Sommerleithe. Klaus Weise

Sommerleithe - Klaus Weise


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geheiratet wurden. Zwei Brüder, zwei Schwestern, zwei Hochzeiten – und Teppiche aus zwei in der ganzen Welt berühmten Ortschaften: Münchenbernsdorf und Elmshorn.

      Der Beruf des Vaters meines Vaters war Böttcher – in manchen Gegenden auch Küfer genannt. Er war zwar wichtig für das Herstellen von Fässern, wurde aber Anfang des 20. Jahrhunderts zusätzlich benötigt für die Kanalisation, weil Holzrohre billiger waren als Rohre aus Blei oder Eisen. Das Herstellen dieser hölzernen Wasser- und Abwasserrohre warf wohl gutes Geld ab, gemehrt durch Besitz und Betreiben von Gaststätte, Bauernhof und Fischteichen; selbstgezüchtete Fische wurden auf dem freitäglichen Fischmarkt verkauft, und in einem Eishaus wurden im Winter die aus den zugefrorenen Teichen geschnittenen Eisblöcke eingelagert, um sie im Sommer, sofern nicht zur Kühlung eigener Lebensmittel benötigt, zu verkaufen. Hinzu kamen Weideland, Ackerland, Wald und Jagdrevier, die, konnten sie nicht selber bewirtschaftet werden, verpachtet wurden, zum Beispiel an den Bauern Schindler. So kamen die Eltern meines Vaters zu einigem Wohlstand.

      Die Familie fuhr einen Opel P4. Doch damit des Luxus nicht genug: Einmal im Jahr veranstaltete Mutter Prisca Weise im Saal der Gastwirtschaft eine private Modenschau, zu der sie das Modehaus Esch aus Gera anreisen ließ. Prisca, Bürgermeistertochter aus St. Gangloff, war nicht nur eine leidgeprüfte alleinerziehende Mutter von sieben Kindern, sondern auch eine umtriebige und erfolgreiche Geschäftsfrau; eine vermutliche starke Person, die den deutsch-französischen Krieg, zwei Weltkriege, die Weimarer Wirren, Weltwirtschaftskrise und Inflation, die Zeit des Nationalsozialismus und den Sozialismus der DDR miterleben, ertragen und aushalten musste. Ob sie politisch engagiert war und die jeweils herrschenden Systeme im Rahmen ihrer Möglichkeiten als alleinerziehende Mutter und Geschäftsfrau mitgestaltet oder unterlaufen hat, ob sie Mitläuferin oder im inneren oder – eher unwahrscheinlich – offenen Widerstand war, entzieht sich meiner Kenntnis. Altersbedingt hatte sie keine Chance, das Regime der DDR zu überleben. Es existiert von ihr ein Porträt, das ich nicht zu entschlüsseln vermag. Darauf wirkt sie vom Leben gezeichnet, ein wenig verhärmt. Vermutlich bringt das Bild ihre Lebenserfahrung zum Vorschein. Aber wenn man das Bild mit ein wenig liebevollen Augen betrachtet, kann man ein verschmitztes Lächeln entdecken, das so etwas sagen will wie: «Ja, ich habe vieles erlebt – und überlebt.» Schade, dass ich sie nicht kennenlernen konnte.

      Im Zuge der Begeisterung für den oder aus Angst vor dem Nationalsozialismus erstellte Walter, der älteste Bruder meines Vaters, einen Stammbaum, der die arische Reinrassigkeit der Weises bis zum Dreißigjährigen Krieg nachweisen konnte. Dokumente, die weiter in die Vergangenheit hätten vordringen können, seien, wie fast alles in diesem Krieg, verbrannt. Mein Vater schien stolz zu sein auf diesen Stammbaum. Aber ob er stolz war, reinrassiger Arier zu sein, oder auf die weit zurückreichende Abstammung oder auf beides, kann ich nicht beurteilen. Ich vermute, er war auf beides stolz. Es ist anzunehmen, dass es in der Familie Weise neben Kommunisten und SPDlern wie Edwin und Erich auch stramme Nazis gab. Gehörte mein Vater zu dieser Fraktion? Er hat es verneint. Auch trug er keine SS-Tätowierung. Aber dass er dem nationalsozialistischen Weltbild samt seiner Heilsversprechen abhold war, halte ich für unwahrscheinlich. Verwunderlich war und bleibt, dass meine Mutter, als sie im Sterben lag und ihre Schmerzen mit Morphium gelindert wurden, im Delirium Andeutungen über eine jüdische Vergangenheit machte.

      Mein Vater verachtete uns Kinder, wenn wir krank wurden. Wir mussten Beispiel geben und hatten gesund zu bleiben. Gesundheit war oberste Metzgerkinderpflicht. Doch war dies nicht nur moralischer Appell, sondern auch kaufmännisches Kalkül und Verhaltensvorbild für die Belegschaft des Metzgereibetriebs. Damit im Krankheitsfall der Mitarbeiter – und mit diesem Oberbegriff waren neben den Gesellen selbstredend auch die Putzfrauen und Verkäuferinnen gemeint – der Verlust an Arbeitskraft keinen zu großen Verlust an Geld nach sich ziehe. Krankheit wurde von meinem Vater erst akzeptiert, wenn sie für ihn erkennbare Symptome aufwies. Hohes Fieber, Mumps, geschwollene Mandeln, Knochenbrüche oder ein Fleischermesser, das sich ein Geselle beim Arbeiten durch die Hand gestochen hatte, akzeptierte er als sichere Zeichen für eine wirkliche und keine aus Faulheit oder Bequemlichkeit simulierte oder sonstwie zu vernachlässigende Krankheit. Erst wenn wir mit solchermaßen eindeutigen Symptomen aufwarten konnten, ließ er sich herab, meine Schwester oder mich am Krankenbett zu besuchen.

      Manchmal fiel meine Mutter um. Zumindest in der DDR. Aus Mangel an Eisen und Kalzium, hieß es. Wie sie dem Eisenmangel begegnete, weiß ich nicht. Vermutlich mit Fleisch, davon gab es bei uns immer genug, also kann das eigentlich nicht zutreffen, und Spinat auch, immer mit Bratkartoffeln und Spiegeleiern. Der Mangel an Kalzium wurde therapiert mit zerstoßener und zu Pulver zerriebener Eierschale, die in Wasser aufgelöst getrunken wurde. Also: Wieso fiel meine Mutter um? In der DDR. Im Westen nie. Vielleicht war dies die weibliche Antwort auf das Asthma meines Vaters.

      War mein Vater krank, was selten geschah – ausgenommen die nächtlichen Asthma-Attacken –, wurden seine Krankheiten stets von Anfällen ausgeprägter Wehleidigkeit begleitet. Auch in anderen Angelegenheiten des täglichen Lebens war mein Vater eine durchaus gespaltene Person. Gern trank er Wasser aus Schnapsgläsern, während er anderen Schnaps einfüllte oder einfüllen ließ; gern war er charmant zu Frauen, während er zu seiner eigenen Frau gehässig sein konnte, bis sie weinte, beim verregneten Sonntagsspaziergang den Schirm mit dem schönen Blumenmuster zu Boden donnerte oder für ein paar Tage nach Niederlahnstein zu Onkel Erich und Tante Irma fuhr.

      Eine mögliche Scheidung der Eltern war im Westen des Öfteren Gesprächsstoff vor dem Einschlafen zwischen meiner Schwester und mir, solange wir uns ein Kinderzimmer teilten. Einmal – so meine ich mich zu erinnern und bin mir fast sicher, dass es so war, aber es fällt mir schwer, es auszusprechen; ich möchte es nicht aussprechen und kann es nur sagen, indem ich es verschweige – erhob mein Vater, und noch dazu am Heiligen Abend … Eine dunkle Erinnerung. Gut und tief verdrängt. Aber doch nicht ganz. Ein Schnitt in meine Seele. Und aus der Finsternis der Verdrängung, nein, nicht aufleuchtend, sondern Wellen schwarzen Lichts aussendend …, sodass, als ich später eine Sau abstach, es mein Vater war, der vor mir lag, und ich ihm die scharfe Klinge des eigens zum Schlachten, zum Stechen angefertigten Messers von schräg unterhalb des Halses gekonnt in die Brust schob in Richtung des Herzens, das Messer herauszog, sein Blut heraussprudelte und ich ihn mir zu Füßen liegend verenden sah.

      Von diesem Vatermord hatte er eine Vorahnung – spätestens, als er mich das erste Mal zum Schweineschlachten auf den Schlachthof mitnahm. Er wusste, hätte ich einmal das erste Schwein geschlachtet, würde ich viele Schweine töten müssen. Er wusste, dass, wer einmal getötet hat, dies immer wieder tun wird – nicht, weil er will, nein, weil er muss –, und dass die Schwelle zwischen Tier und Mensch eine leicht zu überschreitende ist, sobald die Angst vor dem Töten nur ein einziges Mal überwunden ist. Er wusste, dass ich, gefangen im Wiederholungszwang des Tötens, ihn anstelle der Sau vor mir liegen sähe – nur wusste er nicht, wann genau das geschehen würde, und deswegen beobachtete er mich genau, wenn ich an der Reihe war zu schlachten. Wohingegen er, der Vaterlose, seinen Vater nie töten konnte. Er kannte noch nicht einmal ein Bild von ihm, das er beim Vorgang des Schlachtens hätte imaginieren können: Ein Foto seines Vaters ist nie aufgetaucht.

      Schlug er mich deshalb – gelegentlich, das letzte Mal, als ich achtzehn war? Aus Gründen seiner angestauten Wut über den Vatermord, den er, der Vaterlose, nicht begehen konnte, wohl aber ich an ihm? Und noch etwas, außer seinem eigenen Charakter, der ihn in Not zu Jähzorn-Ausbrüchen trieb, kam hinzu: Ich. Wie ich war. Wofür ich stand. Mit meiner linken Gesinnung, die alle kriegsgeschädigten Tätersoldaten mit der ihnen eigenen Aggressivität bekämpften, weil sie spürten, dass ihnen nach verlorenem Krieg und Wiederaufbau erneut die Felle wegschwammen …

      Hatte er, der die Maxime ausgab, in der eigenen Familie müsse man sich stets alles erzählen und anvertrauen, diesen kategorischen Imperativ nur aufgestellt, um alles von uns zu wissen, von sich selbst aber möglichst wenig preiszugeben – nur das, was seine innere Zensur passieren durfte und für ihn von Vorteil war? Hat ausgerechnet er versäumt zu erfahren, wann ich, sein Sohn, ihn das erste Mal getötet hatte? Ich habe es ihm nie gesagt. Er wusste, dass es geschehen ist. Nur nicht, wann. Und wie oft seitdem.

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