Die Botschaft der Bhagavadgita. Sri Aurobindo
Seele des Menschen zum Höchsten empor, param āpnoti pūruṣaḥ. (115)
3.20
Gerade durch ihr Wirken haben Janaka und die Übrigen Vollkommenheit erreicht. So sollst auch du deine Werke tun auch hinsichtlich des Zusammenhalts der Völker.
Slokas 20-26: Es gibt in der Gita wenige Stellen, die wichtiger wären als diese sieben eindrucksvollen Verse. Wir wollen aber klar erkennen, dass sie nicht so interpretiert werden dürfen, wie die moderne pragmatische Tendenz sie zu erläutern sucht, die viel eher an den gegenwärtigen Dingen der Welt interessiert ist als an einer hohen und weit entlegenen spirituellen Möglichkeit: Als ob diese Verse nicht mehr wären als eine philosophische oder religiöse Rechtfertigung für sozialen Dienst, für patriotische, kosmopolitische und humanitäre Bemühung und eine Vorliebe für die hundert hochfliegenden sozialen Pläne und Träume, die den modernen Intellekt anziehen! Hier wird keine Vorschrift für einen umfassenden moralischen und intellektuellen Altruismus verkündet. Hier handelt es sich vielmehr um die spirituelle Einung mit Gott und mit dieser Welt der Wesen, die in ihm leben, wie er in ihnen lebt. Hier wird nicht die Forderung erhoben, der Einzelne müsse sich der Gesellschaft oder der Menschheit unterordnen, er müsse seinen Egoismus auf dem Altar des menschlichen Kollektivs opfern. Vielmehr soll sich der Einzelne in Gott zur Erfüllung bringen und das Ego auf dem einzig wahren Altar der allumfassenden Göttlichkeit als Opfer darbringen. Die Gita bewegt sich auf einer Ebene von Ideen und Erfahrungen, die höher liegt als die des modernen Mentals, das gewiss jetzt auf der Stufe eines Ringens steht, durch das die Fesseln des Egoismus abgeworfen werden sollen, das aber in seiner Anschauung noch weltlich, intellektuell und in seinem Temperament eher moralisch als spirituell ist. Patriotische und kosmopolitische Gesinnung, Dienst an der Gesellschaft, kollektive und humanitäre Ideale oder die Religion der Humanität sind uns bewundernswerte Hilfen, um aus dem ersten Zustand des individuellen, familiären, gesellschaftlichen und nationalen Egoismus auf eine zweite Stufe zu kommen, auf der der Einzelne, soweit das auf der intellektuellen, moralischen und emotionalen Ebene geschehen kann, das Einssein seiner eigenen Existenz mit der der anderen Wesen realisiert. Doch kann er das auf dieser Ebene noch nicht in der richtigen und vollkommenen Weise tun, die der integralen Wahrheit seines Wesens entspricht. Das Denken der Gita reicht aber darüber hinaus in einen dritten Zustand des sich entwickelnden Bewusstseins unseres Selbsts. Der zweite Zustand ist nur eine Zwischenstufe unseres Weges nach oben. (136-37)
3.21
Denn nach dem, was der Beste tut, richten die einfachen Menschen ihr Handeln. Der Norm, die er aufstellt, folgen die Völker.
Die Regel, die dafür von der Gita aufgestellt wird, ist das Grundgesetz für den Herren-Menschen, den Übermenschen, das vergöttlichte menschliche Wesen, für den Besten, aber nicht im Sinne Nietzsches, eines einseitig verzeichneten olympischen, apollinischen oder dionysischen, engelhaften oder dämonischen Übermenschentums. Vielmehr sollte das Idealbild der Mensch sein, dessen ganze Persönlichkeit dargebracht worden ist an Wesen, Art und Bewusstsein der einen transzendenten und universalen Gottheit. Er hat durch den Verlust des kleineren Selbsts dessen größeres Selbst gefunden und ist vergöttlicht worden.
So wird es das Ziel des Yoga, dass wir uns aus der niederen, unvollkommenen Prakriti, traiguṇyamayī māyā, in das Einssein mit dem göttlichen Wesen, Bewusstsein und der göttlichen Natur3 erheben, madbhāvam āgatāḥ. Sobald dies Ziel aber erreicht ist, der Mensch sich im Brahman-Zustand befindet und sich und die Welt nicht weiter aus falscher egoistischen Schau betrachtet, sondern alle Wesen im Selbst und in Gott schaut und das Selbst und Gott in allen Wesen, was soll dann sein Wirken sein –, da immer noch Aktivität da ist –, das solchem Schauen entstammt? Welches ist das kosmische und individuelle Motiv all dieses Wirkens? Das ist die Frage Arjunas, kiṁ prabhāṣeta kim āsīta vrajeta kim, die ihm aber von einem ganz anderen Standpunkt aus beantwortet wird als von dem seiner Fragestellung. Das Motiv kann nicht ein persönliches Begehren auf der intellektuellen, moralischen oder emotionalen Ebene sein, denn das ist ja aufgegeben worden – gerade das moralische Motiv wurde fallengelassen, da der befreite Mensch über die niedere Unterscheidung zwischen Sünde und Tugend hinausgekommen ist und in einer herrlichen Reinheit jenseits von Gut und Böse lebt. Es kann auch nicht die spirituelle Aufforderung sein, er solle sich durch ein Wirken ohne egoistisches Interesse zur Vollkommenheit weiterentwickeln. Diese Aufforderung ist beantwortet, die Entwicklung zu Ende geführt und zur Erfüllung gebracht worden. Sein Motiv zum Handeln kann nur noch sein, die Völker zusammenzuhalten, cikīrṣur okasaṅgraham. Dieser erhabene Vormarsch der Menschheit hin zu einem weit entfernten göttlichen Ideal muss als Ganzes weitergeführt werden. Er soll davor bewahrt werden, in Ratlosigkeit, Verwirrung und heftige Zwietracht gegenseitigen Missverstehen abzusinken, weil das zu Auflösung und Zerstörung führen würde. Die Welt, die in der Nacht oder im düsteren Zwielicht der Unwissenheit vorwärtsschreitet, wäre dem allem allzu leicht verfallen, würde sie nicht zusammengehalten, geführt und auf den großen Linien ihrer Disziplin festgehalten durch die Erleuchtung, Stärke, Lenkung und das Beispiel, den sichtbaren Maßstab und den unsichtbaren Einfluss ihrer Besten. Die Besten, die Einzelnen, die an der Spitze der allgemeinen Reihe und über dem allgemeinen Durchschnitt des Kollektivs marschieren, sind die natürlichen Lenker der Menschheit. Denn sie können ihr sowohl den Weg, auf dem sie ihnen folgen muss, als auch die Richtlinien und das Ideal zeigen, die sie festhalten oder erlangen müssen. Aber der göttlich gewordene Mensch ist der Beste nicht im gewöhnlichen Sinn des Wortes. Sein Einfluss, sein Vorbild müssen eine Macht haben, die kein im gewöhnlichen Sinn überlegener Mensch ausüben kann. Was für ein Vorbild soll er denn geben? Welche Norm, welchen Maßstab soll er aufrichten?
Um seine Meinung noch mehr zu verdeutlichen, gibt der göttliche Lehrer, der Avatar, Arjuna sein eigenes Beispiel, sich selbst als Maßstab. (137-38)
3.22
Für Mich, O Sohn Prithas, gibt es kein Werk, das Ich in den drei Welten4 tun müsste. Es gibt nichts, das Ich nicht schon erreicht hätte oder das Ich erst noch gewinnen müsste. Und trotzdem bleibe wahrlich gerade Ich auf den Wegen des Wirkens (varta eva cha karmaṇi – eva „gerade ich“ besagt hier: „Ich verharre im Wirken und verlasse es nicht wie der Sannyasin, der sich verpflichtet fühlt, das Wirken aufzugeben“).
Es ist tief bedeutsam, dass Gott selbst sich dem befreiten Menschen als Vorbild gibt. Denn dies offenbart die ganze Grundlage der Philosophie der Gita über göttliches Wirken. Der befreite Mensch hat sich in die göttliche Art erhoben. Darum müssen seine Handlungen im Einklang mit dieser göttlichen Art stehen. (139)
Das vollständige göttliche Ideal ist weder die Dynamik des kinetischen Menschen noch das aktionsfreie Licht des Asketen oder Quietisten, weder die heftige Persönlichkeit des aktiven Menschen, noch die indifferente Apersonalität des philosophischen Weisen. Das sind die beiden einander widerstreitenden Maßstäbe: Hier der Mensch dieser Welt, dort der asketische oder quietistische Philosoph. Der eine ist ganz hingerissen vom Kshara des Handelns, der andere ringt danach, ganz im Frieden des Akshara zu bleiben. Das vollkommene göttliche Ideal geht aber von der Natur des Purushottama aus, der diesen Widerstreit transzendiert und alle göttlichen Möglichkeiten in Einklang bringt. (141)
3.23-24
Denn wenn Ich nicht, ohne an Schlaf zu denken, auf dem Weg des Wirkens bliebe, würden – da doch die Menschen Meinen Wegen folgen – diese Völker untergehen, wenn Ich nicht wirken würde; Ich wäre der Schöpfer der Verwirrung und würde diese Geschöpfe vernichten.
3.25
Wie jene Unwissenden an die Werke gebunden handeln, sollte der Wissende frei von Bindung mit dem Beweggrund handeln, die Völker zusammenzuhalten.
3.26
Er sollte bei den Unwissenden, die noch an ihr Wirken gebunden sind, keine Spaltung in ihrem Verständnis hervorrufen. Er sollte sie zu jeder Art von Handlung heranziehen, indem er sie selbst mit Wissen und im Yoga vollzieht.