Seewölfe - Piraten der Weltmeere 494. Burt Frederick
Die Zukunftsaussichten waren alles andere als rosig für ihn. In seiner Gefolgschaft gab es ohnehin drei oder vier Figuren, die kritischer eingestellt waren, als ihm lieb sein konnte.
Wenn sich der Zweifel an seiner Person mehrte, konnte es sein, daß diese Burschen eine größere Schar von Gleichgesinnten zusammenkriegten. Dann wuchs der Stachel, den Satan in seine Glaubensgemeinde eingepflanzt hatte.
„Allmächtiger!“ stöhnte er verzweifelt. „Jetzt könntest du mir wirklich mal einen Strahl der Erleuchtung runterschicken!“
Doch dergleichen, wie er es seinen Jüngern und den Gläubigen gegenüber so oft behauptete, geschah nicht. Er blieb allein mit seinen marternden Sorgen. Wie, in aller Welt, sollte er mit einer lächerlichen Zahnlücke noch glaubhaft und vor allem erhaben wirken?
Plötzlich begriff er auch, woher dieser lächerliche Klang seiner Stimme gerührt hatte.
„Satan“, flüsterte er und erschrak von neuem.
O Gott, er lispelte!
Die verfluchte Zahnlücke bewirkte das. Und doch wollte er es nicht wahrhaben. Er mußte sich selbst auf die Probe stellen. Wenn er sich ein bißchen anstrengte, war es vielleicht nicht so schlimm. Einen Moment überlegte er und suchte passende Worte.
Dann flüsterte er: „Sarazenensäbel sausen sensengleich.“
Er horchte dem Klang seiner eigenen Worte nach. Es war niederschmetternd. Jedes S klang wie ein fürchterliches Mittelding zwischen einem F und einem W. Aber vielleicht lag es daran, daß er flüsterte.
„Sarazenensäbel sausen sensengleich“, sagte er laut und vernehmlich.
Es war noch erschreckender.
Die beiden Jünger, die mit dem Vorbereiten der naßkalten Umschläge beschäftigt waren, drehten sich erstaunt um.
Am liebsten wäre Webster in den Strand versunken.
„Beeilt euch!“ rief er, um seine Verlegenheit zu überdecken, ein Zustand, den sie ohnehin nie an ihm erlebt hatten. Und in diesen beiden Wörtern war wenigstens kein S enthalten.
Sie gehorchten. Er atmete auf. Immerhin zählte sein Wort noch etwas.
Plötzlich hatte er den rettenden Einfall.
„Kommt her!“ brüllte er. „Kommt her, habe ich gesagt! Sofort!“ Schmerzwogen dröhnten durch seinen Schädel. Dort, wo der Zahn fehlte, pochte es wie wild. Und er fluchte auf sich selbst, weil ihm gleich zwei Wörter mit S herausgerutscht waren. Er mußte in Zukunft besser auf sich aufpassen.
„Aber wir sind mit den Umschlägen noch nicht fertig, großer Meister“, antwortete der Erste Jünger vom seichten Wasser her.
„Unwichtig! Liegenlassen! Ich habe euch etw…“ Er verschluckte die Silbe gerade noch rechtzeitig und fuhr gefahrloser fort: „… eine Mitteilung zu machen. Bewegt euch!“
Die beiden Jünger wechselten einen Blick, hoben die Schultern und ließen die sorgfältig zusammengelegten Umschläge fallen. Mit langen Sätzen eilten sie den Strand hinauf. An ihre eigenen Blessuren dachten sie nicht mehr. Sie hatten lange genug gelernt, daß eigene Belange stets dann zurückstehen mußten, wenn es um das Wohlergehen des Großmeisters ging.
Die beiden anderen schienen den Befehl nicht gehört zu haben. Nur ein fernes Rascheln war aus dem Unterholz zu hören.
„Soll ich …?“ setzte der Erste Jünger an und deutete mit einer Handbewegung zum Dickicht.
„Nein“, entgegnete der Erhabene. „Das würde zu lange dauern. Ihr werdet meine Botschaft vernehmen und sie weitertragen, in alle Winde, damit die Welt es erfährt.“ Die Welt bestand zwar nur aus einer Anhängerschar von etwa vierhundert Seelen, aber das wollte nichts heißen. Daß sie fruchtbar sein und sich mehren sollten, hatte er ihnen schon oft genug verklart.
Vielleicht breiteten sie sich über die ganze Neue Welt aus, wenn die Burg Jerusalem erst einmal erbaut war und man richtig Fuß gefaßt hatte. Das wiederum eröffnete für ihn, Jeremiah Josias Webster, die Aussicht, mit seinem Namen in die Geschichte einzugehen – als der Prophet, der seine Jünger in das Gelobte Land geführt hatte.
Er mußte es nur richtig anfangen, dann würde man auch nach seinem Tod noch voller Ehrfurcht von ihm sprechen. Vielleicht würde man ihm sogar ein Denkmal setzen. Nur, davon hatte er dann nichts mehr. Das war der einzige, wenig tröstliche Umstand an der ganzen Geschichte.
Nun, das Denkmal konnte er sich schon zu Lebzeiten errichten lassen. Und was den späteren Ruhm betraf, so gab es ja vielleicht doch diese kleinen Wolken hoch oben. Auf einer davon würde er nach aller Mühsal auf Erden ruhen, als pausbäckiger Engel, und hinabschauen und horchen, wieviel dummes Zeug über ihn gefaselt wurde.
Aber nein, das würde nicht geschehen. Er würde ihnen vor seinem Abtreten noch rechtzeitig einbleuen, daß über ihn, den Erhabenen, nur Gutes geredet werden durfte, wenn er nicht mit fürchterlichem Strafgericht vom Himmel herabsteigen sollte.
Der Erste Jünger räusperte sich.
Aus dem Dickicht war noch immer das Rascheln der nach Wasser und Früchten Suchenden zu vernehmen.
Webster riß sich von seinen schwärmerischen Gedanken los. Manchmal packten ihn solche Visionen, und diesmal waren sie so stark, daß er darüber fast seine Schmerzen vergessen hätte. Er räusperte sich ebenfalls.
„Kniet nieder“, befahl er. „Es handelt sich um einen Augenblick der Andacht. Was geschehen ist, wird von entscheidender Bedeutung für unser aller Zukunft sein.“
Die beiden Jünger gehorchten, knieten in den Sand, senkten den Kopf und falteten die Hände vor dem Bauch.
Webster stimmte einen leiernden lateinischen Singsang an.
„Gelobt sei der Herr. Amen“, sagte er dann. „Blickt auf und seht mich an.“
Die Jünger gehorchten zögernd.
Webster wußte, daß das Mondlicht ausreichend war.
„Seht her“, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf seinen blutigen Mund. Er öffnete die Lippen. „Wißt ihr, was das ist? Könnt ihr es hören?“
Die Jünger preßten verlegen die Lippen aufeinander und kneteten die Finger.
„Großer Meister, es geziemt sich nicht“, sagte der Zweite vorsichtig.
Webster lächelte gerührt.
„Natürlich tut ihr recht daran, nicht unbotmäßig von eurem Großmeister zu reden. Wohlgetan! Aber in diesem Fall machen wir eine Ausnahme. Es muß sein. Denn es ist der Wille des Herrn, der geschehen soll.“ Er genoß es, wie sie ihn mit großen, runden Augen ansahen. „Also heraus damit. Was fällt euch an mir auf?“
Einen Moment drucksten sie noch herum.
„Euch fehlt ein Schneidezahn“, erwiderte der Erste Jünger dann.
„Oben fehlt er, in der oberen Reihe“, fügte der Zweite wenig geistreich hinzu.
Webster war geneigt, einen verzweifelten Blick zum Himmel zu schicken. Aber er ließ es, denn er wußte, daß er mit den treuen unter seinen Gefolgsleuten Geduld haben mußte. Er durfte sie auch nicht ständig anbrüllen, das mußte er sich zu Herzen nehmen. Manchmal brauchten sie das Zuckerbrot, nicht immer nur die Peitsche.
„Richtig“, sagte er daher in schulmeisterhaftem Tonfall. „Das ist es, was wir sehen. Und was hören wir?“
Die beiden Jünger senkten verlegen den Kopf.
„Großer Meister“, nuschelte der Erste, „das wäre nun wirklich nicht recht, wenn wir einfach sagen …“
„Sarazenensäbel“, sagte Webster laut und vernehmlich. „Begreift ihr jetzt? Heraus damit! Sprecht es aus!“
„Ihr lispelt“, sagte der Zweite und hielt sich im nächsten Atemzug erschrocken die Hand vor den Mund. Prompt bedachte ihn der Erste Jünger