Seewölfe - Piraten der Weltmeere 262. John Roscoe Craig
und zerrte seine Pistole hervor, die er vorn im Gürtel seiner Hose stecken hatte.
„Zur Seite!“ brüllte er die beiden Aufseher an, die sich nicht an den Ruderer heranwagten. Die beiden gehorchten nur zu gern. Sie gaben dem Kapitän die Sicht auf den Rudersklaven frei, der immer noch seine Kette schwang, deren eines Glied er geknackt haben mußte.
Die Kugel aus der großkalibrigen Pistole des Kapitäns traf den Mann in die Brust und stieß ihn zurück gegen die drei anderen Ruderer, die mit ihm auf einer Duchts saßen. Sie schrien auf, als sie das Blut ihres Leidensgenossen an ihren Händen spürten, und einer von ihnen brüllte: „Schlagt endlich dieses Schwein von einem Kapitän tot!“
Ehe Juan de Faleiro reagieren konnte, war der Mann aufgesprungen, hatte die lose Kette aufgehoben, die dem Toten aus den Fingern geglitten war, und hieb damit auf de Faleiro ein.
Die Kette streifte den Kapitän an der linken Schulter und riß ihm das Wams entzwei. De Faleiro kreischte wie ein Schwein, das zur Schlachtbank geführt wird. Er stolperte und wäre fast auf der anderen Seite des Laufganges zwischen zwei Duchten gestürzt. Hände griffen instinktiv nach ihm, aber da fauchten die Peitschen der Aufseher durch die Luft und klatschten auf die Arme der Rudersklaven. Einer der Aufseher faßte nach dem linken Arm des Kapitäns und zog ihn auf den Laufgang zurück.
Schreiend riß sich Juan de Faleiro los. Der aufgerissene Ärmel seines linken Armes färbte sich dunkel von seinem Blut. Als er es sah, traten ihm die Augen aus den Höhlen. Der Zeigefinger seiner rechten Hand stach auf den Mann zu, der ihn mit der Kette getroffen hatte.
„Schließt ihn los!“ kreischte er. „Ich werde den verlausten Verbrechern zeigen, was es heißt, die Hand gegen den Kapitän zu erheben! Ich werde ein Exempel statuieren, daß euch Hundesöhnen ein für allemal die Lust vergeht, euch über Schläge und schlechte Behandlung zu beschweren!“
Er hastete den Laufgang zurück bis zum Tabernakel, neben dem Jesus Valencia stand und sich das Schauspiel ansah. Sein Anblick brachte Juan de Faleiro noch mehr in Rage. Er zitterte am ganzen Körper, und über seine flekkige Glatze lief der Schweiß in Strömen. Er wollte Valencia anschreien, doch dann durchzuckte ein Gedanke seinen Geierschädel. Das Zittern seines Körpers hörte von einem Moment zum anderen auf. Er drehte sich um und beobachtete, wie die Aufseher den Rudersklaven, der auf den Kapitän mit der Kette losgegangen war, zusammenschlugen und losschlossen. Zwei Seeleute trugen den schwer verwundeten Aufseher zur achteren Plattform. Der Mann war ohne Bewußtsein. Sein Rücken sah merkwürdig krumm aus, und Jesus Valencia, der mit zusammengekniffenen Lippen auf den Mann starrte, ahnte, daß die Kette dem Aufseher das Rückgrat gebrochen hatte.
Ihm wurde schlecht. Nicht so sehr vor dem Anblick eines halbtoten Mannes – die hatte er in vielen Seegefechten schon mehr als einmal gesehen. Nein, die brutale Gewalt, die an Bord der „San Antonio“ herrschte, bewirkte die Übelkeit, die ihn befiel.
Gewalt erzeugte Gegengewalt, und mit brutalen Schlägen wurde die Leistung eines Rudersklaven eher gemindert als gesteigert.
Jesus Valencia ahnte, daß der Kapitän das wußte. Wenn er dennoch duldete, daß seine Aufseher ihre Peitschen mit aller Brutalität einsetzten, und er es ihnen sogar befahl, dann blieb nur ein Schluß übrig: Juan de Faleior war ein Mann, der sich an den Qualen anderer weidete, der andere quälen mußte, um sich von Tag zu Tag neu seiner Macht bewußt zu werden.
Jesus Valencia starrte auf den schmalen Rücken des kleinen Kapitäns, der die „San Antonio“ in eine Hölle verwandelt hatte. Eine kurze Bewegung zum Gürtel, mit der er seine Pistole herausziehen würde, ein Krümmen des Zeige-fingers – und die Welt wäre von einem üblen Menschenschinder befreit.
Er schüttelte den Kopf. Er würde es nie fertigbringen, einen Menschen kaltblütig zu ermorden.
„Sein Rückgrat ist gebrochen“, hörte er die kalte Stimme des Kapitäns. „Gebt dem Mann eine Kugel, damit er nicht mehr leidet.“
Es war still an Bord. Nur der auffrischende Wind, der das Meer zu kräuseln begann, sägte jaulend an den Wanten.
Carlos Mendez, der Zweite Offizier, durchbrach das entsetzte Schweigen.
„Señor Capitán, wir sollten Segel setzen“, sagte er. „Der Wind frischt immer mehr auf, und die Ruderer brauchen unbedingt eine Erholungspause.“
Mendez sah sofort, daß die letzten Worte zuviel waren.
„Es wird weitergerudert, bis ich den Befehl gebe, die Riemen einzuholen!“ brüllte de Faleiro. Mit einem Wink rief er den Zuchtmeister heran und befahl ihm, den tödlich verwundeten Aufseher von seinen Qualen zu erlösen.
Der Zuchtmeister, sonst brutal wie der Kapitän, wurde ein wenig blaß um die Nase, aber er führte den Befehl aus, ohne lange zu zögern. Als das Echo des Schusses über der „San Antonio“ verhallt war, schien sich Juan de Faleiro wieder wohler zu fühlen. Er starrte den Rudersklaven an, den zwei Aufseher zwischen sich wie in einem Schraubstock hatten.
Der Mann hatte seinen Widerstand aufgegeben. Er wußte daß er ein todgeweihter Mann war, aber der Tod hatte für jemanden, der an Bord der „San Antonio“ Sklavendienste zu verrichten hatte, seinen Schrecken verloren.
„Hängt den Mann an die Rahnock!“ befahl Juan de Faleiro kalt. „Señor Valencia, Sie übernehmen die Hinrichtung. Sobald er baumelt, werden Segel gesetzt!“
Die Trommel wurde wieder geschlagen. Die langen Riemen tauchten ins Wasser und schoben das schlanke Schiff durch die unruhiger werdende See.
Jesus Valencia sah das hämische Grinsen des Kapitäns, und er wußte, daß er sich diesmal seinem Befehl nicht widersetzen konnte. Der Rudersträfling hatte den Kapitän angegriffen, und darauf gab es auf See nur eine Strafe: den Tod.
Mit leiser Stimme befahl Valencia den Aufsehern, die Leiche des von Juan de Faleiro erschossenen Ruderers über Bord zu schaffen und die Hinrichtung so schnell wie möglich vorzubereiten. Dann ging er über den Laufgang hinüber zur vorderen Plattform, wo Teniente Ribera, der Befehlshaber über die Seesoldaten, unbeweglich stand und ihm entgegenblickte.
Ribera schien zu spüren, was in Valencia vorging.
„Tut mir leid, Valencia“, sagte er leise, „aber ich konnte es nicht verhindern. Auf diesem Schiff sitzen die wahren Verbrecher nicht auf den Ruderbänken, sondern befinden sich auf dem Laufgang. Es ist ein Wunder, daß nicht schon längst etwas Derartiges geschehen ist. Die Leute werden bis aufs Blut gepeinigt, obwohl keine Veranlassung dazu besteht. Ich glaube, der Tote, den sie da gerade über Bord werfen, hat einen der Aufseher nur mal herausfordernd angeschaut. Der Aufseher hat ihn so lange gepeitscht, bis es ihm zuviel wurde und er plötzlich die Kette hochschwang und zuschlug. Er mußte das Glied schon irgendwann vorher gesprengt haben.“
Jesus Valencia nickte. So ähnlich hatte er sich die ganze Sache ebenfalls gedacht.
„Er ist der Kapitän“, erwiderte er nur.
Ribera nickte grimmig.
„Zum Glück hat er mir und meinen Männern nichts zu befehlen“, sagte er. „Wahrscheinlich wird er in Spanien einen Bericht über mich schreiben, aber er kann sich darauf verlassen, daß mein Bericht auch an die richtigen Stellen gelangt.“
Jesus Valencia war versucht, Ribera ins Vertrauen zu ziehen, aber er unterließ es. Konnte er dem Teniente trauen? Er wußte es nicht. Alles, was er gegen Juan de Faleiro plante, mußte für die anderen wie Meuterei aussehen. Und schließlich war es das auch. Nach seinen Beweggründen würde niemand fragen, wenn er versuchte, de Faleiro die Befehlsgewalt über die „San Antonio“ zu entreißen. Das war sowieso nur möglich, wenn er den Kapitän tötete.
Jesus Valencia schüttelte den Kopf. Er steckte in einer ausweglosen Klemme. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Mund zu halten und den Verbrechen des Kapitäns stillschweigend zuzusehen. Es sei denn, er nahm seinen eigenen Tod in Kauf.
Er ging zurück zur achteren Plattform. Der Kapitän hockte wieder in seiner Kammer und brütete wahrscheinlich über dem Kurs, den die französische Galeone genommen hatte. Carlos Mendez, der Zweite