Big Ideas. Das Klassische-Musik-Buch. Hall George
der viersätzigen Sinfonie, des Solokonzerts und des Streichquartetts. Musik zur privaten Unterhaltung, die sogenannte Kammermusik, wurde ebenfalls populär, da die wachsende Mittelschicht mehr Freizeit zur Verfügung hatte und Instrumente wie etwa das Klavier erschwinglicher wurden.
Die romantische Epoche
Trotz ihres anhaltenden Einflusses wurde die Klassik bald durch eine neue Strömung ersetzt: Als die Romantik mit ihrer Betonung des Individuums durch Europa schwappte, gewann Ausdruck die Oberhand über Klarheit. Die Komponisten trieben den klassischen Stil bis an die Grenzen und suchten in Kunst, Literatur, Landschaften und Erlebnissen nach Inspiration. Die Romantik war eigentlich eine deutsche Strömung, doch sie brachte auch in anderen Ländern eine Vielzahl nationalistisch gesinnter Komponisten hervor, die sich mit ihrer Musik von der österreichisch-deutschen Dominanz des musikalischen Ancien Régime distanzieren wollten. Russische und tschechische Komponisten integrierten folkloristische Elemente und Themen in ihre Musik, ein Trend, den später auch Komponisten aus anderen Teilen Europas übernahmen.
»Gibt’s Leidenschaft, die bei Musik nicht kam und wich?«
John Dryden Dichter
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachten die harmonischen Exzesse der deutschen Romantik die Fundamente der westlichen Musik zum Einsturz, deren Struktur auf den Harmonien der Dur- und Molltonarten basiert. Es folgte ein Jahrhundert, in dem die Komponisten nach einer völlig neuen musikalischen Sprache suchten. Zwei der einflussreichsten Strömungen jener Zeit waren die Zwölftontechnik, die Arnold Schönberg aufbaute und von Pierre Boulez und anderen in der seriellen Musik weiterentwickelt wurde, und die Aleatorik, bei der der Zufall als kompositorisches Mittel eingesetzt wurde.
Neue Einflüsse
Diese musikalischen Experimente fielen zeitlich mit der Entstehung des Jazz und später mit der explosionsartigen Ausbreitung von Pop- und Rockmusik zusammen, deren rhythmische Beats so anziehend waren, dass die klassische Musik viele Anhänger verlor. Doch die Populärmusik inspirierte die klassische Musik und hauchte ihr neues Leben ein, ganz zu schweigen von den neuen Möglichkeiten, die sich durch den technischen Fortschritt in den Tonstudios ergaben und die sich Komponisten wie Karlheinz Stockhausen gern zunutze machten.
Heute berücksichtigen viele Komponisten den allgemeinen Geschmack stärker als noch vor 50 Jahren, doch viele experimentieren weiterhin mit Elementen aus Video, Theater und Einflüssen einer globalisierten Musikwelt.
Die Elemente der Musik
Für ein besseres Verständnis der in diesem Buch beschriebenen Ideen und Innovationen ist es hilfreich, sich mit den »Bausteinen« der klassischen westlichen Musik vertraut zu machen, die zu einem großen Teil von mittelalterlichen Mönchen entwickelt wurden und auf altgriechischen Konzepten basieren.
Noten sind dabei das grundlegende Baumaterial jeder Art von Musik. Die Tonhöhe einer einzelnen Note, also wie hoch oder tief sie im Vergleich zu anderen klingt, wird in Buchstaben (C, D, E und so weiter) angegeben. Manchmal wird sie durch »Vorzeichen« (
Seit dem 17. Jahrhundert wird in den beiden Tongeschlechtern Dur und Moll komponiert. So kann etwa ein Stück in C-Dur oder in a-Moll stehen. Die Tonart regelt auch die Harmonie, wenn zwei oder mehr Noten gleichzeitig gespielt werden. Akkorde (das Zusammenspiel von drei oder mehr Tönen) könnten konsonant und harmonisch sein – oder aber dissonant und schrill. Durakkorde klingen tendenziell heiter und Mollakkorde eher traurig.
Ein Merkmal von Barock, Klassik und Romantik ist die Dur-Moll-Tonalität, bei der sich eine Komposition auf eine Tonart und einen Grundton als tonales Zentrum bezieht. Bewegt sie sich davon weg, wird Spannung erzeugt, bewegt sie sich darauf zu, wird die Spannung aufgelöst.
»Rhythmus und Harmonie finden ihren Weg zu den inneren Orten der Seele.«
Platon
Musikalische Formen
Verschiedene Musikstile betonen bestimmte Aspekte ihrer Struktur. Manche fokussieren sich auf die Melodie, vielleicht mit harmonischer Begleitung, wie es im Frühbarock üblich war, andere verwenden den Kontrapunkt, die Verflechtung von zwei oder mehr Melodielinien zu einer komplexen Mehrstimmigkeit, der Polyphonie, die eines der wesentlichen Merkmale der westlichen klassischen Musik ist.
Ebenso wichtig ist die musikalische Form eines Musikstücks. Es kann aus verschiedenen Teilen, vielleicht in gegensätzlichen Tonarten, bestehen. Zum Beispiel wird in der dreiteiligen »ABA«-Form ein musikalisches Motiv vorgestellt, gefolgt von einem zweiten Motiv und abschließender Wiederholung des Eröffnungsmotivs. Musikformen und Gattungen reichen von kurzen Kunstliedern, wie sie Franz Schubert und Robert Schumann populär machten, bis hin zu mehrsätzigen Sinfonien.
Für den Zuhörer zeigt sich der auffälligste Unterschied zwischen einer Renaissancekomposition und einer voll ausgearbeiteten Sinfonie des 19. Jahrhunderts im Klang der Instrumente, denn viele von ihnen wurden im Lauf der Zeit weiterentwickelt und manche neu erfunden.
Jedes Instrument hat sein unverwechselbares Timbre und kann allein gespielt oder mit anderen Instrumenten und menschlichen Stimmen kombiniert werden: von A cappella (Chorgesang ohne Instrumentalbegleitung) und Soloinstrumenten wie dem Klavier über kleine Kammerensembles wie dem Streichquartett bis hin zum kompletten modernen Orchester aus über 70 Musikern mit Streich-, Holzblas-, Blechblas- und Schlaginstrumenten und – seit etwa 1950 – auch mit elektronischen Klangerzeugern.
»Die Zeiten, in denen Musik für einen kleinen Kreis von Ästheten geschrieben wurde, sind vorbei.«
Sergei Prokofjew
Dieses Buch
Wie Komponisten aus diesen musikalischen Elementen verschiedene Gattungen der klassischen Musik entwickelten und welche Faktoren sie beeinflussten, wird in diesem Buch erklärt. Es präsentiert Meilensteine in der Geschichte der klassischen Musik: nicht nur die großen Komponisten und ihre Werke, sondern auch einige weniger bekannte, deren Musik exemplarisch für einen Stil oder eine Periode ist. Durch die chronologische Einordnung in den historischen Kontext lässt sich gut darstellen, wie sie ihre Gesellschaft und Kultur widerspiegeln.
Jeder Artikel konzentriert sich auf ein Werk, das eine besondere Entwicklung in der Musik darstellt, und erläutert dessen herausragende Merkmale und seine Bedeutung in Bezug auf andere Werke desselben Komponisten oder Stils. Am Ende des Buches befindet sich ein Verzeichnis weiterer bedeutender Komponisten und ihrer Werke sowie ein Glossar musikalischer Grundbegriffe.
ALTE MUSIK
1000–1400
UM 600
Papst Gregor I. sammelt und vereinheitlicht liturgische Gesänge der katholischen Kirche.
UM 800
Karl der Große weist seine Musiker an, wie römische Sänger zu intonieren, und trägt so zur Entwicklung der neumierten