Big Ideas. Das Klassische-Musik-Buch. Hall George

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      MUSIK MUSS DEN MENSCHEN BEWEGEN

      MARIENVESPER (1610), CLAUDIO MONTEVERDI

       IM KONTEXT

      SCHWERPUNKT

       Beginn des Barock

      FRÜHER

      1587 Concerti, eine Sammlung sakraler mehrstimmiger Musik für Sänger und Instrumente, von Andrea und Giovanni Gabrieli erscheint.

      1602 Lodovico Viadana veröffentlicht Cento concerti ecclesiastici für eine bis vier Stimmen, die ersten Kompositionen mit einem Basso continuo, einer instrumentalen Akkordbegleitung.

      Dezember 1602 Giulio Caccini führt Euridice auf, basierend auf dem gleichen Libretto wie Jacopo Peris Euridice. Er führt dabei den Stile recitativo (ein deklamierender Stil zwischen Gesang und Rede) ein, der von den Dramen der alten Griechen inspiriert ist.

      1607 Monteverdi komponiert seine bahnbrechende erste Oper, L’Orfeo, basierend auf der griechischen Sage von Orpheus.

      SPÄTER

      1619 Heinrich Schütz, ein Schüler Giovanni Gabrielis, veröffentlicht Psalmen Davids, die größtenteils mehrchörig angelegt sind. In seinen später erschienenen Kleinen geistlichen Konzerten und den drei Teilen der Symphoniae sacrae fließen Elemente des neuen Operngesangs, die er unter anderem auf seiner zweiten Italienreise 1628 kennengelernt hatte.

      Monteverdis Marienvesper von 1610 ist eine der einflussreichsten Sammlungen sakraler Musik des 17. Jahrhunderts und das größte Chorwerk, das bis dahin geschrieben wurde. Erst mit J. S. Bachs Passionen oder Händels Oratorien im 18. Jahrhundert erschien etwas Vergleichbares.

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       Stilistischer Sprung

      Geschrieben für die Vesper, das Abendgebet in der katholischen Kirche, zu Ehren der Jungfrau Maria, markiert Monteverdis Marienvesper den Übergang vom alten polyphonen (»vielstimmigen«) Stil der Renaissance, genannt prima prattica (»erste Praxis«), bei dem alle Stimmen gleichberechtigt sind, zum freieren Barockstil, genannt seconda prattica (»zweite Praxis«). Dieser hob den Solo-Gesang hervor und war auch in der Harmonik freizügiger, indem er die Monodie nutzte und eine Melodie mit einem instrumentalen Generalbass für Orgel, Cembalo oder Laute unterlegte. Die Basslinien wurden melodischer, und Verzierungen, die die Musiker vorher improvisiert hatten, wurden kunstvoller und oft vom Komponisten vollständig notiert.

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      Der Dom von Cremona, wo der junge Monteverdi unter dem Kapellmeister Marc’Antonio Ingegneri unter anderem Komposition studierte.

      Diese Entwicklungen führten zu den typischen Merkmalen der Barockzeit, in der Abweichungen von bisherigen Regeln und extreme Ausdrucksformen manchmal den reibungslosen Fluss der Musik stören, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu erhaschen. Kontraste in Melodie, Textur, Timbre, Tempo und Rhythmus sind in der Barockmusik reichlich vorhanden. Zudem nahmen die Instrumente eine wichtigere Rolle ein. Ihr Spiel wurde idiomatischer, was Fortschritte in Technik, Bauweise und Zuverlässigkeit der Instrumente widerspiegelt. Der neue Stil wurde für die meisten Musikformen übernommen. Die bezifferte Bassnotation (Zahlen und Symbole, welche die Akkorde anzeigen, die von den Ausführenden des Continuos gespielt werden) eignete sich gut für Oper und Oratorium. Die so untermalte Solostimme kann frei agieren und ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken.

      »Das Ziel aller guten Musik ist, die Seele zu bewegen.«

       Claudio Monteverdi

      Die neue Betonung der Solostimmen führte zur Entwicklung der begleiteten Sonate, darunter der Triosonate für zwei Violinen und Cello, des Rezitativs und der Arie, sowie des Solokonzerts – allesamt musikalische Formen, bei denen ein einzelner Interpret (oder auch mehrere wie im Duett) im Mittelpunkt steht. Diese stilistische Entwicklung erlaubte einen emotionaleren Ausdruck, mehr rhythmische Variation bei der Vermittlung des Texts, und sie regte die Komponisten zum Experimentieren an.

       Sakralmusik

      Während der alte polyphone Stil in der europäischen Kirchenmusik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch immer weitverbreitet war, entwickelte sich in Venedig ein neuer Stil, der konzertante Stil, der mehrere Chöre und Instrumentalisten gegenüberstellt und auch nach Deutschland vordrang. In England spiegelte sich dieser neue Trend im Verse-Anthem wider, bei dem sich »Verse« für Solostimmen mit Chorpassagen abwechseln.

       Virtuose Vesper

      Monteverdis Marienvesper war eines der ersten geistlichen Stücke, welche die reichen Möglichkeiten der Seconda prattica ausschöpften, wobei der Komponist jedoch nicht die Vorteile der Prima prattica vergaß und die liturgischen Texte im traditionellen gregorianischen Choral beließ. Der übliche musikalische Ablauf des Abendgebets bestand aus acht Sätzen, beginnend mit den Eröffnungsworten Deus in adjutorium meum intende (»O Gott, komm mir zu Hilfe«). Die Originalausgabe der Marienvesper von 1610 besteht aus 13 Sätzen und enthält zwei Versionen des Magnificats. Neben der Musik für die Vesper selbst beinhaltet der Band auch eine a cappella (»in der Kapelle«, oder unbegleitete) Messe, die Missa in illo tempore, welche auf einer gleichnamigen Motette des Renaissancekomponisten Nicolas Gombert basiert. (Messe und Vesper waren die beiden Gottesdienste der katholischen Liturgie, die im Italien des 16. und 17. Jahrhunderts am ausgiebigsten zelebriert wurden.)

      In den 13 Sätzen der Marienvesper vertonte Monteverdi neben der Eröffnungsfanfare fünf Psalmen (109, 112, 121, 126 und 147), zudem Ave maris stella (»Meerstern, sei gegrüßt«), einen Hymnus auf Maria aus dem 8. Jahrhundert, der dem Magnificat in der Reihenfolge der täglichen Gebete vorausgeht, sowie das Magnificat selbst. Monteverdi nutzt den gregorianischen Choral als Basis für die sieben Abschnitte. Die wiederholte Rückkehr zum Cantus firmus bildet einen kompositorischen roten Faden, der die sehr unterschiedlichen Stile der Renaissance und des Frühbarocks verbindet und zur Akzeptanz durch die Kirche beitrug.

       Geistliche Konzerte

      Zusätzlich zu den Vertonungen der fünf Psalmen, des Ave maris stella und des Magnificats schrieb Monteverdi vier Antiphonen, kurze Sätze, die vor oder nach einem Psalm oder Canticum gesungen oder rezitiert werden. Die ersten beiden Antiphonen sind nicht liturgisch (nicht Teil des Gottesdienstes) und stammen aus dem Hohelied des Alten Testaments. Sie lauten Nigra sum, sed formosa (»Schwarz bin ich, doch schön«) und Pulchra es (»Schön bist du«), Letzteres gesungen von zwei Sopranen, deren Stimmen wie bei einem Liebesduett verwoben sind.

      In der dritten Antiphon Duo Seraphim preisen zwei Engel die Herrlichkeit Gottes, und im vierten, Audi coelum (»Höre, Himmel«), wiederholt ein Tenor die Worte des anderen wie ein Echo, was eine übersinnliche Wirkung erzeugt. Das »gaudio« (Freude) des ersten Sängers wird beispielsweise als »audio« (ich höre) wiederholt. Effekte wie dieser würden ebenso in eine Oper passen.

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      Monteverdi widmete und präsentierte seine Marienvesper Papst Paul V. aus der mächtigen Borghesefamilie, vielleicht in der Hoffnung auf Aufträge.

      Die Vesper wird komplettiert durch die Sonata sopra Sancta Maria (»Sonate über [den Cantus firmus] Heilige Maria, bete für uns«). Monteverdi bezeichnete die vier Antiphonen


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