Mordsmäßig heilig. Barbara Merten
Prolog
Das, was jemand von sich selbst denkt, bestimmt sein Schicksal.
– Mark Twain –
Er hatte nicht mehr viel Zeit. Die Diagnose: Karzinose, die ihm Professor Reiter aus der Uniklinik mitgeteilt hatte, empfand er noch immer als ungerecht. Wie konnte ihm ›Der da oben‹ das antun? Ihn mitten aus dem Leben reißen!
Zuerst hatte sich ein Gefühl der Ohnmacht in ihm breitgemacht, ihm regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen.
»Ich kann nichts mehr für Sie tun. Der Krebs hat sich schon zu weit im Körper ausgebreitet. Tut mir leid. Genießen Sie die Zeit, die Ihnen noch bleibt. Machen Sie das, was Ihnen Freude bereitet«, hatte Reiter ihm gesagt. Mit heiserer Stimme hatte er ihn gefragt: »Wie viel Zeit bleibt mir?« — »Ein Jahr gebe ich Ihnen, plus/minus. Alles Gute ...« Der Professor hatte ihm die Hand gereicht und sich verabschiedet. Es war sein letzter Arbeitstag in der Klinik als Chefarzt gewesen. Auf den angehenden ›Prof. im Ruhestand‹ warteten nun die angenehmen Dinge des Lebens.
Der Arzt hatte es gut. Und er? Für ihn sollte alles zu Ende sein?
Nach tagelanger Leere folgte die Rebellion. Sie bestimmte fortan sein Denken und Tun. Er empfand eine unbändige Wut. In ihm wuchs der Wille, das Unvermeidbare nicht zu akzeptieren. Er holte sich eine Zweit- und eine Drittmeinung, ließ sich immer wieder untersuchen. Mit verschiedenen Medikamenten und allerlei Quacksalberei versuchte er den Krebs zu besiegen. Wochenlang kämpfte er mit sich und seinem Körper. Erfolglos. Die Krankheit schritt mehr und mehr voran. Er spürte, seine Uhr lief ab.
Inzwischen hatte er sich mit der Situation arrangiert, sein Ableben geplant und seine letzte Ruhestätte gefunden. Etwas ganz Besonderes würde es werden, ein Unikat, das einer Koryphäe wie ihm würdig war. Ein Ort, der ein Abbild seines Lebens sein würde. Ich lasse mich nicht einfach verscharren. Nein! Sobald alles eingerichtet ist, werde ich gehen. So Gott will, selbstbestimmt. Ich nehme seinen Auftrag an. Er röchelte.
Kapitel 1
Die Frage ist nicht, was man betrachtet, sondern was man sieht.
– Henry David Thoreau –
Mittwochnachmittag
Auf der Polizeiwache in Gieboldehausen klingelte das Telefon. Wachtmeisterin Marie Steffen, die heute Telefondienst hatte, nahm ab. Eine schrille Frauenstimme drang schmerzhaft in ihr Ohr.
»Hallo? Is doa die Polißei in Cheboldehusen?«
Marie hielt den Hörer auf Abstand. Wahrscheinlich ist die Frau schwerhörig. »Ja, hier ist die Polizeidienststelle Gieboldehausen. Sie sprechen mit Wachtmeisterin Marie Steffen«, antwortete sie deshalb auch lauter als gewöhnlich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ähm, wie soll eek sei dat säjen? … Ja ähm ...« Die Frau schien zu überlegen.
»Von wo rufen Sie denn an?«, erkundigte sich Marie.
»Eek? Ja, von truus«, brüllte die Frau vorwurfsvoll, so als müsste die Polizei das doch wissen.
»Aha, von zu Hause, truus. Ich verstehe. Sagen Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse?«, fragte Marie nach.
Die Frau antwortete nicht. Nach kurzer Zeit, Marie war schon drauf und dran aufzulegen, begann sie in einigermaßen verständlichem Hochdeutsch zu sprechen.
»Ja, dat iss so. Ich war jerade in der Kirche und wollte bei unserer Madonna eine Kerze anstecken. Wissen Se, heute hat mein Sohn nämlich Geburtstag. Aber der ist schon tot. 2012 iss er an Krebs jestorben. Eine schreckliche Krankheit. Das können Se mir glauben. Ich habe ihn jepflegt, bis zum letzten Atemzug. Heilige Maria, bitte für uns«, betete die Frau. Dann schien sie sich zu schnäuzen.
Marie nutzte die kurze Pause und fragte noch einmal: »Wie heißen Sie denn? Und wo wohnen Sie?«
»Ja, wie ich heiße?«, entrüstete sich die Frau. »Trudchen. Ähm.« Sie schien wieder zu überlegen. »Ach so, ja. Das können Se ja nich wissen – Gertrud Rudolf aus Charmeshusen. Mein Mann ist auch schon tot. Ich bin hier ganz allein. Die Tochter wohnt nämlich in Göttingen. Iss ´ne Studierte. Hat alles mein Mann bezahlt. Nun iss se wech und ich sitze hier. Aber ich geh jeden Tag in die Kirche, obwohl die Pfarrer ja keine Messen mehr feiern. Wegen der Corona! Wissen Se, die iss vom Teufel! Könn Se mir glauben. Aber die Mutter Gottes, das ist meine Fürsprecherin – Heilige Maria! Und die iss nu auch wech. Haben se die wechgebracht? In Quarantäne?«
Angespannt versuchte die Wachtmeisterin, aus dem Durcheinander Schlüsse zu ziehen. Ihr war nicht klar, ob die Frau vor Aufregung wirr redete oder ob sie dement war. »Frau Rudolf. Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wohnen in Germershausen und waren in der Kirche?«, hakte Marie nach.
»Ja, sag ich Se doch! Wollte bei der Mutter Gottes den Rosenkranz beten und eine Kerze anstecken. Aber da iss keine Madonna mehr! Iss denn die janze Welt verrückt jeworden?« Frau Rudolf schien ernsthaft besorgt.
»Nein, Frau Rudolph. Die Welt ist nicht verrückt geworden. Das glaube ich nicht. Aber danke, dass Sie angerufen haben. Ich werde mich darum kümmern. Können Sie mir sagen, wer morgens die Kirche aufschließt?«
»Ja, das macht Frau Hundeshagen. Die wohnt im Unterdorf, muss nur über die Brücke gehen. Und wenn Se was vom Pfarrer wissen wollen, den jibt es hier nich mehr, auch nich im Kloster. Alles leer. Der Pfarrer aus Göttingen, der iss jetzt auch für Duderstadt zuständig, der kommt manchmal«, antwortete Frau Rudolf und es schien der Wachtmeisterin, dass die Frau, je länger sie redete, klarer denken und reden konnte.
»Sagen Sie mir noch in welcher Straße Sie wohnen, Frau Rudolph? Dann können wir uns bei Ihnen melden, wenn wir noch Fragen haben«, erklärte Marie. Die Frau gab ihre Adresse an, wünschte der Polizistin einen schönen Feierabend und legte auf. Sprachlos starrte Marie Steffen auf den Hörer. »Was war das jetzt? Erst ist die Frau total gaga und dann wieder normal. Wollte die mich verschaukeln?«
Wachtmeister Kowalski guckte zur Tür herein.
»Führst du Selbstgespräche?« Argwöhnisch schaute er Marie an. Sie reagierte nicht, schien in Gedanken weit weg zu sein. Plötzlich zuckte sie zusammen.
»Ey, musst du mich so erschrecken?«, fuhr sie den Kollegen an. »Ich hatte eben ein ganz komisches Telefonat.« Sie berichtete von dem eigenartigen Gespräch mit Frau Rudolf.
»Am besten, du rufst bei der Frau Hundeshagen an. Die weiß sicherlich, warum die Mutter Gottes nicht an ihrem Platz steht. Vielleicht wird sie für die Wallfahrt geputzt.«
»Hallo? Es gibt in diesem Jahr keine Wallfahrt. Schon vergessen? Wir leben im Coronamodus. Das gemeinschaftliche Leben wurde heruntergefahren«, sagte Marie und zog prophylaktisch ihren Mundschutz, der ihr am Hals baumelte, übers Gesicht, um Kowalskis Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.
»Daran gewöhne ich mich nie! Alles wird gestrichen. Die große Wallfahrt ist doch immer ein Highlight im Kirchenjahr und ein Gemeinschaftserlebnis für uns Eichsfelder. Wo findest du das noch? Aber ruf an. Irgendetwas stimmt da nicht«, meinte Kowalski und verließ kopfschüttelnd das Zimmer.
Marie zog den Mundschutz wieder runter, schnaubte einmal nach frischer Luft und rief ihm hinterher: »Ich gewöhne mich auch nicht dran, aber wat mot, dat mot!«
Gott sei Dank gab es in Germershausen nur eine Nummer unter dem Namen ›Hundeshagen‹. Die Wachtmeisterin wählte und erreichte die Frau sofort. Sie erkundigte sich, ob es einen Grund gab, warum die Muttergottesstatue in der Wallfahrtskirche nicht an ihrem Platz stünde. Es hätte sich jemand bei der Polizei