Seewölfe Paket 6. Roy Palmer
Ruhe. Normalerweise hätten sich weder der hitzköpfige Dan noch der hünenhafte Mann aus Gambia so ohne weiteres zum Borddienst pressen lassen. Aber hier und jetzt lag die Sache anders. Sie wußten, daß sich drei ihrer Kameraden an Bord versteckt hielten. Irgendwann würden Ben Brighton, Big Old Shane und Stenmark losschlagen, und dann wollten Dan und Batuti nicht hinter einem Schott schmoren oder an der Rahnock baumeln, sondern nach Möglichkeit die Hände frei haben, um ihre Gegner das Fürchten zu lehren.
Schon während der ersten Stunde tat Dan O’Flynn wenig anderes, als sich diese Tatsache wieder und wieder vor Augen zu führen.
Er und Batuti hatten einigen von den Piraten ziemlich zugesetzt. Vor allem Pepe le Moco und der einäugige Esmeraldo bereiteten sich ein Vergnügen daraus, es ihren Gefangenen heimzuzahlen. Der schwarze Herkules wurde von einer schweißtreibenden Arbeit zur anderen gescheucht. Und Dan schäumte innerlich vor Wut, weil man ihn dazu verdonnert hatte, einem dikken, schmierigen Kerl namens Tomaso in der Kombüse zu helfen.
Tomaso hatte einen Fraß zusammengebraut, für den sich der Kutscher für den Rest seines Lebens geschämt hätte. Dan wurde losgeschickt, um Abfälle über Bord zu kippen. Hinter ihm meckerte der sogenannte Koch, weil es ihm nicht schnell genug ging. Dan hätte ihn am liebsten in seinem undefinierbaren Brei ersäuft, aber er dachte an seine versteckten Kameraden und riß sich zusammen.
Er beschleunigte sogar seine Schritte. Nicht, daß er sich etwa vor dem Dicken gefürchtet hätte. Im Gegenteil! Aber Dan wußte eins: Wenn dieser schmierige Kerl noch weiter laberte oder ihn gar anfaßte, würde es ein Unglück geben.
Dan brauchte seine ganze Selbstbeherrschung. Vielleicht achtete er deshalb nicht genug auf seine unmittelbare Umgebung. Er sah zu Batuti hinüber, der beim Anbrassen zupackte, weil die „Isabella“ geringfügig den Kurs änderte. Dan mußte dicht an dem einäugigen Esmeraldo vorbei – und der streckte mit einem bösen Grinsen den Fuß vor.
Dan stolperte und schlug lang hin.
Die Pütz, die er geschleppt hatte, flog im Bogen auf die Kuhl, Küchenabfälle regneten auf die Planken. Donegal Daniel O’Flynn schnellte wie ein Kastenteufel vom Boden hoch, wirbelte herum und starrte seinem Gegner keuchend vor Haß in sein eines Auge.
Esmeraldo grinste.
„Kannst du nicht aufpassen, du Tölpel?“ fragte er höhnisch.
Dans Augen verschleierten sich. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Wie durch eine dicke Schicht Wachs hörte er die schneidende Stimme des Bretonen.
„Was soll die Schweinerei, in drei Teufels Namen? Aufwischen, du Bastard, aber ein bißchen plötzlich! He, Nigger! Hilf ihm, bevor jemand auf dem Mist ausrutscht und sich die Knochen bricht! Esmeraldo, mach ihnen gefälligst Feuer unter dem Hintern!“
Batuti murmelte etwas Unverständliches, während er seinen Platz verließ, um Dan zu helfen. Der blonde Dan O’Flynn schluckte mit einer fast übermenschlichen Anstrengung seine Wut herunter. Schweigend wandte er sich ab und ging in die Kombüse, um einen Lappen zu holen, während der hünenhafte Neger bereits die gröberen Abfälle zusammensuchte.
Der fette Tomaso grinste hämisch.
„Saudämliche Engländer“, sagte er.
Aber dann verstummte er ganz schnell, weil ihm der mörderische Blick des Gefangenen denn doch unter die Haut ging.
„Nimm dich in acht!“ zischte Dan. „Wenn du mir noch einmal krumm kommst, setze ich dich mit dem Hintern in die Bratpfanne. Und wenn ihr mich hinterher zehnmal aufhängt oder kielholt – deinem Arsch wird es davon nicht bessergehen, kapiert?“
Der dicke Koch war kein Kämpfer. Er überschlug in Gedanken, was sein Gegner ihm alles antun konnte, bevor die anderen zur Stelle waren, und schluckte erschrocken. Dan wandte sich ab. Mit Lappen und Segeltuchpütz trat er ins Kombüsenschott und biß die Zähne zusammen.
Batuti hatte den Großteil der Abfälle aufgesammelt.
Er ging über die Kuhl, um die Ladung außenbords zu kippen. Da er gewarnt war, dachte er nicht daran, über einen vorgestreckten Fuß zu stolpern. Er wollte über Esmeraldos Bein hinwegsteigen, aber der Einäugige trat blitzschnell zu.
Eine Sekunde später brüllte er auf, weil ihm Batuti die Pütz mit den Abfällen über den Kopf gestülpt hatte.
Ein paar Männer lachten. Die meisten dagegen stürzten sich sofort auf den hünenhaften Neger. Und einer von ihnen, der „Burgunder“ genannt wurde, holte tückisch grinsend mit einem Belegnagel aus.
„Du hinterhältiger Mistkerl!“ schrie Dan gellend.
Lappen und Segeltuchpütz hatte er bereits fallenlassen. Er sah, wie Batuti noch herumzuwirbeln versuchte und der Belegnagel ihn knapp über der Stirn traf. Der schwarze Herkules wankte. Wieder zuckte der Belegnagel auf ihn zu. Im nächsten Moment war Dan O’Flynn mitten unter den Kerlen wie ein leibhaftiger Wirbelsturm.
Ein Wirbelsturm war es auch, der in den nächsten Minuten auf der Kuhl der „Isabella“ tobte.
Bevor die Piraten überhaupt begriffen, daß sie eine Art Naturkatastrophe entfesselt hatten, lagen vier von ihnen schon bewußtlos am Boden. Batuti hätte ihrer Meinung nach eigentlich ein Loch im Schädel haben müssen, doch statt dessen stemmte er den nicht gerade leichtgewichtigen Pepe le Moco hoch in die Luft und feuerte ihn außenbords wie ein Bündel Lumpen.
Der schlanke, drahtige Dan O’Flynn wirkte äußerlich nicht eben wie ein Kraftpaket – und entpuppte sich als leibhaftiger Tiger. Er kratzte und biß, schlug Nasen platt, knackste Rippen an und bewegte sich schneller, als seine Gegner denken, geschweige denn zuschlagen konnten. Selbst als zwei Mann an seinen Armen hingen, ein dritter in sein Genick sprang und ein vierter von vorn auf ihn eindrosch, trat er noch mit den Füßen um sich.
Batuti beförderte gerade den zweiten Gegner ins Wasser. Die Muskete, die auf ihn selbst zielte, störte ihn nicht. Aber als er mit furchterregend rollenden Augen herumwirbelte und nach dem nächsten Opfer Ausschau hielt, sah er die Steinschloß-Pistole, die sich gegen Dans Magengrube preßte – und damit war auch für den schwarzen Herkules der Kampf zu Ende.
„Aufhören, oder dein Freund ist eine Leiche!“ brüllte Jean Morro.
Mit dieser Methode hatte er schon zweimal Erfolg gehabt, wenn es so aussah, als würden die Seewölfe eine dreifache Übermacht mit Leichtigkeit auseinandernehmen. Auch diesmal funktionierte es. Batuti knirschte mit den Zähnen, stöhnte vor Wut, aber er konnte nichts mehr tun, wenn er nicht Dans Leben aufs Spiel setzen wollte.
Jean Morro atmete langsam aus. Seine Stimme klang schneidend.
„Bindet sie an die Gräting!“ befahl er. „Zwanzig Hiebe mit der Neunschwänzigen für jeden! Esmeraldo!“
Der Einäugige rappelte sich mühsam von den Planken hoch. Noch stöhnte er, aber er hatte den Sinn des Befehls begriffen, da begann sein eines Auge in bösem Triumph zu glitzern. Er sah zu, wie Dan und Batuti an die schräggestellte Kuhlgräting gefesselt wurden.
Sie konnten sich nicht wehren. Denn Jean Morro, der Bretone, hatte längst ihren einzigen schwachen Punkt herausgefunden. Jeder dieser beiden ungleichen Männer war notfalls bereit, sich für seinen Kameraden in Stücke hauen zu lassen, und man brauchte nur dem einen eine Waffe an die Schläfe zu setzen, um den anderen ohne großen Aufwand zum Gehorsam zu zwingen.
Dan O’Flynn befand sich in einem Delirium der Wut, als hinter ihm die Peitsche zu pfeifen begann.
Batuti wurde als erster ausgepeitscht. Zwanzig Hiebe waren viel, selbst für einen Bullen von Kerl, aber der schwarze Herkules nahm sie hin, ohne einen Laut von sich zu geben oder das Bewußtsein zu verlieren.
Dan spannte die Muskeln und schloß die Augen. Die Stimme, die laut die Schläge mitzählte, schien wie eine gigantische Glocke in seinem Schädel zu dröhnen. Er glaubte, jeden einzelnen Hieb, der Batuti traf, auf seinem eigenen Rücken zu spüren, und er wußte, daß es Batuti genauso gehen würde.
„Zwanzig!“ rief Pepe le Moco.
Esmeraldo