Seewölfe - Piraten der Weltmeere 212. Roy Palmer

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 212 - Roy Palmer


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Schwester und raunte: „Ruhig, ganz ruhig, weine jetzt nicht. Sie werden die paradiesische Glückseligkeit finden und nie mehr zu leiden haben.“ Sie wies auf den Anführer der Piraten und zischte: „Aber er wird ihnen dorthin nicht folgen. Mulayaka und die anderen Dämonen der Finsternis werden ihn bis in die Ewigkeit hinein quälen, denn genau das hat er verdient.“

      Ginesh preßte die Hände vors Gesicht, doch über ihre Lippen drang kein Laut.

      Shandra ließ sie gewähren. Den Schmerz über den Verlust ihrer Eltern und ihres Bruders konnte sie ihr nicht nehmen; es war gut, wenn Ginesh allein damit fertig wurde.

      Raghubir stöhnte nicht mehr. Er lag auf der linken Seite seines Körpers und war zu keiner Bewegung fähig. Nur in seinen Augen schien noch Leben zu sein. Sein Blick richtete sich auf den Krug, den er leergetrunken und anschließend auf dem Boden abgestellt hatte, dann wanderte er weiter, und der Ausdruck von Entsetzen und Unglauben verwandelte sich in lodernden Haß, als er Shandras Gesicht erreichte.

      Shandra erwiderte den Blick ungerührt.

      Die Luft im einzigen großen Raum der Hütte war von dem starken Duft des Weinpunsches geschwängert, aber auch von dem herben Geruch der Tanjoghe-Blätter, der sich jetzt mehr und mehr ausbreitete. Der Regen trommelte mit ungehemmter Kraft auf das Dach der Behausung, und manchmal geriet ein Tropfen durch den Rauchabzug in das Feuer. Es zischte, aber der Regen konnte die Flammen nicht löschen.

      „Heißer Wein“, sagte Shandra. „Du wolltest dich damit gegen die Fieberkrankheiten schützen, die der große Regen bringt, doch du hast das Gegenteil erreicht, Mörder. Die Spanier, denen dieser Wein dereinst gehörte, wären froh, heute zu erfahren, welchen Zweck er erfüllt hat. Aber sie werden es nie mehr vernehmen, denn du hast auch sie getötet. Wie viele Menschen hast du umgebracht, Raghubir?“

      Er starrte sie aus unnatürlich geweiteten Augen an, doch der Haß schien langsam zu erlöschen. Sein Blick trübte sich.

      „Es müssen Hunderte sein“, sagte Shandra, dann erhob sie sich und schlich zur Tür der Hütte. Sie lauschte eine Weile dem Grölen und Singen der Männer und dem Kreischen der Mädchen in den Nachbarhütten, wandte sich darauf wieder ihrer Schwester zu und wisperte: „Sie sind beschäftigt, diese elenden Hunde. Sie ahnen nichts, schöpfen noch keinen Verdacht, daß etwas nicht stimmen könnte. Aber bald wird Koppal, der Narbige, auftauchen und nach dem Rechten sehen. Er mißtraut uns, weil wir Jammur, seinen Kumpan, getötet haben, und er wird sofort versuchen, uns totzuschießen, wenn er uns hier neben der Leiche Raghubirs antrifft.“

      „Wir müssen fort“, flüsterte Ginesh. „Aber wohin?“

      „Zur Bucht. Dort liegen ihre Boote.“

      „Du willst – auf das Wasser hinaus?“

      „Ja. Zum Festland ist es nicht weit. False Divi liegt vor der Mündung des Krishna-Flusses“, sagte Shandra. „Wir müssen die Sümpfe des Deltas durchqueren und nach einem Dorf suchen. Dort sind wir sicher, vorläufig jedenfalls.“

      Sie wollte weitersprechen, schwieg jetzt aber, weil sie festgestellt hatte, daß Raghubirs Augen sich nicht mehr in ihren Höhlen bewegten. Blicklos waren sie auf die Hüttenwand gerichtet.

      Shandra ging zu ihm, beugte sich über ihn, richtete sich wieder auf und sagte: „Er ist tot. Los jetzt, Ginesh. Ich nehme seine Waffen. Ich glaube, ich kann damit umgehen, ich habe gesehen, wie man die Feuerrohre bedienen muß. Lauf du als erste los, Schwester, und nimm den Pfad zur Bucht hinunter.“

      Ginesh sah sie entgeistert an. „Du kommst nicht mit? Aber …“

      „Ich passe auf, daß dir keiner folgt“, unterbrach Shandra sie mit sanftem Lächeln. „Dann versuche ich, wenigstens noch einige unserer armen Stammesschwestern zu befreien. Wir müssen uns trennen, Ginesh, anders geht es nicht. Willst du die anderen etwa ihrem Schicksal überlassen? Willst du das wirklich?“

      Ginesh senkte ihren Blick zum Hüttenboden. „Nein.“

      „Dann lauf, so schnell du kannst“, sagte ihre Schwester. „Wir sind frei und werden leben, denn Vishnu, der Erhalter, ist unser Verbündeter.“

      Sie bückte sich noch einmal zu Raghubir hinunter und zog diesem die Steinschloßpistole aus dem Waffengurt. Dann schaute sie sich nach seiner Muskete um und entdeckte sie jenseits des Feuers an der gegenüberliegenden Hüttenwand.

      Der Pirat war groß und kräftig gebaut. Er trug nur einen Lendenschurz und eine turbanähnliche Kopfbedeckung. Er hockte unter dem riesigen Seidenbaum, der ihm und seinem Begleiter nur unzulänglichen Schutz vor den niederprasselnden Regentropfen bot. Das Wasser lief an seiner muskulösen braunen Gestalt hinunter und formte Pfützen neben seinen nackten Füßen.

      Mißmutig blickte er zu dem Kumpan, einem hageren Bengalen, hinüber.

      „Baudh soll verdammt sein“, sagte er. „Er hat uns als Wachtposten eingeteilt – ausgerechnet uns.“

      „Raghubir hat es ihm gesagt.“

      „Aber die Wahl blieb Baudh überlassen. Der Hund kann uns nicht leiden, ich schwöre es dir. Deshalb hat er uns zu diesem verfluchten Sträflingsdienst verdonnert.“

      „Baudh ist Raghubirs bester Vertrauter“, sagte der Bengale. „Keiner kann ihm seinen Platz als die rechte Hand unseres Führers streitig machen. Deswegen hat es keinen Sinn, gegen ihn aufzumucken.“

      Der Große verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Du hältst zu ihm, wie? Ihr stammt ja aus derselben Gegend, nicht wahr, und deswegen seid ihr ein Herz und eine Seele, oder?“

      „Das redest du dir nur ein. Ich sage, es hat keinen Zweck, gegen ihn aufzumucken.“

      „Wer will denn meutern?“ stieß der Große wütend hervor. „Verdreh mir bloß nicht das Wort im Mund.“ Er wischte sich mit seiner groben, schwieligen Hand das Regenwasser aus dem Gesicht. „Ich meine nur – wir hätten jetzt oben im Lager sein können, um mit den anderen zu feiern, um zu trinken und uns darüber zu freuen, daß wir dem Gefecht gegen diese fremden Teufel mit heiler Haut entronnen sind. Ja, wir hätten unseren Spaß mit den Weibern haben können, sie sind jung und hübsch und wahrscheinlich alle noch unberührt, aber statt dessen sitzen wir hier in Dreck und Schlamm und müssen uns bis auf die Knochen durchnässen lassen.“

      „Wir können uns doch ein kleines Schutzdach aus Zweigen und Blättern bauen“, schlug der Bengale vor.

      Der Große lachte höhnisch auf. „Damit die Wachablösung sich nachher hübsch gemütlich ins Trockene setzen kann, was? Ohne auch nur einen Finger zu rühren – das könnte den Höllenbraten so passen. Nein, für die tue ich keinen Handstreich.“

      „Du bist so zornig, daß du überhaupt nichts mehr begreifst“, sagte der andere.

      „Ja, ich bin wütend! Warum passen wir eigentlich auf die Schiffe auf? Es ist überflüssig. Keiner holt sie aus der Bucht weg, und keiner läuft False Divi bei diesem Regen an.“

      Der Bengale erhob sich. „Es ist mir egal, was du denkst. Ich gehe jetzt Reisig holen und baue mir das Dach allein. Der Regen bringt auch die schlimmen Krankheiten, vergiß das nicht. Und ich will nicht am Fieber sterben, jetzt, da wir wieder hier sind und uns erholen können.“

      Er stapfte über den schlüpfrigen Strand auf das Dickicht zu, drang zwei Schritte ein und begann, große und kleine Zweige loszubrechen.

      Der Dschungel atmete seinen stikkigen Dunst aus, der jeden Atemzug zu lähmen drohte. Die Hitze und die Feuchtigkeit ließen den Wald zu einer wahren Brutstätte all der Krankheiten werden, die jeder Eingeborene fürchtete: Malaria, Schlafkrankheit, Gelbfieber, Ruhr, Cholera und Pest. Der Bengale schüttelte sich unwillkürlich, als er daran dachte.

      Der Große kauerte in unveränderter Haltung unter dem Seidenbaum und grübelte mit finsterer Miene darüber nach, wer wohl die fremden Männer an Bord der dreimastigen Galeone gewesen sein mochten, die ihnen in der vergangenen Nacht so arg zugesetzt hatten. Spanier? Portugiesen? Engländer?

      Sie hatten mit teuflischen Mitteln


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