Seewölfe - Piraten der Weltmeere 116. Roy Palmer
das Krachen und Poltern in der Vorpiek konnte Luke Morgan kaum noch vernehmen, wie Matts Schritte hastig auf den Stufen nach oben trappelten.
Die Vorpiek war der untereste, engste Raum im Vorschiff der „Isabella“. Ihre Wände liefen in spitzem Winkel auf den Vorsteven zu. Unter der hölzernen Gräting schwappte übelriechendes Bilgewasser, und bei jeder Abwärtsbewegung des Bugs in der Dünung ergoß es sich durch die Gitterkonstruktion in den vorderen Bereich des Verlieses, während es beim Hochschwingen des Vorschiffs wieder nach achtern ablief.
Nur eine flache Dünung kräuselte das Gelbe Meer, doch sie genügte, um die große Galeone leicht vor- und zurückschwingen zu lassen. Das beständige Auf und Ab war der Rhythmus, mit dem sie vor dem Südostwind dahinrauschte.
Die Enge, das patschende Bilgewasser und die Ratten, die in diesem Bereich des Schiffes hausten, verwandelten die Vorpiek in eine Art Vorhof zur Hölle. Hier war schon so mancher harte Kerl weichgeklopft worden, denn schon nach einem Tag konnte das Eingesperrtsein in dem finsteren Loch unerträglich werden.
Von diesem seelischen Tiefpunkt waren Khai Wang und Wu zur Zeit jedoch noch weit entfernt.
Khai Wang holte soeben wieder aus und hieb seinem Steuermann die Faust gegen die Schulter. Sofort setzte er mit der anderen Hand nach und drosch ihm die spitzen Knöchel unters Kinn. Wu flog mit einem schwachen, ächzenden Laut in Richtung Vorsteven. Er stieß sich den Kopf an der flachen Decke, krümmte sich und ging zu Boden. Es klatschte, als er in dem hereingurgelnden Bilgewasser landete.
Von dem Gestank wurde Wu fast übel. Er lag für Sekunden mit weit von sich gestreckten Beinen da, ein zerschundener Bursche, klein, drahtig und verschlagen und nur scheinbar am Ende.
Khai Wang rückte mit erhobenen Händen auf ihn zu.
Er war in diesem düsteren Loch zu sich gekommen, hatte aber sofort und ohne Wu zu fragen begriffen, auf welchem Schiff er sich befand. Nur zu deutlich war ihm die Niederlage in Erinnerung – wie der Seewolf ihn im Degenduell geschlagen und ihm dann die Faust unter die Kinnlade geschmettert hatte.
Alle aufgestaute und jetzt brausend aufsteigende Wut entlud Khai Wang in seinem jähen Angriff auf Wu. Schon auf Fei Yen waren sie aneinandergeraten, weil Wu Khai Wang hatte überreden wollen, den Kampf abzubrechen und das Weite zu suchen. Khai Wang hatte seinen Steuermann am Kolderstock niedergeschlagen.
Aber diesmal hatte Wu sich zur Wehr gesetzt.
Khai Wang blieb vor ihm stehen. Geschickt balancierte er die Schiffsbewegungen in den Knien aus.
„Steh auf“, fuhr er den drahtigen Kleinen an. „Ich weiß, daß deine Schwäche nur vorgetäuscht ist. Du willst mich überlisten und mir wie eine Wildkatze ins Gesicht springen. Aber ich kenne dich zu gut, Wu. Mir gaukelst du nichts vor – du Verräter.“
„Narr!“ zischte Wu. „Größenwahnsinniger! Du hast uns alle ins Unglück gestürzt. Wegen deines idiotischen Stolzes.“
„Schweig!“
„Dein Haß kannte keine Grenzen, und du dachtest, einen Gegner wie den Seewolf schlagen zu können“, fuhr Wu fort. „Weit gefehlt – und es kostet uns alle den Kopf. Zum Großen Chan in die Verbotene Stadt will er uns schleifen, der Hund. Und was wird man dort mit uns tun?“
„Darauf erhältst du keine Antwort!“ schrie Khai Wang in die stikkige Luft der Piek. „Denn du wirst Peiping, die nördliche Hauptstadt, niemals erreichen. Mit diesen Händen bringe ich dich um. Das verdient ein räudiger Hund, der winselnd und mit eingezogenem Schwanz vor dem Feind flieht.“
Wu konnte die gegen ihn erhobenen Hände des Piratenführers nur ganz schwach erkennen. Von Khai Wangs verkrampften Zügen sah er nichts, ebensowenig sah er in der Dunkelheit das zerfetzte Gewand seines Gegenübers, unter dem die Tätowierungen bei normalen Lichtverhältnissen nun gut zu erkennen gewesen wären.
Wu genügte es, einwandfrei zu orten, wo der Kerl stand. Als die „Isabella“ wieder ihr Heck in die See senkte und den Bug anhob, schoß der kleine Chinese hoch. Er sprang vor, fegte über die nasse, glitschige Gräting und warf sich Khai Wangs Beinen entgegen. Er umklammerte sie, entging den Fäusten, die seinen Rükken zu treffen versuchten, und riß Khai Wang um.
Wu stieß einen Triumphschrei aus. Khai Wang gab eine lästerliche Verwünschung von sich. Sie balgten sich, wälzten sich ineinander verkeilt von Backbord nach Steuerbord und wieder zurück, prallten gegen das Schott, rutschten über die Gräting.
„Ich töte dich!“ brüllte Khai Wang.
„Ich zerreiße dich!“ heulte Wu.
„Deinetwegen haben wir den Kampf verloren!“
„Es ist deine Schuld! Und du hast dafür verdient, was allen unfähigen Schwächlingen gebührt!“
„Ratte!“ schrie Khai Wang. Er kämpfte sich frei, boxte dem Widersacher in die Seite und wollte noch einmal zuschlagen. Aber Wu rollte sich fort, sprang auf, wirbelte herum und warf sich erneut auf dem Mann, den er jetzt wie die Pest haßte.
Sie rangen miteinander, und was sie sich gegenseitig zubrüllten, waren keine Übertreibungen. Khai Wang wollte Wu tatsächlich mit den Händen umbringen. Und auch Wu hatte keinen größeren Wunsch, als seinen einstigen Kapitän ins Jenseits zu befördern.
Hasard war bei Rudergänger Pete Ballie gewesen und trat gerade aus dem Ruderhaus aufs Quarterdeck, als Matt Davies aus dem Steuerbordschott des Vordecks stürmte. Matt rief Carberry etwas zu, was der Seewolf nicht verstand. Aber Hasard konnte sich auch so denken, um was es ging – es gehörte kein Scharfsinn dazu.
„Ed, Matt!“ rief er ihnen zu. „Spielen unsere Gefangenen etwa verrückt?“
„Ja, Sir“, erwiderte der Profos.
Hasard trat vor und legte die Hände auf die Schmuckbalustrade, die den Querabschluß des Quarterdecks zur Kuhl bildete. „Stenmark und Batuti, ihr schließt euch Matt an und geht als Verstärkung mit zur Vorpiek ’runter. Bringt Khai Wang und Wu zur Vernunft.“
„Die schlagen sich wie die Irren!“ rief Matt Davies.
„Vorsicht, das kann auch ein Trick sein“, warnte Carberry. „Diese Bastarde sind zu allem fähig.“
Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht. Schon auf der Dschunke haben sie sich in der Wolle gehabt. Wir trennen sie. Der eine bleibt in der Vorpiek, den anderen steckt ihr ins Kabelgatt.“
Stenmark und Batuti waren zu Matt gestoßen. Alle drei rückten nun auf das Steuerbordschott des Vordecks zu, riefen ihr „Aye, aye, Sir!“ und verschwanden.
Hasard blieb an der Schmuckbalustrade stehen und blickte zu Carberry. Tiefe Falten standen auf der Stirn des Profos’, seine Augenbrauen waren zusammengezogen. Er traute der Sache nicht.
Sir John, der karmesinrote Aracanga, streckte seinen Kopf zum Profoswams heraus. Wieder einmal hatte er sich an Carberrys Brust zusammengekuschelt und seinen Mittagsschlaf gehalten. Aber jetzt hatte ihn das Rufen der Männer geweckt. Die Luft roch nach Verdruß. Sir John wollte einen unpassenden Kommentar abgeben, aber da packte der Profos ihn bereits und stopfte ihn ins Wams zurück.
„Halt den Schnabel, du gerupfter Zwerghahn“, sagte Carberry dumpf. Hölle, er hätte zu gern gewußt, was dort unten lief. Sollte er auch nach dem Rechten sehen?
Nein. Davies, Morgan, Stenmark und der Gambia-Neger genügten als Ordnertrupp. Wenn er, Carberry, sich da auch noch einmischte, riskierte er glatt, von den vieren angeödet zu werden.
Also wartete er ab.
Siri-Tong war vom Achterdeck aufs Quarterdeck hinuntergestiegen und trat neben den Seewolf. Sie warf ihm einen knappen Seitenblick zu, aber Hasard registrierte ihn nicht. Die Korsarin wandte ihr Gesicht nach vorn, dann stand sie völlig reglos da.
Fong Ch’ang hatte sich auf der vorderen Kuhlgräting niedergelassen und unterhielt sich angeregt mit dem Mädchen Ch’ing-chao Li-Hsia. Als Matt erschienen war, hatten sie beide aufgeschaut und ihre Unterhaltung abgebrochen. Jetzt aber tauschten