Seewölfe Paket 6. Roy Palmer

Seewölfe Paket 6 - Roy Palmer


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Roskill hatte das gesagt, und ehe ihn der Profos packen konnte, flitzte der schlanke schwarzhaarige Mann bereits über den Uferstreifen zu der Stelle, wo zwischen Gestrüpp und Schlinggewächsen eine dunkle Öffnung klaffte. Sam blieb verblüfft stehen, runzelte die Stirn und stieß schließlich einen Pfiff aus.

      „Da ist wirklich ein Pfad! Ich werd verrückt!“

      „Das bist du sowieso, du Stint“, grollte der Profos.

      Genau wie die anderen trat er näher heran, um sich den Pfad – oder was immer es war – genauer anzusehen. Hasard tat ein paar Schritte und schob einige Ranken beiseite, die von einem der Baumriesen herunterhingen. Die schmale Lücke im Dickicht beschrieb eine Kurve und führte tiefer ins Landinnere. Es war ein Pfad. Und er mußte wohl auch regelmäßig benutzt werden, da der Urwald ihn mit seiner gierigen Vegetation sonst längst überwuchert hätte.

      „Vielleicht ein Wildwechsel?“ fragte der Bootsmann des schwarzen Seglers gedehnt.

      Siri-Tong schoß ihm einen vernichtenden Blick zu. „Wildwechsel? Kannst du mir erzählen, welche Art Wild wohl an den Strand kommen und Salzwasser saufen sollte?“

      Dem war nichts entgegenzusetzen. Die Rote Korsarin zog die Unterlippe zwischen die Zähne und sah Hasard an. Der zuckte mit den Schultern.

      „Die Bucht ist ein guter Ankerplatz“, meinte er. „Vielleicht wird sie regelmäßig von Leuten angelaufen, die ihren Schlupfwinkel im Landinneren haben. Oder die Indianer stellen hier Posten auf, damit sie gewarnt sind, wenn spanische Schiffe aufkreuzen. Ich könnte mir vorstellen, daß sich eine ganze Menge Mayas in den Regenwäldern versteckt hält.“

      „Und Spanier gibt es garantiert in der Nähe“, sagte Ferris Tucker. „Die lassen doch nichts aus.“ Er schwieg einen Moment und kratzte in seinem roten Haarschopf. „Vielleicht sollten wir uns ein bißchen beeilen. Nicht, daß ich keine Lust hätte, mal wieder ein paar Dons zu verhackstücken, aber das würde uns jetzt nur unnötig aufhalten.“

      „Richtig“, sagte Hasard ruhig. „Also folgen wir dem Pfad! Ferris, Matt – wir bilden die Vorhut. Ed, du suchst dir ein paar Leute und sicherst nach hinten. Fertig?“

      „Aye, aye“, ertönte es im Chor.

      Siri-Tongs Augen blitzten, aber sie sagte nichts. Sie war wütend – wie immer, wenn Hasard etwas über ihren Kopf hinweg bestimmte, das auch nur entfernt danach aussah, als wolle er sie absichern. Ihre Nasenflügel vibrierten leicht, mit einem Ruck warf sie das schwarze Haar auf den Rücken. Der Wikinger, der sie beobachtet hatte, grinste still vor sich hin.

      Minuten später setzte sich der ganze Trupp in Bewegung.

      Der Seewolf hatte die Spitze. Er lauschte und versuchte angestrengt, aus dem vielstimmigen Zirpen, Kekkern und Krächzen ringsum ungewöhnliche Geräusche herauszuhören. Viel sehen konnten sie nicht in der grünen Dämmerung. Hoch über ihnen bildeten die Kronen der riesigen Bäume ein fast undurchdringliches Dach, durch das einzelne Sonnenstrahlen wie Pfeile stachen. Der Boden war mit grüngoldenen Flekken gesprenkelt, die Luft so feucht, daß sie das Atmen erschwerte und sich wie eine zähe, klebrige Schicht über die Haut zu legen schien. Schon nach zwei Dutzend Schritten war Hasard in Schweiß gebadet. Die Kleidung klebte wie eine zweite, etwas faltenreichere Haut an seinem Körper, und den anderen ging es genauso.

      Trotzdem verfiel keiner von ihnen auf den Gedanken, etwa Hemd oder Jakke auszuziehen. Die Lektion, daß man im Urwald den Myriaden summender Plagegeister möglichst wenig nackte Hautflächen bietet, hatten sie schon in der Fieberhölle von Guayana gelernt.

      Und denjenigen unter Siri-Tongs Männern, die auf guten Rat nicht hatten hören wollen, war die gleiche Lektion im Amazonasgebiet auf ziemlich unangenehme Weise eingetrichtert worden. Jetzt kannten sie die Tücken dieser Landschaft und wußten sich auch im tropischen Urwald recht gut zu behaupten, wenn er ihnen deshalb auch um keinen Deut sympathischer geworden war.

      Der Pfad wand sich in engen Biegungen weiter und führte immer tiefer ins Landinnere. Schwärme von bunten Vögeln stoben vor den Männern auf, Insekten umtanzten sie in ganzen Schwärmen. Affenherden, die in ihrer Ruhe aufgeschreckt wurden, veranstalteten ein Höllenkonzert, und es grenzte an ein Wunder, daß es Hasard trotz allem gelang, das Rauschen und Gurgeln eines nahen Bachlaufs wahrzunehmen.

      Eine Viertelstunde später hatten sie die Quelle gefunden, eine ergiebige Quelle mit klarem, überraschend kühlem Wasser, das in Kaskaden über ein paar Steine sprudelte und sich in einem runden Becken sammelte, bevor es im Dickicht verschwand, um sich seinen Weg zu einem der größeren Flüsse zu suchen.

      Hasard probierte mit der hohlen Hand – es gab nichts auszusetzen. Die Männer tranken und gingen dann daran, die mitgebrachten Fässer zu füllen. Der Seewolf spielte Kavalier und reichte der Roten Korsarin einen Becher von dem köstlichen Naß.

      Über den Rand hinweg lächelten ihre Augen ihn an. Wenn man vom schrillen Konzert der Vögel, Affen und Insekten absah, war es bemerkenswert still. Nicht einmal Ed Carberry brüllte in der gewohnten Art herum, weil er in diesem unbekannten Gebiet so wenig Lärm wie möglich veranstalten wollte. Eine Viertelstunde später war die Kolonne wieder zum Abmarsch bereit. Jetzt gelangten sie mit den schweren Fässern wesentlich langsamer vorwärts als auf dem Hinweg.

      Hasard glaubte bereits, die salzige See zu riechen. Auch Ferris Tucker schnupperte prüfend und grinste dann breit.

      „Gleich haben wir’s geschafft“, verkündete er.

      Ein peitschender Knall riß ihm das letzte Wort von den Lippen.

      Erschrocken blieben die Männer stehen, Siri-Tong wirbelte herum, daß ihre Mähne flog. Der Seewolf kniff die Augen zusammen, lauschte – und in der nächsten Sekunde fielen in dichter Folge weitere Schüsse.

      Irgendwo hinter ihnen im Urwald war die Hölle los.

      Musketen und Pistolen knallten. Stimmen schrien durcheinander – spanische Stimmen. Die Dons schienen jemanden zu verfolgen, und dieser Jemand versuchte, sich über denselben Pfad zu retten, den auch Siri-Tongs Piraten und die Seewölfe benutzten.

      Seine Schritte näherten sich.

      Wie vom Teufel gehetzt jagte er weiter, und so mochte er sich wohl auch fühlen. Ein einzelner Mann, hinter dem die Spanier mindestens im Dutzend herwaren. Der Bursche stolperte, landete offenbar halb im Dickicht, raffte sich wieder auf, und im nächsten Moment erschien er stolpernd und taumelnd hinter der Biegung des Pfades.

      Es war ein schlanker, braunhäutiger Mann in zerfetzter Kleidung.

      Er trug eine Art Zopf, mit bunten Bändern umwickelt, aber daß er kein Chinese war, ließ sich auf den ersten Blick erkennen. Das dunkle, schweißbedeckte Gesicht verzerrte sich. Er prallte zurück, seine braunen, eigentümlich sanften Augen wurden so weit, daß das Weiße der Augäpfel gespenstisch schimmerte. Ein Maya, durchzuckte es Hasard — und im selben Moment versuchte der Mann, sich herumzuwerfen.

      Sein Fuß verhakte sich irgendwo.

      Mit einem Aufschrei stolperte er und stürzte.

      Als habe die jähe Bewegung den letzten Rest seiner Kraft verbraucht, unternahm er keinen Versuch mehr, wieder aufzuspringen, sondern blieb einfach liegen.

      Um dieselbe Zeit hatte auch die „Isabella VIII.“ eine Bucht an der Küste von Chiapas angelaufen.

      Dan und Batuti erlebten das Ankermanöver in der Vorpiek. Sie wußten, was jetzt folgte: ein langer Marsch durch den tropischen Urwald, mit einer obskuren Schatzkarte als einzigem Hilfsmittel. Und sie wußten auch, daß sie bei diesem Marsch dabeisein würden, denn Jean Morro und seine Piratenbande hatten sie sicher nicht am Leben gelassen, damit sie sich auf die faule Haut legten.

      Tatsächlich sprang ein paar Minuten später das Schott auf.

      Pepe le Moco und der einäugige Esmeraldo – wie gehabt. Hinter ihnen waren die Mündungen von schußbereiten Musketen zu sehen, und Dan hörte das typische Schnaufen des bulligen Barbusse. Esmeraldos einziges Auge funkelte böse. Auch Pepe le Moco sah ausgesprochen unzufrieden aus, weil er seine


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