Seewölfe Paket 6. Roy Palmer
Sekunden dehnten sich.
Endlos.
Dan hörte ein seltsames Geräusch, einen dünnen Knall, aber er war nicht fähig, ihn richtig einzuordnen. Jeder Nerv und jede Faser seines Körpers war vorbereitet auf den letzten, entscheidenden Augenblick. Zwei Ewigkeiten vergingen: Sehr fern hörte Dan einen vielstimmigen Aufschrei – und da erst öffnete er wieder die Augen.
Der Priester!
Hoch aufgerichtet stand er da, das blutige Messer in der Rechten. Aber das Messer raste nicht nieder. Der Priester schwankte, einen ungläubigen, fast törichten Ausdruck in den Augen. Sein Gesicht verzerrte sich – und jetzt erkannte Dan das kleine schwarze Loch genau auf der Stirn seines Gegners.
Der Priester fiel.
„O’Flynn!“ brüllte der Bretone mit sich überschlagender Stimme.
Dan begriff überhaupt nichts, aber das hinderte ihn nicht daran, auf dem Opferstein hochzuschnellen und dem nächstbesten Maya mit voller Wucht den Kopf in den Magen zu rammen.
Blitzartig ließ Philip Hasard Killigrew die zweischüssige sächsische Reiterpistole im Gürtel verschwinden.
Er sah den Oberpriester der Maya fallen. In letzter Sekunde hatte er dem Kerl eine Kugel in den Kopf geschossen, bevor er Dan O’Flynn das Messer ins Herz stoßen konnte. Wie ein Tornado jagte der Seewolf die endlose Treppe hinauf, und hinter ihm stürmten Stenmark, Matt Davis, Big Old Shane und die beiden Piraten, die sich wider Erwarten doch noch ermannt hatten, für ihren bretonischen Kapitän zu kämpfen.
Auch Yuka stürmte mit.
Es war ihm gleich, ob seine Landsleute ihn erkannten und in Zukunft als Abtrünnigen behandeln würden. Er hatte sich entschieden und sich auf die Seite der Seewölfe gestellt. Im Augenblick hatte Hasard andere Sorgen, als über die Zukunft des Maya zu grübeln.
Oben auf der Spitze der Pyramide schnellte Dan O’Flynn wie ein Kastenteufel von dem Opferstein hoch.
Der Bretone reagierte gleichzeitig.
Seine Hände waren gefesselt, aber das konnte ihn nicht sonderlich beeindrucken. Er hatte die Füße frei. Zweimal trat er blitzartig zu. Zweimal wirbelten Maya-Priester in wallenden roten Roben durch die Luft – und dann bewies Jean Morro, daß er in der Tat ein ausgekochter, von allen Hunden gehetzter, mit allen Salzwassern der sieben Meere gewaschener Pirat war.
Wahrscheinlich war es nur natürlich, daß er die Situation um eine Kleinigkeit schneller erfaßte als Dan O’Flynn.
Der Bretone handelte.
Und Hasard registrierte, daß er zumindest in diesen Sekunden durchaus nicht egoistisch handelte.
Mit einem Panthersatz warf er sich gegen Dan O’Flynn. Beide Männer verloren das Gleichgewicht, stürzten und rollten die endlose Treppe hinunter. Sie rollten auf die Seewölfe zu – und genau das war das einzig Vernünftige, was sie in ihrer Situation noch tun konnten.
Dan O’Flynn kollerte Hasard direkt vor die Füße.
Der Seewolf hielt den Degen in der Faust. „Still!“ zischte er. In einem Befehlston, gegen den es schon von jeher keinen Widerspruch gegeben hatte. Dan erstarrte und rührte sich nicht mehr. Hasard hatte Gelegenheit, blitzschnell seine Fesseln mit dem Degen zu zerschneiden.
Gleichzeitig fing Matt Davies den stürzenden Jean Morro mit seinem Haken auf, und Stenmark stürzte sich mit dem Messer über die Fesseln des Bretonen.
Die Gefangenen waren frei, noch bevor die Maya-Krieger überhaupt begriffen hatten, was da passierte.
Woher der Wind wehte, brauchte Dan und Jean Morro niemand zu erzählen. Der blonde O’Flynn raste die endlosen Treppenstufen abwärts wie ein Teufel. Der Bretone brachte es noch fertig, dem „anderen Burgunder“ im Vorüberlaufen krachend die Faust auf die Schulter zu schlagen. Denn der „andere Burgunder“ war über seinen Schatten gesprungen, genau wie der einäugige Esmeraldo, genau wie die Seewölfe, für die das im Grunde selbstverständlich war – und während der wahnwitzigen Flucht über die Stufen der Pyramide verzerrten sich die Gesichter der Männer zu einem unsinnigen, aber nicht wegzuleugnenden Ausdruck wilder Freude.
Die Zuschauer am Fuß des Tempelbaus sahen ihnen entgegen.
Nach Hasards Schätzung waren es an die zweihundert Maya-Krieger, die zu den Waffen griffen. Zweihundert gegen neun! Aber zweihundert Männer konnten sich rein technisch nicht gleichzeitig auf neun zu allem entschlossene Kämpfer werfen. Und Hasard, Yuka, die drei Piraten und die anderen Seewölfe waren durchgebrochen, bevor die Maya auch nur begriffen, daß sich da ein winziges Grüppchen gegen ihre starke Armee gestellt hatte.
Etwa zwanzig braunhäutige Krieger versuchten, den Torweg zu verteidigen, der in den Urwald führte.
Batuti stürmte voran.
Die Lanzen der Maya störten ihn nicht im mindesten. Er hatte drei Krieger bewußtlos geschlagen, bevor seine Kameraden überhaupt heran waren. Unmittelbar hinter ihm folgte Big Old Shane – und der schlug mit seiner Eisenstange dermaßen um sich, daß für den Seewolf und die anderen kaum noch etwas zu tun übrig blieb.
„Kämpfend zog sich der kleine Trupp in den Urwald zurück.
Yuka, der Maya, hatte immer noch die Führung. Er kannte die Wildnis. Und er verstand es, den strategischen Rückzug so zu leiten, daß Hasards Gruppe nach einer Viertelstunde auf den Rest der Crew stieß, der immer noch verbissen mit der Hauptstreitmacht der Maya kämpfte.
Für Ed Carberry und die anderen war das das Zeichen, endlich den Hund von der Kette zu lassen.
Bis jetzt hatten sie sich nach den Befehlen des Seewolfs gerichtet, sich zurückgehalten, den Angriff nur eben zurückgeschlagen und zeitweise sogar das Hasenpanier ergriffen, um die Maya-Krieger dazu zu bewegen, ihnen nachzusetzen.
Jetzt brauchten sie das nicht mehr. Die Gefangenen waren befreit, Dan O’Flynn und Batuti erweckten den Eindruck, daß ihnen überhaupt nichts fehlte, es sei denn eine saftige Keilerei. Selbst der Bretone war da. Seine Männer entpuppten sich ebenfalls als überraschend kampfkräftig – und alles in allem hätte die Situation kaum besser sein können.
„Arwenack!“ brüllte Edwin Carberry mit voller Lungenkraft.
„Arwenack!“ schrie Dan O’Flynn begeistert.
„Ar-we-nack!“ tönte das donnernde Echo – und die Maya-Krieger, soweit sie nicht dumm waren, begriffen plötzlich, daß sie bei dem langen Kampf im Urwald regelrecht an der Nase herumgeführt worden waren.
Die Seewölfe befanden sich in einem wahren Taumel der Erleichterung.
Sie hatten Dan und Batuti wieder. Sie brauchten auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen, nicht einmal auf die Halunkenbande des Bretonen – und in dieser Situation brauchten sie nur wenige Minuten, um den Kampflatz leerzuräumen.
Die Maya-Krieger zogen sich in wilder Flucht zurück.
Zurück zogen sich auch die Seewölfe, aber genau in die Richtung, in die sie wollten.
Die Nacht senkte sich über den Urwald von Chiapas, als sie die Bucht erreichten, in der ihre Schiffe ankerten. Jubel herrschte. Ein Jubel, den Philip Hasard Killigrew im Moment noch nicht wahrnahm.
„Entscheide dich, Yuka“, sagte er sehr ruhig. „Wir verdanken dir unendlich viel. Wenn du willst, kannst du bei uns an Bord bleiben. Ich garantiere dir, daß du ein vollwertiges, gleichberechtigtes Mitglied unserer Mannschaft sein würdest. Und ich würde mich freuen, dich bei uns zu haben.“
Der Maya lächelte.
„Danke“, sagte er leise. „Ich weiß, daß du es ehrlich meinst, Seewolf. Aber ich gehöre zu meinem Volk. Und du hast dafür gesorgt, daß mein Volk mich nicht als Verräter betrachten wird. Ich danke dir, Seewolf.“
Ein paar Minuten später verschwand Yuka, der Maya, in der grünen Wildnis des Urwalds.
Hasard, Ben Brighton,