.

      Sein Vater war sprachlos. Er wurde vor der Geburt meines Vaters erschossen. Fürs Vaterland. Im Ersten Weltkrieg. Beide haben sich nie gesehen, nie kennengelernt. Und so konnte der Sohn nie die Sprache seines Vaters, die Vatersprache, erlernen. Er, der Vater- und Vatersprachlose, musste sich beides selber beibringen. Den Vater und die Vatersprache.

      Seine Mutter habe ihn, wie er mehrmals versicherte – zumindest könne er sich daran nicht erinnern –, nie auf den Arm genommen. Und sollte sein Vater im Moment des Todes und danach sein toter Körper, der im Schlamm und Matsch des Schlachtfeldes vermoderte, versucht haben, väterliche Gedanken und Gefühle zurück in die Heimat zu senden, so wurden diese im Kugelhagel erschossen, von Bajonetten zerfetzt und vom Giftgas erstickt. Allein ein großes väterliches Vakuum hat überlebt.

      Die Hoffnung, von seiner Mutter geliebt zu werden, blieb Herzschmerz. Einmal, so erzählte er, sei er im Winter durch das zu dünne Eis des Münchenbernsdorfer Dorfteiches – oder war es einer der familieneigenen Fischteiche? – ins eisige Wasser eingebrochen. Er konnte sich retten, denn der Teich war nicht sehr tief und die Kälte stärker als die Angst vor Schelte. Da rannte er nach Hause und wurde von seiner Mutter zum einzigen Mal in seinem Leben in den Arm genommen. Dann hat sie ihm die nassen Kleider ausgezogen und ihn und seinen Körper warmgerubbelt. Das sei so schön und so wohltuend gewesen, dass es nie hätte aufhören sollen. Doch es hörte auf, und er bekam trockene Kleider angezogen. Wenn etwas sei, habe sie gesagt, könne er immer zu ihr kommen. Und was, wenn nichts sei?

      Das ist seine Version. Eine andere lautet gegenteilig: Er als Jüngstgeborener sei das Nesthäkchen der Familie gewesen, an dem, da er nie seinen Vater kennengelernt hatte, Wiedergutmachung zu leisten sei, und mit dem zweitjüngsten Bruder Edwin habe er sich so manches herausnehmen dürfen, das den anderen Geschwistern verboten war.

      Seine Mutter, mit dem seltenen Vornamen Prisca, hatte, als ihr Mann im ersten Kriegsjahr, im November 1914, an der Westfront fiel, bereits vier Kinder bei oder nach der Geburt verloren. Es blieben ihr sechs Söhne und eine Tochter: Walter wurde Böttcher und Fischzüchter; Fritz, der Mann von Tante Frieda, die aus Elmshorn stammte und von einem Oberkellner in Hamburg ein uneheliches Kind hatte, genannt Nickel, hervorragende Rote Grütze mit Vanillesoße zubereitete und als eines der ältesten SPD-Mitglieder mit über einhundert Jahren gestorben ist, arbeitete als Böttcher in Elmshorn; Rudolf, genannt Rudel, schlug eine höhere Beamtenlaufbahn ein; Marie, die Fritz Hemann heiratete, der eine Schokoladenfabrik in Leipzig gründete, Geld und ein Auto hatte, aber keinen Führerschein, dafür einen Chauffeur, von dem er sich und seine Frau, also Tante Marie, jeden Sonntag zum Pferderennen fahren ließ, um auf Sieg oder Platz zu setzen; Erich, der das elterliche Gasthaus Hotel Alt-Thüringen betrieb und die SPD-Mitgliedsnummer 1008 (Bezirk Ostthüringen?) trug und Friedas jüngere Schwester Irma ehelichte; Edwin, der Zweitjüngste, geboren 1910, der nach dem Abitur Textilingenieur wurde (in Münchenbernsdorf gab es eine Teppichfabrik, die ihre Produkte mit dem Spruch «Münchenbernsdorfer Teppiche und Läufer / finden in der ganzen Welt ihre Käufer!» bewarb; unter den Nazis arisiert, wurde sie in der DDR dem Volk übereignet), Kommunist war, Zither, Geige und Klavier, das extra für ihn gekauft wurde, spielen konnte und während der Nazizeit sein kommunistisches Parteibuch und Flugblätter hinter der Telefonkabine im großen Ern der Gastwirtschaft versteckte, wofür sein älterer Bruder Erich für einige Zeit ins Gefängnis kam, weil Edwin, als die Nazis beides, also kommunistisches Parteibuch und feindliche Flugblätter, bei einer Hausdurchsuchung entdeckten, untergetaucht war; und schließlich mein am 12. November 1914 als jüngstes Kind der Familie Weise geborener Vater Hans Herbert, der Mediziner, genau genommen Chirurg, werden wollte und, als er das nicht durfte, Frisör, was er aber auch nicht durfte, da er Metzger werden musste, mit der Begründung seiner Mutter: «Essen müssen die Leute immer, auch im Krieg, zum Frisör gehen nicht.» Ihr Mann war, wie gesagt, im Ersten Weltkrieg gefallen. Nicht gut. Nein. Schrecklich. Aber im Krieg fallen viele. Im Zweiten Weltkrieg fielen auch ihre Söhne Walter, Fritz, Rudel und Edwin. Edwin hat zu Weihnachten 41/42 eine Postkarte aus dem Russland-Feldzug in die Heimat gesendet, die aus geplätteter und getrockneter Birkenrinde bestand. Dies war sein letztes Lebenszeichen. Diese Postkarte aus Birkenrinde war etwas Besonderes. Sie hing in unserem Wohnzimmer in der Sommerleithe, auf dessen Fußboden ausnahmslos Teppiche aus dem dreißig Kilometer entfernten Geburtsort meines Vaters lagen. Einige Jahre später, im Westen, war der Fußboden in unserer


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