Seewölfe - Piraten der Weltmeere 212. Roy Palmer
neuen Kampf gegen die Piraten keine Hilfe, sondern eher eine Last dargestellt hätte.
So harrten Narayan, Chakra und Kankar bangen Herzens in der Achterdeckskammer der „Isabella“ aus, in der der Seewolf sie untergebracht hatte. Sie flehten in ihren stummen Gebeten Brahma, Vishnu, Krishna, Shiva, Indra und die anderen Gottheiten der Hindus an, sie mögen den weißen Männern bei ihrem tollkühnen Unternehmen beistehen – damit Shandra, Ginesh und die anderen Mädchen von Kadiri nicht sterben mußten.
Ginesh hatte das Lager der Piraten verlassen und hastete auf dem Pfad zur Bucht hinunter. Ihr Herz schlug schnell und heftig, und die Angst vor etwaigen Verfolgern saß ihr wie eine Faust im Nacken. Immer wieder drehte sie sich um und blickte zurück in den grünen, dampfenden Wald. Aber niemand erschien hinter ihr, um sie festzuhalten und zurück zu den Hütten zu schleppen.
Sie rutschte auf dem morastigen Untergrund aus und stieß sich beinah den Kopf an einem der mächtigen Baumstämme. Fast hätte sie aufgeschrien, aber sie konnte sich im letzten Augenblick noch beherrschen. Sie zwang sich zu eiserner Disziplin, rappelte sich wieder auf und lief weiter.
„Du mußt stark sein und hart gegen dich selbst werden.“ Diese Worte hatte Shandra ihr mit auf den Weg gegeben. Jetzt, da sie ganz auf sich allein angewiesen war, wollte Ginesh um jeden Preis zeigen, daß sie nicht mehr das törichte Kind war, das bei jedem Anlaß zu weinen anfing.
Shandra, ich will so wie du werden, dachte sie, und sie eilte weiter durch den Regen, der sie bis auf die Haut durchnäßte, aber auch den gröbsten Schmutz von ihrem dünnen Gewand wusch.
Sie glaubte, das Herz würde ihr stehenbleiben, als sie mit einemmal eine dicke Schlange gewahrte, die keine fünf Schritte vor ihr behäbig von links nach rechts über den Pfad wechselte. Sie fürchtete sich davor, durch einen Sprung über das Reptil hinwegzusetzen, deswegen drückte sie sich nach links ins Dickicht und wartete ab, bis es verschwunden war.
Riesenschlangen wie diese bissen ihre Opfer nicht tot, sie fingen sie mit ihren Leibeswindungen ein und erwürgten sie. Ginesh hatte schon von Männern vernommen, die über eine Python gestolpert, gestürzt und dann von ihr gepackt worden waren, ehe sie wieder hatten aufspringen können. Wie wahr solche Geschichten, die in den Fischerdörfern erzählt wurden, tatsächlich waren, vermochte sie nicht abzuschätzen. Sie konnte aber nicht Herr über ihre Angst werden und versteckte sich zitternd im Gestrüpp.
Plötzlich drangen Stimmen an ihr Ohr.
Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Täuschte sie sich – oder näherte sich da jemand?
Ihre Knie begannen immer heftiger zu beben, so stark, daß sie nachzugeben drohten. Nur mühsam hielt Ginesh sich aufrecht und spähte im prasselnden Regen nach den Männern, die jetzt ganz dicht vor ihr waren und sich offenbar in einer fremden Sprache unterhielten.
Es waren sechs Männer. Sie schritten an ihr vorbei, ohne sie zu entdekken. Soweit das Mädchen erkennen konnte, handelte es sich um einen großen Schwarzhaarigen, einen bulligen Mann mit Narben im Gesicht, einen Bärtigen, einen schlanken Dunkelhaarigen und einen noch etwas schmaleren, jungen Mann mit hellblondem Haar. Diese fünf waren Weiße, aber der sechste, ein wahrer Herkules an Gestalt, war pechschwarz. Menschen solcher Hautfarbe hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie erschrak zutiefst. Wer waren sie?
Wie gelähmt wartete sie ab, bis sie in Richtung auf das Piratenversteck verschwunden waren. Dann kehrte sie auf den Pfad zurück.
Auch die Riesenschlange war fort. Der Weg war frei. Ginesh lief weiter, so schnell sie konnte. Immer wieder blickte sie über die Schulter zurück.
Für sie gab es nur eine Erklärung für das unvermittelte Auftauchen der sechs Männer: Sie gehörten der Bande der Freibeuter an, hatten vorher unten an der Ankerbucht Wache gehalten und begaben sich jetzt ins Lager, um an der Feier teilzunehmen, die dort begonnen hatte.
Warum sollte Raghubir keine Männer in seine Meute aufgenommen haben, die anderer Herkunft als er und die übrigen Kerle waren? Möglich war alles, und die weißen Männer, von denen ihr Vater ihr manchmal erzählt hatte, waren dem Vernehmen nach auch nicht besser als die, die in Indien zu Hause waren. Sie hatten Madras besetzt und die Macht über die Stadt an sich gerissen; sie töteten, raubten und brandschatzten und wollten das ganze Land ihrem Einfluß unterwerfen. So jedenfalls stellten es die Pandas, die Schriftgelehrten, die Brahmanen und die Dorfältesten dar.
Shandra hatte nicht bedacht, daß Raghubir bei den Schiffen und Booten Wachtposten zurückgelassen haben konnte. Ginesh dankte den Göttern dafür, daß sie den sechs Männern entgangen war.
Vielleicht hat Brahma die Schlange geschickt, damit ich mich versteckte, dachte sie, wer weiß.
Sie hoffte inständig, daß es jetzt keine Wächter mehr an der Ankerbucht gab und der Weg zu den Beibooten der Schiffe frei war.
Auf nackten Fußsohlen lief sie durch den Regen. Sie fiel nicht mehr, begegnete weder Tieren noch Männern und erlebte auch sonst keinen Zwischenfall. Das Tor zur Freiheit schien jetzt endgültig offenzustehen.
Shandra hatte mit der Steinschloßpistole und der Muskete Raghubirs die Hütte verlassen und schlich zu der benachbarten Behausung hinüber. Sichernd blickte sie nach allen Seiten, konnte aber niemanden entdecken, der sie beobachtete und aufzuhalten trachtete.
Und wenn sich jemand zeigt, dann schieße ich ihn nieder, dachte sie. Sie hatte es Raghubir und seinen Kerlen abgeschaut, wie man die seltsamen Feuerrohre bediente: Man spannte mit dem Daumen den oberen Hahn, bewegte mit dem Zeigefinger den anderen, gebogenen Hahn unter dem hölzernen Rahmen – und schon spuckte das Rohr Feuer und Eisen und brachte den Tod.
Shandra pirschte an der Wand der Hütte entlang, die dem Dschungel zugewandt war. An dieser Seite gab es keinen Einlaß. Die Tür war vorn und öffnete sich zu dem Platz hin, der sich als kleines Rondell zwischen den acht Gebäuden erstreckte.
Sie hatte sich vorgenommen, erst ganz um die Hütte herumzugehen, bevor sie eindrang und auf die Piraten schoß. Wenn es im Freien niemanden gab, der ihren Plan vereitelte, gelang es ihr vielleicht, die Mädchen in dieser Hütte zu befreien und mit ihnen einen Vorstoß zu der nächsten Hütte hin zu unternehmen. Sie konnte den Piraten, die sie tötete, die Waffen abnehmen, und Shandra war sicher, daß ihre Stammesschwestern voll Haß gegen die übrige Bande kämpfen würden. Nichts konnte sie aufhalten. Lieber starben sie, als daß sie sich von diesen Teufeln noch einmal demütigen ließen.
Geschrei und Gelächter drangen aus den Hütten, und zwischendurch war immer wieder das Klagen und Wimmern der Mädchen zu hören.
Shandra hielt die Steinschloßpistole in ihrer rechten Hand. Ihre Miene war hart, ihre Lippen hatte sie zusammengepreßt, und sie wußte, daß sie sofort abdrücken würde, wenn ihr jemand den Weg verstellte. Wie sie im Urwald von Kadiri den gräßlichen Jammur, Koppals Kumpan, getötet hatte, als er über Ginesh hergefallen war, so würde sie auch jetzt wieder töten, um ihre Ehre zu verteidigen und die anderen Mädchen vor einem grausigen Schicksal zu bewahren.
Im dichten Regen schob sie sich auf die Ecke der Hütte zu.
Sie zuckte zusammen, als vor ihr eine Gestalt erschien – irgendwie hatte sie es erwartet. Es wäre schon fast ein Wunder gewesen, wenn sie den Eingang zur Hütte ohne jeglichen Aufenthalt erreicht hätte.
Der Mann, der die Ecke umrundet hatte, war Koppal.
Er blieb stehen, und seine Züge verzerrten sich zu einer Grimasse des Hasses und der Verschlagenheit.
„Ich wollte nur einen Kontrollgang unternehmen“, sagte er so leise, daß sie es gerade noch verstehen konnte. „Nur eben um die Hütte herum und dann zu Raghubir hinüber, denn ich traute dem Braten nicht.“ Seine Hand senkte sich auf den Griff seines Säbels. „Wie recht ich gehabt habe.“
Sie richtete die Mündung der Pistole auf seine Brust.
„Stirb“, sagte sie. „Stirb wie dein Führer. Tod euch allen, verflucht sei euer Teufelsnest.“ Sie drückte ab.
Aber statt des erwarteten Schusses ertönte nur ein schwaches metallisches Klicken. Feuer und Rauch blieben aus, keine