Sommerleithe. Klaus Weise

Sommerleithe - Klaus Weise


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etwa bei einer verwandelten Ecke, einem Lupfer, einem Kopfball oder einem Eumeltor, mal großzügig ausgelegt, etwa bei einem Fallrückzieher.

      Die unumstrittene Königsklasse eines Tores war der verwandelte Hammerschuss: Der Spieler bombte den anfliegenden Ball direkt, also ohne ihn zu stoppen und ihn maßgerecht für den Schuss zurechtzulegen, mit dem Spann ins Tor oder ließ ihn kurz auf dem Boden aufsetzen, um ihn im Augenblick des Hochspringens mit voller Wucht, ebenfalls mit dem Spann, in den Kasten zu donnern. Dass man die Feinde – in Gestalt der gegnerischen Spieler – und den Gralshüter des Reiches, in das nie, nie der Ball des Feindes eindringen darf – den Torwart –, solchermaßen bezwungen, ja, gedemütigt hatte, brachte Anerkennung und entlockte dem Torschützen fast immer ein befreites Brüllen: «Tor, Tor, Tor!!!» und ein irgendwie in Ziel und Richtung sinnloses, ja besinnungsloses Über-den-Platz-hin-und-her-Rasen, als wäre unser kleiner Schmuddelbolzplatz die ausverkaufte Schalker Glückauf-Kampfbahn mit vor Begeisterung brüllenden Fans.

      Doch damit war der Siegestaumel noch nicht beendet, denn jetzt begann ein anderes Spiel: Oft steckte ein solchermaßen gebombter Schuss in der Hecke fest, die ein paar Meter hinter dem Tor den Bolzplatz begrenzte und hinter der ein schmaler Durchgang verlief, jenseits dessen wiederum mit unterschiedlichen Zäunen abgegrenzte Gärten lagen. Dieser Durchgang wurde außer von uns nur selten benutzt – außer, das wussten wir, nach Einbruch der Dunkelheit von Liebespaaren. Was genau sich dort ereignete, davon hatten wir nur eine vage Vorstellung, denn mit Einbruch der Dunkelheit mussten wir zu Hause sein.

      Und hier schließt sich der Kreis. Denn der Schütze des Hammertores ließ es sich nicht nehmen, den von ihm selber fest in die Hecke hineingebombten Ball persönlich aus dem Heckengestrüpp herauszuziehen und ihn, die Trophäe seines fußballerischen Könnens, den Mitspielern und Gegnern zu präsentieren, als wäre er der Glücksbringer seines Lebens. Doch bevor er den Ball aus der Hecke befreien konnte, musste er einen Umweg machen, denn die Hecke hatte nur an einer Stelle einen tunnelartigen Durchlass. Und hier begegnete der Torschütze den Relikten der gestrigen Liebesnacht. Oder der vorausgehenden Nächte. Immer, besonders in den wärmeren Jahreszeiten, war die Hecke geschmückt wie zu einem Fest. Nur eben nicht mit bunten Girlanden und Luftballons, sondern mit den inzwischen trüb verklebten Gummischläuchen der Pariser aus Walter Diercks Automat und dem, was die etwas Größeren unter uns die Binde nannten: einem länglichen und einige Zentimeter breiten, gepolsterten Mullbindestreifen an beiden Enden mit Strippen, die aussahen, als könne man sie wie bei einem Verband verschnüren. Diese wattierten Streifen waren unterschiedlich rot gefärbt, mal bräunlich rot, wenn von der Sonne beschienen, mal blass rot, wenn vom Regen verwaschen. Obwohl sie aussahen, als würden sie zum Stillen von Wunden benutzt, besaßen sie aufgrund ihres Vorkommens in der Hecke ein derart abgründiges Geheimnis, dass ich die Eltern nicht nach Herkunft und Zweck zu befragen wagte und dass meine Schwester, von mir darauf angesprochen, irgendetwas daherfaselte, wovon ich mir nicht vorstellen konnte, dass derart Ekliges in jungen Mädchen und Frauen monatlich heranwachsen könne. Klar war nur: Die Binde musste mit den Tagen zu tun haben, die trotz der Kälte im Kühlhaus schäumende Bläschen aus dem Wurstwasser aufsteigen ließen, als befänden sich die Fleischwürste im Zustand der Gärung, und von deren Kunstdarm die Schmiere abgewischt werden musste, bevor sie im Laden verkauft werden konnten.

      So wurde die durch den Triumph des Hammertores bedingte Spielpause als Abschluss eines sportlichen Spielzugs auf dem Feld getrübt durch die Befreiung des Balls aus der durchlöcherten und behängten Hecke. Aber der Gang – nicht durch die Tribüne aufs Spielfeld, sondern durch die Hecke zum feststeckenden Ball – mit der Dekoration aus benutzten und schlaff herumhängenden Liebesutensilien, eröffnete den Blick auf ganz andere Spielzüge – Spielzüge, wie Connie Francis sie mit folgendem Refrain besungen hat: «Die Liebe ist ein seltsames Spiel / Sie kommt und geht von einem zum andern / Sie nimmt uns alles, doch sie gibt auch viel zu viel / die Liebe ist ein seltsames Spiel.»

      Noch heute blüht diese Hecke in mir auf – bei besonders tollen und spielentscheidenden Fußballtoren.

      Die Pariser, die Tage, die Binde, die Bläschen und der Anfall meiner Schwester, all dies hätte mir damals, als ich im Wursthimmel hing, nicht das Geringste gesagt. Doch es war, als hätte ich geahnt, dass das Leben für einen kleinen Jungen wie mich und für das, was aus ihm werden sollte, noch etwas bereithielte, für das es sich lohnte, den Kampf gegen den drohenden Absturz aus dem Himmel zu gewinnen. Je länger ich hing, desto länger wurden meine Arme, und es stand zu befürchten, dass die Gelenke wie auf einer Streckbank – so etwas gibt es in den Folterkammern von Burgen – auskugelten und die Haut riss, ich abstürzte und meine Hände und Oberarme, mittlerweile zu einer Art Leichenstarre verkrampft – auch die gibt es, wie ich seit dem Tod von Opa Nagler wusste –, immer noch den schwarzen Räucherspieß umfasst hielten, während Körper und Kopf auf den Steinkacheln ausbluteten, wo Friedel am nächsten Morgen den Kadaver hätte beseitigen und den Boden schrubben müssen.

      Saubermachen, das konnte Friedel wie niemand sonst. Zumindest haben sich meine Eltern nie über sie beschwert. Vielleicht hatte Friedel eine besonders liebevolle Beziehung zum Fußboden, weil sie klein war und ihm so nahe. Außerdem waren Kopf und Hals immer nach vorne gebeugt und zwangen ihren Blick nach unten. Ob sie wohl jemals den Himmel gesehen hat?

      8.

      Sud und Sühne

      Ich brauche sie … sie muss mir helfen. Mich retten. Endlich einmal etwas für mich tun. Mich befreien aus dem Gestänge des Gefängnisses, in dem ich hänge. Jetzt. Jetzt sofort. Sie soll gefälligst auf einem fliegenden Teppich einher schweben, mich aufsteigen, in ein bunt-orientalisches großes Kissen plumpsen lassen und schöne Heimatlieder auf dem Akkordeon spielen, dem schwarz-dunkelrot-perlmuttfarben glänzenden. Endlich wäre ich befreit von meiner Absturzangst, befreit vom einschmeichelnden Feengesang, der mich arglistig und hinterhältig einlullt, um zu töten. Mich zu töten. Unter den vertrauten und lieblichen Tönen der Musik flögen wir heim, als wäre nichts gewesen, und könnten endlich, so wie immer, friedlich zu Hause zu Abend essen. Nur dieses eine Mal soll sie kommen, danach kann sie mich weiterhin drangsalieren, nur dieses eine Mal – und mich retten. Meine Schwester.

      Doch das würde nicht geschehen. Es musste eine andere Möglichkeit der Rettung geben. Vielleicht Klaus, mein kleiner Bruder Klaus?

      Er war etwa eindreiviertel Jahre jünger als ich. Das ist nicht viel, zu vernachlässigen im Erwachsenenalter, aber mit vier, fünf, sechs Jahren fast ein halbes Leben. Er war dabei und hat mit uns herumgetobt, als wir in der Fleischerküche Fangen spielten, als Oswald mich erwischte, mich an den Oberarmen packte und in den Fleischhimmel hängte. Wir lachten, denn es war ein Riesenspaß. Doch plötzlich waren Vati und Oswald weg. Nur ihre Gesichter schwebten noch einen Augenblick als grinsende Masken im Raum. Dann waren auch sie weg. Verschwunden. Es war dunkel. Ich hing an einem Räucherspieß. Die Tür war verschlossen – und der Spaß nahm ein jähes Ende. Der Schreck fuhr uns beiden in die Knochen. Zumindest mir. Aber ich glaube, ihm auch. Was sollten wir tun? Ich hing im Gestänge unter der Decke, und Klaus stand etwas versetzt unter mir. Ahnte er die Gefahr, dass ich jederzeit abstürzen könnte, und wollte er vermeiden, dass ich auf ihn fallen und ihn verletzen würde? Rechnete er mit meinem Tod?

      Wie kann es sein, dass der Tod sich nicht tückisch aus dem Hinterhalt annähert, sondern fröhlich, lachend und mit mir spielend von vorne kommt, sich einen Spaß erlaubt und mich in den Himmel hebt, wo Gott – und nicht der Teufel – wohnt?

      Und der erste Zuschauer, der mir beim Sterben zusehen will, hat sich auch schon eingefunden. Er. Mein kleiner Bruder. Mit dem ich immer ein Herz und eine Seele bin. Jedenfalls fast immer.

      Er ist zu klein, um mich aus dem Himmel herunterzunehmen, mich vom Fleischbaum zu pflücken, damit ich wieder sicheren Grund unter den Füßen bekomme. Das ist ihm nicht vorzuwerfen – aber dass er aus irgendeinem Grund nicht, wie ich es ihm sage, einen Stuhl vom Küchentisch holt und ihn unter meine Füße stellt, das verstehe ich nicht. Er muss doch die Gefahr erkennen, in der ich mich befinde. Aber er steht einfach nur da und schaut nach oben. Ist er erstaunt, ja, fasziniert davon, wie schnell ein Mensch vom Erdboden verschwinden und sich wenige Sekunden später im Wurst- und Schinkenhimmel wiederfinden kann? Was denkt er wohl? Dass auch


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