Mordsmäßig heilig. Barbara Merten
kopfschüttelnd und dachte: Am Handy kennt sich die Kleine besser aus als ich. Aber was eine Kirche ist, weiß sie nicht. Verrückte Welt!
»Ich will mal gucken!«, rief Elsa und lief den Weg zurück.
Abermals schüttelte Mathilde den Kopf und atmete stöhnend aus. »Kleiner Feger!«, raunte sie und war froh, dass hier vor der Pfarrei keine Autos fuhren. Sie schaute Elsa nach und musste die Hand an die Stirn halten, denn die Sonne blendete stark. Ihr fiel auf, dass die Männer, die aus dem Gotteshaus kamen, blaue Arbeitshosen und die gleichen rotgrün-karierten Hemden anhatten. Wie Zwillinge. Auf dem Kopf trugen sie beigefarbene Schirmmützen. Ihr Gesicht war durch schwarze Mundschutzmasken verdeckt.
Als sie Elsa und Mathilde erblickten, stoppten sie kurz, dann nickten sie sich zu und Mathilde beobachtete, wie sich ihre Gangart schlagartig veränderte. Im Eilschritt trugen sie nun das flache Teil, das in eine Wolldecke gewickelt war, den abgeschrägten Eingang hinunter zu ihrem Wagen.
Die holen bestimmt ein Gemälde zum Restaurieren ab.
In den Pfarrnachrichten hatte sie allerdings nichts darüber gelesen. Aber genau wusste sie es nicht. So streng wie früher nahm sie ihre kirchlichen Pflichten schon lange nicht mehr wahr. Viel zu oft fühlte sie sich von der Obrigkeit der Kirche unverstanden. Außerdem waren aus Furcht vor einer Pandemie seit dem Frühjahr sämtliche Messen abgesagt worden, sodass die Gläubigen auch untereinander kaum noch Kontakte pflegen konnten. Das gemeinschaftliche kirchliche Leben und das Vereinsleben waren so gut wie tot.
»Was machst du da?«, sprach Elsa einen der Männer an und stellte sich ihnen in den Weg.
»Vorsicht, Kleine! Mach Platz!«
»Hopp! Hopp!«, rief der andere mit drohend tiefer Stimme, um sie zu scheuchen.
Erschrocken trat Elsa zur Seite. »Warum bist du böse?«, fragte sie den Mann keck, beäugte ihn von oben bis unten.
»Weil du im Wege stehst! Verschwinde!«, antwortete er lauter werdend, nickte dem Anderen zu und warf Mathilde einen finsteren Blick rüber. Eingeschüchtert drückte sich Elsa an die Mauer mit dem Geländer und ließ die Männer vorbei. Sie legten das Teil mitsamt der Wolldecke hastig auf die Ladefläche zwischen die Decken, stiegen gehetzt in den Wagen.
Komisch. Als wären sie auf der Flucht, durchfuhr es Mathilde, als der Motor aufheulte. Aufgeregt rief sie: »Elsa! Bleib an der Mauer stehen! Rühr dich bloß nicht von der Stelle! Hörst du?« Sie hielt ihre Hand zum ›Stopp!‹ hoch. »Stehen bleiben!«
Viel zu schnell beschleunigte der Fahrer den schweren Wagen rückwärts, bremste dann scharf, als er das Kind im Rückspiegel sah. Elsa presste sich verängstigt an die Steine. Mathilde kreischte: »Halt! Das Kind!« Empört und voll Angst lief sie hin. »Sind Sie verrückt?«, schrie sie und versuchte in ihrer Not, den Wagen festzuhalten, damit er Elsa nicht plattdrückte. Doch der Fahrer legte den Vorwärtsgang ein, gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen los.
»Idiot!«, schrie Mathilde aufgebracht hinterher. Das Auto bog nach rechts zum Hauptportal der Basilika auf die Marktstraße und preschte dann übers Obertor aus der Innenstadt davon. Mathilde nahm Elsa in die Arme. Erleichtert, dass dem Kind nichts passiert war, lobte sie das Kind. »Das hast du toll gemacht, Elsa.« Sie streichelte ihr beruhigend über den Kopf, obwohl ihr eigenes Herz raste.
»Warum sind die schnell weggefahren, Tante Mathi?«
Nachdenklich betrachtete Mathilde das Kind.
»Ja, warum? Die hatten es plötzlich sehr eilig. Vielleicht mussten sie noch woanders hin«, antwortete sie, glaubte aber nicht, dass das der Grund für die Hals-über-Kopf-Aktion gewesen war.
Die sind ja regelrecht in Panik geraten. Als wollten sie nicht gesehen werden. Was hatte der Wagen eigentlich für ein Nummernschild?, überlegte Mathilde mit aufkommendem Unbehagen. Das hätte ich mir merken müssen als Frau von Hauptkommissar Christian Schneider, rügte sie sich selbst.
Sie blickte hinüber zum Pfarrhaus. Niemand war hinter den Fenstern zu sehen. Durch die weißen Gardinen, die keinen Blick in die Räume zuließen, erschien das Haus verlassen, regelrecht leblos. Energisch fasste Mathilde das Kind bei der Hand. »Komm Elsa, wir besuchen jetzt Anne im Pfarrhaus. Du kennst doch meine Freundin. Vielleicht hat sie noch Dienst.«
»Waru-um?«, wollte Elsa wissen.
»Weil mir das alles komisch vorkommt. Anne weiß vielleicht, was die Männer in der Kirche gemacht haben«, antwortete Mathilde.
Anne Müller war Sekretärin in der Propstei und würde wissen, ob etwas zur Restauration abgeholt werden sollte. Sie zögerte. Ich könnte ja auch selbst in der Kirche nachsehen. Würde ich überhaupt merken, wenn etwas fehlt? Das Gotteshaus war 2016 renoviert worden und Vieles befand sich nicht mehr an dem Platz, wo es früher gestanden hatte. Außerdem würde Elsa sie mit ihrem ›Warum-Gefrage‹ nerven. Mathilde entschied sich, im Pfarrhaus nachzufragen. Sie drückte die geschwungene Klinke der schweren Holztür hinunter, öffnete die Tür und betrat mit Elsa den kleinen Vorraum, klopfte an. Das hätte sie sich sparen können, denn direkt vor ihren Augen klebte ein Zettel. Dick gedruckt stand darauf: ›Mittwochnachmittags geschlossen‹.
»Ach ja, heute ist Mittwoch. Da ist Anne nicht hier«, seufzte sie. »Komm Elsa, wir gehen nach Hause. Onkel Christian wartet bestimmt schon. Dem kannst du das erzählen.«
»Au ja, Onkel Chris ist ein Polizist. Der sperrt die bösen Männer ein!«, rief die Kleine begeistert und hüpfte die Stufen der breiten Treppe hinunter.
Mathilde kramte in ihrer Tasche nach dem Mundschutz. »Aber zuerst gehen wir noch Wurst fürs Abendessen kaufen.«
»Ja! Eine Scheibe Kinderwurst!«, jubelte Elsa.
Beim Schlachter am Obertor war reger Betrieb. Sie mussten vor der Tür warten, bis zwei Kunden den Laden verließen. Erst dann durften sie den Verkaufsraum betreten. Mathilde nahm frisches Mett und ein paar Bratwürste, und Elsa bekam von der Verkäuferin eine Scheibe Wurst.
Mit vollgestopftem Mund erzählte sie schmatzend: »Weißt du wa-as? Bei dem großen Haus waren zwei Männer. Die sind ganz schnell weggebraust. Soo! Brrrrmmm. Beinah haben die mich totgefahren.« Elsa quetschte sich an die Ladentheke und zog den Bauch ein, damit die Verkäuferin sehen sollte, wie sie sich ans Mauerwerk gedrückt hatte. »Soo«, sagte sie, schaute die Bedienung ernst an.
»Oh, je. Da hattest du wohl Angst?«
Elsa setzte einen leidenden Blick auf und nickte. »Hm-hm. Aber Tante Mathi hat geschimpft. Ganz doll. Weil die nämlich böse waren.« In Gedanken an das Geschehene nickte die Kleine noch immer, schaute ins Leere. Plötzlich schrie sie laut: »I-di-ooot!«, so wie Mathilde hinter dem Wagen hergerufen hatte.
»Te!«, schnalzte Mathilde und schüttelte peinlich berührt den Kopf. »Psch! Elsa! Schrei nicht so. Das macht man nicht.«
»Aber du hast das auch gemacht. I-d-iooot!«, rief Elsa erneut, strahlte dabei übers ganze Gesicht, hüpfte dann voll Freude durch den Verkaufsraum.
»Na, das Wort gefällt dir aber«, meinte die Verkäuferin lachend und schaute fragend rüber zu Mathilde.
»Ja, das war schon komisch. Aus dem Behinderteneingang von St. Cyriakus sind zwei Männer gekommen. Ich dachte, dass es Tischler oder Restauratoren sind,« erzählte Mathilde kopfwiegend. »Jedenfalls haben sie einen schweren Gegenstand rausgetragen und hinten auf die Ladefläche gelegt. Aber als sie uns gesehen haben, sind sie fluchtartig in ihren Wagen gesprungen und verschwunden. Ich weiß nicht, ob da alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Kommt mir sehr verdächtig vor. Aber vielleicht bilde ich mir das ja nur ein.«
Mathilde legte das Geld, das sie bezahlen musste, in die Schale. Die Verkäuferin nahm es und meinte: »Oh, ich glaube nicht, dass Sie sich was einbilden, Frau Schneider. Als Frau von unserem Hauptkommissar haben Sie doch inzwischen auch den richtigen Blick für Verbrechen, oder?«
Mathilde zuckte die Achseln. »Oh, das sagen Sie bloß nicht meinem Mann. Der sieht das sicher anders«, schmunzelte sie.
»Aber